Sind wir nicht alle ein bisschen queer?

Seite 2: Discriminor ergo sum

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Die bloße Zugehörigkeit zu einer gerade schwer angesagten gesellschaftlichen Gruppe genügt daher vielen nicht. Unwiderstehlich authentisch wirkt nur, wer zusätzlich nachweisen kann, dass er wegen seiner Einzigartigkeit diskriminiert wird. Ein kleiner Ausflug in die Etymologie hilft, diesen Zusammenhang zu verdeutlichen:

"Diskriminieren" ist vom lateinischen discriminare abgeleitet, was so viel wie trennen oder unterscheiden bedeutet. Wer diskriminiert, das heißt, von anderen unterschieden wird, bekommt damit also seine Individualität bescheinigt. So könnte auch die Welle von Ich-Geschichten über Sex- und Beziehungsthemen zu erklären sein, die von den Jugendportalen immer häufiger auch in etablierte Medien hinüberschwappt. Es scheint nicht nur einen Mangel an Individualität zu geben, den die Betroffenen auszugleichen versuchen, indem sie über ihre teils realen, teils eingebildeten Diskriminierungserfahrungen berichten, sondern auch einen Mangel an Sex und einen Mangel an Bindungsbereitschaft, vor allem auf Seiten der Frauen.

Definitiv kein Mangel besteht dagegen an Narzissten. Da diese per se nicht in der Lage sind, einen Mangel an sich selbst festzustellen, sondern beständig nach Aufmerksamkeit gieren, um ihr Ego zu streicheln, drängt es naturgemäß viele von ihnen in die Medien. Ihre Chancen, die Öffentlichkeit an ihrer Nabelschau teilhaben zu lassen, stehen gar nicht schlecht, sofern es sich bei ihnen um Frauen jeglicher geschlechtlicher Identität oder - mit Abstrichen - queere Männer handelt.

Für Zeit Online genügt es schon, sich als Frau über dumme Kommentare zu beklagen, denen frau als Single ständig ausgesetzt sei und einfach mal zu behaupten, nur weibliche Singles seien davon betroffen.

Für ze.tt reicht es sogar, sich eine Woche lang auf diversen Dating-Plattformen herumzutreiben und anschließend zu beklagen, man sei "am Ende", weil Männer "seltsam" seien, "allesamt gruselig und unsympathisch" wirkten, entweder zu prollig oder zu gebildet daherkämen oder "abtörnende" Fragen stellten wie: "Magst du als Feministin überhaupt Männer?" Zuhören können Männer eh nicht gut: "Es ist ein bisschen wie mit Stellenanzeigen. Die meisten lesen nicht, was du schreibst, und bewerben sich völlig an dir vorbei."

Heterosexuellen Cis-Männern, die sich auch einmal beklagen möchten, beispielsweise über selbstgefällige Frauen in Online-Partnerbörsen, bleibt dagegen nur, sich auf irgendwelchen unbedeutenden Blogs auszuheulen. Boys don't cry. Daran hat sich seit 1979, als jene Single von The Cure erschien, offenbar wenig geändert.