Singing the Bavarian Obergrenzen-Blues
Seite 3: Ein Leben in prekären Verhältnissen
Anders als für die USA, die sich als Schmelztiegel begreifen, in dem jeder Einwanderer eine Chance bekommt, ist die Migrationsbilanz für Deutschland nicht sehr positiv. Während in den USA Zuwanderer mit einer besonderen Dynamik zur Wirtschaftskraft beitragen und die Wissensgesellschaft bereichern, profitiert Deutschland von einem großen Teil seiner Zuwanderer längst nicht so, wie es möglich wäre, weil seine Politiker sich jahrzehntelang einer pragmatischen Lösung verweigert haben.
Das Land verschwendet ein Potenzial menschlicher Fähigkeiten. Ein wachsender Teil der nach Deutschland zugewanderten Menschen lebt in problematischen Verhältnissen. Überdurchschnittlich viele von ihnen sind auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das ist ein Versagen der Politik, die nicht rechtzeitig die richtigen Weichen gestellt hat, und nicht etwa der genetisch minderbemittelten, bildungsfernen Araber und Türken - wie populistische Idioten wie Thilo Sarrazin das gern behaupten.
Man hätte gehofft, dass die Politiker aller Parteien angesichts der allgemein zugänglichen Zahlen über den demografischen Wandel alarmiert wären, genauer: schon seit Jahrzehnten alarmiert gewesen wären. Doch weit gefehlt. Sie haben die Dramatik der Situation nicht einmal verkannt. Sie haben sie ignoriert. Sie wollten nichts davon wissen. Helmut Kohl hat noch 1983 allen Ernstes die Forderung formuliert: "Die Zahl der Ausländer in Deutschland muss halbiert werden."
Dabei brauchen die Konservativen, die Sozialdemokraten und die Liberalen einander - wie so oft - nichts vorzuwerfen. Sie sind alle auf derselben dümmlich-populistischen Welle geschwommen, auf der die Politik in entwickelten repräsentativen Demokratien nun einmal blüht und gedeiht.
So verständigte sich Ende 1981 die sozialliberale Bundesregierung unter Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher zu dem Grundsatz: "Es besteht Einigkeit, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll. Das Kabinett ist sich einig, dass für alle Ausländer außerhalb der EG ein weiterer Zuzug unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten verhindert werden soll."
Und so kommt eine tragische Verkettung von Politikerignoranz und dumpfer Fremdenfeindlichkeit großer Teile der Bevölkerung ins Spiel. Die Politiker verstanden instinktiv schon früh, dass die breite Bevölkerung alles Fremde und Fremdartige dumpf ablehnt und begriffen das als einmalige Chance. Es bildete sich eine unheilige Allianz zwischen breiten Schichten der Bevölkerung und Politikern, die vor allem in Demokratien als Herrschaftsinstrument taugt.
Government by Latrinenparolen als Politikmodell
So mobilisierten sie in den 1970er, 1980er, 1990er und auch noch 2000er Jahren eine tumbe Ablehnung gegen Ausländer und insbesondere gegen Türken und gegen Moslems. Das wäre bloß primitiv, wenn dadurch nur niederträchtige Emotionen und latenter Rassismus mobilisiert worden wäre. Aber auf dem Spiel steht diese Zukunft dieses Landes.
Indem sie dumpfe Stimmungen organisiert, unterstützt und selbst mobilisiert, trägt die Politik aktiv dazu bei, die Zukunft dieses Landes zu verspielen und dem ganzen Land zu schaden. Ohne eine stärkere Zuwanderung hat Deutschland überhaupt keine Chance. Das bedeutet allerdings auch: Mit stärkerer Zuwanderung ist die Zukunft noch längst nicht gesichert.
Im schlimmsten Extrem haben Politiker latente oder auch ganz manifeste Fremdenfeindlichkeit mobilisiert, weil sie - wohl zu Recht - meinten, dass sie damit Wahlen gewinnen können.
In einem Interview mit der Zeitschrift "Focus" proklamierte Horst Seehofer, die Integrationsfähigkeit von Zuwanderern hänge auch von ihrer Herkunft ab: "Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun. Daraus ziehe ich auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen."
Damit löste Seehofer zwar einen Sturm der Entrüstung aus, selbst CDU- und CSU-Politiker waren empört. Aber genau das ist ja das Ziel solcher Stürme im Wasserglas. Es geht nicht darum, in der Öffentlichkeit einen Gedanken zu lancieren, der dann nach Pro und Contra erörtert werden kann. Es geht darum, eine im Land verbreitete ausländerfeindliche Stimmung am Kochen zu halten. Da kann man auch schon mal ordentlich draufhauen. Es ist billige Stimmungsmache und üble Hetze. Hauptsache, der Biertisch wird bedient.
Selbst plumpe Hetze wäre ja nur unmoralisch. Aber bei den Fragen, die der demografische Wandel über die Notwendigkeit von Zuwanderung in einer dramatisch schrumpfenden Bevölkerung aufwirft, geht es um die Zukunft Deutschlands und um die Zukunftsfähigkeit dieses Landes.
Es ist höchst einfältig und zutiefst verantwortungslos, die epochalen Probleme mit Latrinenparolen abzubügeln. Nicht weil Multi-Kulti-Begeisterung und Gutherzigkeit gegenüber Ausländern so viel edler wären. Die sind genauso verbohrt wie der dumpfe Fremdenhass.
