Sind Palästinenser die echten "Kinder Israels"?
Das hält der israelische Geschichtsprofessor Shlomo Sand für wahrscheinlich. Sand fordert deshalb eine Verfassungsänderung
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Kaum ein anderer Staat auf dieser Welt kann auf eine derart umfassende Schöpfungsgeschichte verweisen wie das gerade erst sechzig Jahre alte Land Israel. Ob in Verfassung und Unabhängigkeitserklärung, ob im Kanon für den Geschichtsunterricht, ob an den speziell eingerichteten Universitätsfachbereichen für jüdische Geschichte: überall wird die Erzählung gepflegt von dem homogenen jüdischen Volk, das nach dem Auszug aus Ägypten die phantastischen Königreiche von David und Salomo erschaffen hat; das auch die Verbannung nach Babylon überstanden hat. Und das nach den Aufständen im Jahre 70 nach Christus von den Römern in alle Welt verstreut wurde, und in der Diaspora zusammengehalten hat, um eines Tages in das Gelobte Land nach Palästina zurückkehren zu können. Nach dem Holocaust hätte sich das homogene jüdische Volk endlich wieder in seiner legitimen Heimat versammeln können zu einem Nationalstaat. So formuliert die israelische Unabhängigkeitserklärung von 1948: „Nachdem das Volk (Israel) unfreiwillig aus seinem Land ins Exil getrieben worden ist, blieb es im festen Glauben, auch nach seiner Zerstreuung, und hörte nie auf zu beten und zu hoffen auf seine Rückkehr und auf eine Wiederherstellung seiner politischen Freiheit.“
Nun sorgt allerdings der Historiker Shlomo Sand von der Universität Tel Aviv mit seinem neuesten Buch1 für lebhafte Diskussionen. Denn das Werk mit dem Titel „Wie das jüdische Volk erfunden wurde“ steht auf den Bestsellerlisten in Israel. Sand zerpflückt alle oben genannten nationalen Schöpfungsgeschichten Israels und verweist sie in das Reich der Mythologie.
Die Reaktionen in der israelischen Öffentlichkeit bestehen nicht immer in wohlwollender Aufgeschlossenheit. Rollkommandos versuchen Sands Vorlesungsveranstaltungen zu sprengen. Drohbriefe und Beschimpfungen gehören zum täglichen Brot des unerschrockenen Geschichtsforschers. Sand ist 1946 im österreichischen Linz als Sohn polnischer Holocaust-Überlebender geboren worden, und hat sich bereits in den Sechziger Jahren Organisationen der Neuen Linken in Israel angeschlossen, die dem Zionismus kritisch gegenüberstehen. Als Professor in Tel Aviv und Paris ist Sand eigentlich Experte für moderne europäische Geschichte, mit Schwerpunkt Frankreich. Seinen Ausflug in die israelische Geschichte hat er sich aufgespart, bis er unkündbarer Ordinarius geworden ist. Denn, so Sand: „Man muss einen Preis zahlen im akademischen Leben Israels, wenn man solche Meinungen vertritt.“
Je tiefer der Historiker aus Tel Aviv sich in die altertümlichen Quellen hineinarbeitete, um so mehr erstaunte ihn, wie wenig Schöpfungsgeschichten Israels durch Dokumente zu belegen sind. Das fängt an mit der biblischen Geschichte vom Auszug der versklavten Israeliten unter Moses aus Ägypten ins Gelobte Land. Dieser im 13. Jahrhundert vor Christus angesiedelte Exodus ist durch keinerlei ägyptische Chroniken belegt, und das Gelobte Land gehörte damals zum Verwaltungsgebiet Ägyptens. Auch für die Existenz der goldenen Königreiche Davids und Salomos finden sich keine archäologischen Belege.
Im Jahre 70 nach Christus fanden Aufstände fundamentalistischer jüdischer Sekten gegen die römische Besatzungsmacht statt. Die angebliche nachfolgende Vertreibung und Verstreuung der Juden in alle Himmelsrichtungen sind ebenfalls freie Erfindung, urteilt Sand. Denn um ein ganzes Volk zu vertreiben, fehlten schlicht die Mittel:
Die Römer haben keine Völker ins Exil getrieben, und sie konnten es auch gar nicht. Sie verfügten nicht über Eisenbahnen und Lastwagen, um ganze Bevölkerungen zu deportieren.
Sind die Palästinenser die Nachkommen der Israeliten?
Bis auf die Rädelsführer sei niemand außer Landes geschafft worden. Die meisten Juden waren bodenständige Bauern, die unter fremder Oberherrschaft im Lande blieben. Später hätten sie den islamischen Glauben angenommen und sich mit anderen Völkern vermischt. Die Nachkommen der bodenständigen Juden wären somit heutzutage die Bewohner, die von den israelischen Neusiedlern an den Rand gedrängt worden sind – also die Palästinenser in Israel, im Gazastreifen oder im Westjordanland!
Die Neusiedler, die die Staatsbevölkerung des modernen Israel ausmachen, haben mit den antiken Israeliten nichts zu tun, sagt Sand. Diese Leute sind die Nachfahren jüdisch missionierter Völker. Denn zwischen dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung und dem vierten Jahrhundert nach Christus schwärmten jüdische Missionare in alle Regionen des Mittelmeerraumes aus. Neben unzähligen jüdischen Minderheitsgemeinschaften wurden ganze Königreiche zum Judentum bekehrt. Zu nennen sind hier z.B. das Reich Himya im Gebiet des heutigen Jemen. Ein anderes Königtum befand sich auf dem Gebiet des heutigen Kurdistan.
