Singing the Bavarian Obergrenzen-Blues

Seite 2: In den letzten 50 Jahren kamen im Schnitt jährlich 253.000 Zuwanderer mehr ins Land, als Abwanderer es verließen

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Nun wäre es ja nicht weiter tragisch, wenn die Gesamtzahl der Bevölkerung sozusagen wohlproportional abnähme. Dann wären wir gewissermaßen am Ende ein paar Millionen weniger und hätten dafür mehr Platz. Aber das Problem ist nun einmal: Die Alten im Rentenalter werden immer mehr, und die jungen Erwerbstätigen werden immer weniger. Und das ist fatal.

Bis 2050 wird sich die Zahl der 20-Jährigen fast halbieren, der Anteil der Menschen im aktiven Alter zwischen 20 und 60 Jahren wird auf etwa 40 Prozent sinken. Selbst wenn die Geburtenrate in den nächsten 20 Jahren wieder von 1,51 (heute) auf 2,0 Kinder pro Frau anstiege - was sehr unwahrscheinlich ist -, würde es bis 2080 dauern, bevor die Zahl der Geburten- und Todesfälle wenigstens wieder gleich hoch wäre.

Noch verschleiert Zuwanderung die dramatische Dynamik des Schwunds. In den letzten 50 Jahren kamen im Schnitt jährlich 253.000 Zuwanderer mehr ins Land, als Abwanderer es verließen - nur deshalb ist Deutschlands Einwohnerzahl bis dato noch nicht geschrumpft, sondern zuletzt sogar leicht gewachsen.

Es gibt mindesten drei gute Gründe für mehr Zuwanderung:

  1. Nur um die ohnehin schon stark gealterte Bevölkerung bis 2050 wenigstens konstant zu halten, bräuchte Deutschland nach einer Studie der Vereinten Nationen eine jährliche Nettozuwanderung von mindestens 344.000 Menschen, also weit mehr als nur 200.000. Damit wäre wenigstens erreicht, dass die Bevölkerung nicht weiter schrumpft. Sonst gar nichts.
  2. Um auch noch die Wirtschaftskraft des Landes dauerhaft auf dem bestehenden Niveau zu erhalten und die Zahl der 15- bis 64-jährigen Erwerbstätigen wenigstens konstant zu halten, müssten jährlich 458.000 Zuwanderer nach Deutschland kommen - also rund eine halbe Million. Wenn jedoch von 2020 an jährlich nur 200.000 Menschen nach Deutschland zögen - wie die CSU es fordert -, würde die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bis 2050 auf 39 Millionen sinken. Da die Lage in den meisten europäischen Ländern ähnlich ist, kann man mit einer Zuwanderung aus Europa kaum rechnen. Das Gros der Zuwanderer müsste von weit her - aus Afrika, Asien oder wenigstens dem Nahen Osten - kommen. Und allein bei dem Gedanken stehen jedem ordentlichen Fremdenfeind und Rassisten schon heute die Haare zu Berge …
  3. Um den Altenquotient und damit die Altersstruktur auf demselben Niveau wie heute zu halten - also das Verhältnis der Anzahl älterer Menschen zur Anzahl jüngerer Menschen - wären sogar über 3,63 Millionen Zuwanderer pro Jahr nötig. Dann allerdings müsste die deutsche Bevölkerung bis 2050 auf 300 Millionen Menschen wachsen, von denen dann bereits die meisten Zuwanderer oder Nachkommen von Zuwanderern wären. Doch dann läge der Ausländeranteil nicht mehr bei 9, sondern bei 80 Prozent.

Das sind zwar Zahlenspielereien, aber leider keine lustigen. Denn die geradezu absurd hohen Zahlen zeigen eines ganz klar: Deutschland braucht dringend Zuwanderung junger und möglichst auch qualifizierter Arbeitskräfte. Und es besteht auch kein Zweifel, dass Zuwanderung helfen kann, die Rentensysteme wenigstens ein wenig zu stabilisieren. Mehr aber auch nicht.

Sie wird das aber niemals in dem Maße leisten können, das nötig wäre, um den Alterungsprozess vollständig abzuwenden. Man wäre ja schon froh, wenn wenigstens das Minimum einer geordneten, durchdachten und organisierten Einwanderung möglich wäre. Aber selbst das wollen die CSU-Politiker mit ihren billigen Wahlkampfparolen verhindern.

Die Sturheit der CSU zeigt, dass sie eine zutiefst reaktionäre Partei ist

Das Renten- und Gesundheitssystem hält dem Druck des demografischen Wandels schon heute nicht mehr stand; denn die Sozialversicherungen sind umlagefinanziert und für eine stabile Bevölkerung und Altersstruktur ausgelegt. Doch die Bevölkerung hält sich nicht an die Erfordernisse der Sozialversicherungen und ist instabil.

Und die demografischen Herausforderungen der Zukunft betreffen längst nicht mehr nur die längerfristige Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme. Sie werden die gesamte gesellschaftliche, kulturelle und ökonomische Realität ebenso wie den konkreten Lebensalltag jedes Einzelnen einschneidend verändern.

Dass sie sich seit Jahren weigert, die demografische Realität wahrzunehmen und stattdessen am Fetisch der albernen und durch keinerlei demografische Daten gestützten 200.000-Obergrenze festhält, zeigt für jedermann deutlich erkennbar, was für eine zutiefst reaktionäre Partei die CSU ist; denn in dem letzten Vierteljahrhundert lag die Nettozuwanderung in Deutschland meistens über dieser Grenze, oft lag sie auch nahe dran und ganz selten mal drunter. Trotzdem sank die Gesamtzahl der Einwohner Deutschlands kontinuierlich. Erst im letzten und einzigen Jahr stieg sie dank Zuwanderung.

Das ist ja nicht der einzige Hinweis auf die Rückständigkeit der Partei: Sie und ihr Vorsitzender Seehofer pflegen ausgesprochen freundschaftliche Beziehungen mit dem ungarischen Autokraten Viktor Orbán sowie dem lupenreinen russischen Diktator Wladimir Putin. Und er bemüht sich mit geradezu hündischer Unterwürfigkeit um eine Audienz bei Donald Trump. Den Landtagswahlkampf 2017 wollen sie ausgerechnet mit dem Blender Karl-Theodor zu Guttenberg führen. Von allen möglichen nur denkbaren Lichtgestalten suchen sie sich ausgerechnet und ohne Not diese Finsterlinge aus. Fehlt nur noch Recep Tayyip Erdoğan …

Die CSU beharrt mit bajuwarischer Verbocktheit auf einer "Obergrenze", bei der sicher ist, dass die Gesamtbevölkerung weiter schrumpfen muss, die Alten immer mehr und die Jungen immer weniger werden. Sie versucht, einen angeblich idealen Zustand aus der Vergangenheit wiederherzustellen, der schon damals meistens gar nicht oder nur ganz selten einmal bestand. Sie strebt nach einem irrealen Wolkenkuckucksheim, das nie existierte. Sie verherrlicht eine fantastische Märchenwelt und sucht das Heil in einer imaginären Vergangenheit - so wie alle Reaktionäre. Und das ist schlicht verantwortungslos in einer sowieso unausweichlich schrumpfenden Bevölkerung.