Die Zukunft des Landes ist nur noch eine Nebensache
In den Diskussionen um die Anwerbung von ausländischen Fachkräften bleibt zumeist unberücksichtigt, dass bereits Migranten in Deutschland leben, die über Qualifikationen verfügen. Fehlende Anerkennung und berufliche Integrationsprogramme führen dazu, dass sie arbeitslos oder weit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt sind. In der Konsequenz arbeiten begehrte Fachkräfte wie Ingenieure als Hausmeister oder Müllmänner.
Nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums arbeitet sogar jeder zweite beschäftigte Einwanderer mit ausländischem Abschluss unterhalb seiner Qualifikation. Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse ist kompliziert und undurchsichtig.
Die Bürokraten in den Ämtern behindern jede pragmatische Lösung und reiten irgendwelche nichtsnutzigen Paragrafen. Die Regeln und die zuständigen Behörden sind in jedem Bundesland verschieden. Auch die Bürokratie rottet sich mit der Politik zusammen, um den Fortschritt des eigenen Landes zu behindern.
Der demografische Wandel ist keine Naturkatastrophe, die ohne Vorwarnung über die entwickelten Länder hineingebrochen ist. Er gleicht nach den Worten des Rostocker Bevölkerungsforschers Professor James W. Vaupel vielmehr dem Gezeitenwechsel an der Nordsee: "Die Flut steigt zwar langsam, aber stetig und unaufhaltsam. Die zentrale Gefahr stellt dabei nicht der demografische Wandel an sich dar, sondern vielmehr die demografische Ignoranz."
Die Problematik des Systems "entwickelte repräsentative Demokratie" stellt sich beim Thema "demografischer Wandel und Zuwanderung" wie bei jedem anderen politischen Thema auch auf stets die gleiche Weise. Vor den Entscheidungsträgern baut sich stets die Alternative zwischen vernünftiger Problemlösung auf der einen Seite und Machterhalt beziehungsweise Machtgewinn auf der anderen Seite auf.
Das ist keine subjektive Entscheidung der Politiker. Die können sich die Entscheidung in die eine oder andere Richtung auch nicht aussuchen. Individuell ginge das vielleicht noch, aber die kollektiven Entscheidungsgremien haben nicht wirklich die Wahl. Ihr Lebenszweck sind Machterhalt und Machtgewinn. Das politische System stellt sie vor diese Alternative - ob sie das nun wollen oder nicht.
Andere politische Systeme konfrontieren ihre Entscheider nie oder so gut wie nie, auf jeden Fall aber nicht bei jeder Einzelentscheidung mit dieser Alternative. Das ist eine Besonderheit, die demokratische Herrschaft charakterisiert und auch paralysiert.
Politiker in repräsentativen Demokratien haben ständig zwischen diesen Alternativen zu wählen. Und sie entscheiden sich in aller Regel und in so gut wie allen Einzelfällen für Machterhalt oder Machtgewinn und gegen vernünftige Problemlösungen. Heute stehen fast alle entwickelten demokratischen Systeme aus eben diesem Grund am Rande des Abgrunds.
So rieselt über Jahrzehnte hinweg stets von neuem und immer mehr Sand ins Getriebe der politischen Entscheidungsprozesse. Bei keiner einzigen politischen Entscheidung in repräsentativen Parteiendemokratien geht es einfach nur darum, eine Lösung für ein wie auch immer geartetes Problem zu finden. Es geht vielfach vorrangig darum zu erkennen, wie man über ein Thema Wähler beeinflussen, Wahlen gewinnen, und politische Macht erhalten oder erringen kann.
Jede politische Entscheidung hat diesen Doppelcharakter, und jede einzelne politische Entscheidung wird dadurch in ihrer Substanz verzerrt. Niemals entscheiden die Politiker und ihre Organisationen in repräsentativen Demokratien einfach nur über die Sache. Im Gegenteil, meist haben sachfremde Überlegungen einen höheren Stellenwert. Es geht stets auch um die Opportunität der Entscheidung für die Entscheidungsträger.
Die Entscheidungsprozesse in demokratischen Parteienstaaten basieren so auf Strukturen, die im Prinzip jede politische Entscheidung irrational verzerren: irrational sind sie im Sinne einer Problemlösung, rational bestenfalls im Sinne der politischen Herrschaft. Das ist der tiefere Grund, warum so viele Reformpläne nicht zu Stande kommen: Es geht bei ihnen nicht um die Sache. Es geht um ihre Opportunität.
Beim Thema "Einwanderungsland" hat das über Jahrzehnte hinweg dazu geführt, dass es für die politischen Parteien immer einfacher war, sich gegen pragmatische Lösungen und für Wahlgewinne zu entscheiden. Man kann das den einzelnen Politikern und selbst der politischen Kaste als Kollektiv gar nicht einmal zur Last legen. Sie haben diesen Zwang ja nicht erfunden. Er ist dem System des repräsentativen parlamentarischen Parteienstaats immanent.
Es gibt kein anderes politisches System, in dem die Zwänge zum Machterhalt in dieser destruktiven Weise auf Dauer perpetuiert sind. Und die Systemimmanenz der Zwänge zu Machterhalt oder Machtgewinn macht die repräsentativen Demokratien auf Dauer zum größten Obstakel ihrer selbst. Ist die Herrschaft der politischen Kaste erst einmal etabliert, ist der Zwang zu ihrer permanenten Verteidigung für die Herrschenden unüberwindlich. Es ist ein neues politisches Phänomen: Die permanente Stagnation bedroht die Zukunft der entwickelten Demokratien in aller Welt. ___________________________________________________________________ Wolfgang J. Koschnick ist Autor des Buchs: "Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr", das 2016 im Westend Verlag, Frankfurt am Main, erschien.