Sind wir zu müde und zu ängstlich für den Fortschritt?

Seite 2: Linke Melancholie und rechte Neospießer

Es geht also in erster Linie um Befindlichkeiten, nicht um Fakten.

Die einst erzkonservative Behauptung von der "Selbstzerstörung der Freiheit" ist heute gerade auch bei westlichen Linken und Linksliberalen beliebt, also bei jenen, die mit Abstand am meisten von Liberalisierungen profitieren.

Sie dient zur Unterfütterung eines schlichten und vor allem gefühlten Antiliberalismus. Es ist eine Haltung, die beim Begriff "Liberalismus" nur an die FDP und an Christian Lindners Porsche denken kann, und die auf Freiheit mit der "Furcht vor der Freiheit" (Erich Fromm) reagiert, die schon die spießigen Fünfzigerjahre prägte.

Hier treffen sich grüne Klimaaktivisten und Neohippies mit den Neospießern der AfD, die in genau diese Fünfziger Jahre zurückwollen, in der Türken in der Fabrik arbeiteten und ansonsten nicht auf der Straße zu sehen waren.

"In den letzten Jahrzehnten sind die Erfahrungen von Verlusten universell geworden. Es gibt auch auf der Linken teilweise eine – wie Mark Fisher es nannte – 'leftist melancholia', die sich etwa auf den Wohlfahrtsstaat und die Industriearbeiterschaft der 1950er und 1960er Jahre richtet.", so Reckwitz.

Fortschritt oder Wiederherstellung der Vergangenheit?

Der Rechtpopulismus sei deshalb erfolgreich, weil er geschickt und manipulativ auf soziale Verlusterfahrungen und Verlustängste reagiert. Beim Rechtspopulismus gehe es unter dem Motto "take back control", um das Unmögliche: das Projekt, die Vergangenheit wieder herzustellen.

"Die politische Frage ist", so Reckwitz, "welche alternativen Umgangsweisen mit Verlusten es gibt. Eine Option ist eine Politik der Kalkulation, Prävention und Versicherung von Risiken, um möglichen zukünftigen Verlusten vorzubeugen".

"Resilienz" erscheine als neuer Wert einer Gesellschaft, "die lernt, Verluste auszuhalten". Eine andere Strategie bestehe darin, im Verlust eigentlich einen Gewinn zu sehen. Das findet sich in der ökologischen Debatte.

Er denke, so Reckwitz "es ist wirklich eine zentrale Aufgabe für die Politik der Zukunft jenseits des Populismus ... Strategien für eine Gesellschaft zu entwickeln, die lernt, mit dem Negativen umzugehen".

Mehr Normierung wagen?

In der gegenwärtigen Debatte könnte man vielleicht zugespitzt feststellen, dass der Liberalismus und sein Kernbegriff Freiheit selbst bei den Anhängern liberaler Philosophien heute einseitig auf Antinormierung und Deregulierung reduziert werden.

Während heutige Rechte und Neoliberale eine zunehmend entnormte, deregulierte Wirtschaftsordnung durchsetzen möchten, möchten heutige Linke und Linksliberale eine zunehmend entnormte, zunehmend deregulierte Gesellschaftsordnung durchsetzen.

Vielleicht muss man sich eine Ordnung der Zukunft vorstellen, die viel stärker auf neue Normierungen setzt, auf Regulierung und Erziehung der Menschen nicht zu einer Gesellschaft der vielen Verschiedenen, Heterogenen, sondern der Ähnlichen, Gleichgesinnten, zu einer durch Bürgertugend zusammengehaltenen Republik. Wird diese Ordnung eine liberale sein?