Sinnvoller Appell an Eigenverantwortung oder Vabanquespiel?
Maskenpflicht in England soll fallen - trotz stark steigender Corona-Zahlen. Gegner warnen, dass damit neue Varianten entstehen. Auch in Deutschland gibt es Forderungen, die Maßnahmen zu beenden, sobald allen ein Impfangebot gemacht wurde
England wird zum Versuchsfeld für die Frage, wie gut Eigenverantwortung in der Coronavirus-Pandemie funktioniert. Premierminister Johnson will heute Nachmittag die Aufhebung substanzieller Maßnahmen ab dem 19. Juli verkünden, wie mehrere britische Medien berichten. Es ist das Land, wo ein deutlicher Anstieg der Infektionen durch die Delta-Varianten verzeichnet wird, zugleich ist dort aber auch der Anteil der Personen, die zweifach geimpft sind größer als in Deutschland.
"Dann müssen eigentlich alle Maßnahmen weg"
Auch hierzulande gibt es Forderungen, wonach mit dem Ansteigen der Impfrate wieder mehr Freiheiten eingeräumt werden müssen. "Spätestens September wird für jeden Impfwilligen ein Impfangebot verfügbar sein, dann müssen eigentlich nahezu alle Coronamaßnahmen weg", fordert der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen. "Jeder kann dann noch immer individuell entscheiden, ob er oder sie weiter Maske tragen will - Pflicht sollte es aber nicht mehr sein", so Gassen gegenüber der Bild-Zeitung.
Die Maskenpflicht wird in England erheblich gelockert, so die Vorabinformationen zu den Ankündigungen, die heute erwartet werden. Anzufügen ist, dass sie England betreffen, in der Corona-Politik haben die einzelnen UK-Mitglieder, so etwa Schottland und Nordirland, ihre eigenen Kompetenzen und politischen Gewichtungen und hinzuzusetzen ist auch, dass in einer Woche, am 12. Juli, erneut die Corona-Lage geprüft werden soll, um die Entscheidungen dann zu bestätigen oder gegebenenfalls einzuschränken.
Die Londoner Times berichtet, dass Premierminister Johnson Pläne zur Rückkehr zur Normalität und zur Wiederherstellung der Freiheiten in zwei Wochen vorantreiben will. Als konkrete Ankündigungen erwartet werden: die Abschaffung der sozialen Distanzierungsregeln, die Rückkehr zu Großveranstaltungen und das "Ende der Maskenpflicht in Geschäften und in öffentlichen Verkehrsmitteln".
Maskentragen auf freiwilliger Basis
Das Tragen von Masken soll auf freiwilliger Basis geschehen, wie ein Kabinettsminister von der Zeitung zitiert wird. Auch bei den Tests von Schulkindern soll sich etwas ändern, wie schon vergangene Woche angekündigt wurde. Es sollen nicht länger ganze "Blasen" ("bubbles") von Schülerinnen und Schüler nachhause geschickt werden, wenn eine(r) von ihnen positiv getestet wurden, künftig wolle man die Aufmerksamkeit auf Einzelfälle - "case-by-case basis" - ausrichten.
Freilich gibt es zur Abschaffung der Maskenpflicht deutliche Gegenstandpunkte in der öffentlichen Diskussion. So zitiert die BBC den Vorsitzenden der British Medical Association, Chaand Nagpaul, der "keinen Sinn" darin erkennen kann, angesichts einer steigenden Zahl von Fällen der Delta-Variante das Tragen von Masken in geschlossenen öffentlichen Räumen zu unterbinden. In einer Zeit, in der es "außergewöhnlich viele Fälle" gebe, könne man doch nicht "wissentlich wollen, dass Menschen infiziert werden".
Die Pläne des neuen Gesundheitsministers Sajid Javid - die erst noch von der Regierung abgesegnet werden müssen - sehen laut Times vor, dass "die Ein-Meter-plus-Regel für den sozialen Abstand aufgehoben" wird, "sodass man in Pubs an der Bar bestellen kann und Theater und Kinos wieder mit voller Kapazität öffnen".
Es werde nicht mehr notwendig sein, "einen QR-Code zu scannen, um in einer Kneipe oder einem Restaurant zu sitzen, und die Veranstaltungsorte müssen nicht mehr die Daten der Kunden für NHS Test and Trace sammeln. Großveranstaltungen wie Musikfestivals werden erlaubt sein. Es wird erwartet, dass die Minister auch die Anordnung zur Arbeit von zu Hause aus lockern und die Beschränkungen für Besuche in Pflegeheimen lockern werden".
Warner und Optimisten
Johnson betonte, dass die Pandemie noch nicht vorbei sei und die Zahlen in den nächsten Wochen steigen würden. Er mahnte zur Vorsicht und an die Bereitschaft, sich impfen zu lassen. Die Zeitung lieferte dazu noch Schätzungen ("Projections") unbekannter Herkunft, wonach man erwartet, dass es im Juli immer noch weniger als 100 Tote pro Tag geben werde, manche sehen sie die Zahl bei 30. Gegenwärtig aber würden Modelle von etwa 150 Covid-19-Todesfällen pro Tag ausgehen.
Die Kurven für Hospitalisierungen und Tote bleiben nach wie vor flach (bei den Toten wird gar ein leichter Rückgang verzeichnet), allerdings ist bei den Hospitalisierungen ein leichter Anstieg zu bemerken.
Hier muss man noch abwarten, da die Zahlen der Krankenhauseinweisungen von 23. Juni bis 29. Juni datieren. Letzter Stand vom 29. Juni sind 358 tägliche Einweisungen. Im Vergleich zur Vorwoche (16. bis 22. Juni) sind es in der Siebentagesumme 380 Hospitalisierungen mehr. Das entspricht ein Plus von immerhin 24,2 Prozent. Derzeit sind gut 1.900 Menschen wegen einer Covid-Erkrankung in britischen Krankenhäusern.
86 Prozent der erwachsenen UK-Bevölkerung waren laut Regierungsangaben am 3. Juli (einschließlich) einfach geimpft und 63,8 Prozent doppelt.
Die Opposition, "Schatten-Gesundheitsminister" Jonathan Ashworth, warnt: "Die Fälle ohne Maßnahmen ansteigen zu lassen, bedeutet weiteren Druck auf das nationale Gesundheitssystem (NHS), mehr Krankheit, Störung der Ausbildung - und riskiert, dass eine neue Variante mit einem Selektionsvorteil entsteht".
Der Nationale Medizinische Direktor des NHS, Stephen Powis, äußert sich dagegen optimistisch. Zwar würden die Infektionen derzeit ansteigen, aber die Hospitalisierungen würden nicht in der Weise ansteigen wie zuvor.