Sind wir nicht alle ein bisschen queer?

Seite 3: Das Hipster-Paradoxon

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Nun hat nicht jeder das Glück, irgendwie behaupten zu können, von der Gesellschaft diskriminiert zu werden. Zur Not tut es aber auch die Diskriminierung innerhalb einer sozialen Gruppe.

So berichtete kürzlich eine lesbische Frau - es gibt inzwischen auch lesbische Männer und schwule Frauen - unter dem Pseudonym Petra Bergwein auf Zeit Online von den schlimmen Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt sei, da sie den Erwartungen ihrer Community nicht entspräche. "Sex-positiv, poly und kinky - das sind die Schlagworte, die einem Zutritt zum innersten Kreis der coolen, hippen Berliner Queers gewähren."

Ihre Identitätssuche führte die Autorin schließlich zu dem Ergebnis, dass sie demisexuell sei. Was bedeutet: "Ich schlafe erst mit jemandem, wenn ich eine emotionale Bindung spüre." Damit habe sie Probleme "in einer Stadt, in der schneller Sex stets nur einen Klick entfernt, alles andere jedoch fast unmöglich zu finden ist". Die Stadt und die queeren Hipster, die diese in wachsender Zahl bevölkern, scheinen für Bergwein - vermutlich eine Kombination aus dem Technotempel Berghain und dem Hipster-Hotspot Weinbergspark in Berlin-Mitte - ein und dasselbe zu sein.

Nun könnte sie es vielleicht einmal mit einer anderen, weniger hippen Stadt versuchen oder ihre Demisexualität einfach als normal einordnen. Doch dafür ist offenbar Bergweins Sehnsucht zu groß, einer Subkultur mit geheimen Codes und eigener Sprache anzugehören: "Jedes Wochenende mindestens einen One-Night-Stand, einen Dreier im Darkroom, Fesselspiele auf einer Play Party, und am verkaterten Sonntag noch ein paar schnelle Tinder-Dates. Wow, dachte ich: Respekt, wie Frauen hier ihre Sexualität selbstbestimmt ausleben, so slutty sein dürfen, wie sie wollen, und dafür sogar Credits bekommen."

Es ist scheinbar kompliziert. Vielleicht hat "Bergwein" aber auch einfach den Grundwiderspruch des Hipstertums noch nicht verstanden: Hipster möchten individuell und authentisch wirken, doch kann man eben nicht zugleich individuell und ein Hipster sein. Doch auch außerhalb der Hipsterszene scheint es ein großes ungestilltes Bedürfnis nach Identitätsfindung zu geben.

Als nächstliegende Methode, um ihr Bedürfnis nach Assimilation und Distinktion zu stillen, erscheint vielen symbolischer Konsum. Anfänger versuchen es mit angesagten Mode- oder Handymarken. Fortgeschrittene ernähren sich vegetarisch, vegan oder "biologisch", gluten- oder laktosefrei. Es soll hier nicht geleugnet werden, dass es gute Gründe dafür geben kann, sich vegetarisch zu ernähren. Unbestritten ist auch, dass manche Menschen aus gesundheitlichen Gründen zu einer Ernährungsumstellung gezwungen sind. Doch da der Umsatz mit laktose- und glutenfreien Produkten rapide angestiegen ist, obwohl es nicht mehr Lebensmittelintoleranzen gibt als früher, bleibt nur der Schluss, dass sich viele ein solches Problem nur einbilden. Oder sie haben ein echtes, psychisches Problem, für das sie sich ein Stellvertreterproblem konstruieren, das sich mit dem bewährten Mittel Konsum lösen lässt.