Im sechsten nachchristlichen Jahrhundert entstand im Maghreb ein jüdisch bekehrtes Berberreich, dessen Überreste in den folgenden Jahrhunderten die iberischen Khalifate wesentlich beeinflusst haben. Ungefähr zur selben Zeit übernahm das halbnomadische Turkvolk der Khasaren den mosaischen Glauben. Das Khasarenreich erstreckte sich über das Gebiet der heutigen Ukraine. Als die Mongolen das Reich der Khasaren auslöschten, vermischten sich die Khasaren mit ebenfalls jüdisch missionierten Slawen und deutsch-jüdischen Flüchtlingen der Pogrome von Mainz und Worms. Die ostjüdischen „Schtetl“-Bewohner sind also ebenso wenig Nachkommen einer jüdischen Diaspora aus Palästina wie die iberischen Sepharden oder die mosaischen Jemeniten, befindet Sand.
Diese Sachverhalte waren früheren Generationen von Judaisten durchaus bekannt. Sogar führende Zionisten verschwiegen nicht, dass die Palästinenser die Nachkommen der Israeliten seien. Yitzhak Ben-Zvi, später zweiter Präsident der Republik Israel, äußerte 1929: „... die überwältigende Mehrheit der Kleinbauern haben ihren Ursprung nicht bei den arabischen Eroberern, sondern eher, vor diesen, in den jüdischen Bauern, die reich an Zahl waren und die Mehrheit beim Aufbau des Landes stellten.“ Ähnliches hörte man damals von David Ben Gurion.
Nationalstaatsgedanke führte auch im zionistischen Denken zu einer Neuorientierung
Und dass die Khasaren im ethnischen Sinne keine Juden waren, gehörte im Neunzehnten Jahrhundert zum Allgemeinwissen. Als in Deutschland noch jüdische Gelehrte wie Isaak Markus Jost (1793-1860) oder Leopold Zunz (1794-1886) Einfluss ausübten, galt das Judentum noch als ein rein religiöses Phänomen. Als jedoch in Deutschland der Nationalismus an Boden gewann, begann sich auch in der jüdischen Gemeinschaft die Akzentuierung zu verschieben. In Deutschland formierte sich der Nationalstaatsgedanke, der untrennbar mit einer führenden, homogenen Herrenrasse verbunden sein sollte. Das war die Zeit des Germanenkults. In den USA formierte sich entsprechend die Auffassung, die nationale Herrenrasse in Nordamerika sei die Nordic Race, bestehend aus blonden, blauäugigen Nachkommen der Engländer, Deutschen und Skandinavier. Diese von Madison Grant formulierte Auffassung floss ein in die Einwanderungs-, Sterilisierungs- und Heiratsverbotsgesetze der USA.
Jene Radikalisierung des Nationalstaatsgedankens, die so in Frankreich nicht vollzogen wurde, führte auch in der zionistischen Gemeinschaft zu einer Neuorientierung. Der jüdische Historiker Heinrich Graetz (1817-1891) deutete in Abgrenzung zum preußischen Historiker Heinrich von Treitschke das Judentum nicht mehr als ein rein religiöses Netzwerk, sondern zunehmend als nationalistische Bewegung.
Shlomo Sand unterstellt den zionistischen Siedlern in Israel zunächst einmal, dass sie imperialistische Motive der Landnahme mit dem Konstrukt eines vertriebenen, nun heimkehrendes Volkes verbrämen würden:
Die Enthüllung, dass die Juden nicht aus Judäa stammen, würde offensichtlich die Rechtmäßigkeit unseres Hierseins unter unseren Füßen wegziehen. Seit Beginn der Dekolonisierung konnten Siedler nicht einfach bloß sagen: Wir kamen, wir gewannen, und jetzt sind wir hier, in der Weise, wie die Amerikaner, die Weißen in Südafrika und die Australier verkündeten.
Shlomo Sand
Besorgt konstatiert Sand einen seit den sechziger Jahren stärker werdenden Biologismus in der israelischen Debatte über ein angebliches jüdisches Nationalvolk: „Die ‚Herkunft der Völker’ ist inzwischen ein akzeptiertes und beliebtes Forschungsfeld der Molekularbiologie ...“ Die offiziell festgeschriebene Definition der israelischen Demokratie als „jüdisch“ hindert jedoch mindestens ein Fünftel der Staatsbürger daran, sich mit Israel zu identifizieren. Hier wird eine Spannung vorprogrammiert, und es ist fraglich, ob der kleine Staat diese Spannungen dauerhaft aushalten kann. Folglich fordert Sand eine Umformulierung der israelischen Verfassung:
Im israelischen Diskurs über die Wurzeln liegt ein gewisses Maß an Perversion. Es handelt sich um einen ethnozentrischen, biologischen und genetischen Diskurs. Aber Israel verfügt über keine Existenz als jüdischer Staat: wenn Israel nicht eine offene, multikulturelle Gesellschaft wird, dann erleben wir ein Kosovo in Galiläa. Das Bewusstsein vom Anrecht auf diesen Platz muss flexibler und variantenreicher sein, und wenn ich mit meinem Buch zu der Aussicht beigetragen habe, dass ich und meine Kinder in der Lage sein werden, mit den anderen Gruppen hier im Lande in einer gleichberechtigteren Situation zusammen zu leben, dann habe ich mein Scherflein dazu beigetragen.
Shlomo Sand