Skripal: Herkunft des Nowitschok-Nervengifts unbekannt
Das britische Militärlabor will nur das Nervengift identifiziert haben, die britische Regierung verweist auf eine breitere Grundlage, Russland verlangt Entschuldigung
Der Befund des Militärlabors in Porton Down ist für die britische Regierung eine Blamage, besonders vor der OPCW-Sitzung. Ebenso aber für die anderen Staaten wie Deutschland, deren Regierungen aufgrund bloßer Behauptungen von Theresa May ihre "uneingeschränkte Solidarität" erklärt hatten. Die britische Regierung hatte zunächst von höchstwahrscheinlich gesprochen, dass Russland hinter dem Giftanschlag auf den Doppelagenten Skripal und seiner Tochter steht. Dann wurde dies als Gewissheit behauptet.
Grundlage war schlicht, dass das Militärlabor die gefundenen Proben als Nowitschok interpretierten, einer Gruppe von sehr gefährlichen chemischen Kampfstoffen, die zuerst in Russland entwickelt worden sein sollen. Die Regierung behauptete, nur Russland habe diese entwickelt, und argumentierte nur nach angeblich plausiblen Cui-Bono-Begründungen, denen man folgen kann oder auch nicht. Das Hauptargument war schließlich, wie aus einem Handout der Regierung hervorgeht, dieses: "Ohne den geringsten Zweifel ist für uns Russland verantwortlich. Kein Land außer Russland hat die kombinierte Kapazität, die Absicht und das Motiv. Es gibt keine plausible alternative Erklärung."
Das haben die anderen Regierungen willig geschluckt, die sich aus unterschiedlichen Interessen hinter die britische Regierung gestellt haben. Da ging es um die transatlantische und europäische Einheit, um den Brexit und drohende Handelskriege und darum, wie viel einfacher man zusammenrücken kann, wenn man einen bösen Feind hat, der für alles bezichtigt werden kann, was falsch läuft: Die "russische Aggression", die "russischen Beeinflussungsoperationen" oder die "hybride Kriegsführung" der Russen wurden zu Gemeinplätzen.
Das Ausgangsargument, um auf Russland zu zeigen, sollte die Analyse des Militärlabors darstellen. Das aber machte nun deutlich, auch welch wackeliger Basis die Schuldzuweisung steht. Gary Aitkenhead, der Leiter des Defence Science and Technology Laboratory (DSTL) in Porton Down sagte SkyNews, man habe zwar das Nervengift identifiziert, das zu der Gruppe der Nowitschok-Agentien gehört. Es sei "wahrscheinlich", dass es von einem Staat produziert wurde, man könne aber nicht sagen, woher es stammt: "Wir haben nicht die präzise Quelle identifiziert, aber wir haben der Regierung die wissenschaftliche Information gegeben, die dann mit einer Reihe von anderen Quellen die Schlussfolgerungen zusammengefügt haben, zu denen man kommen muss."
Das Labor, so Aitkenhead, habe nicht Aufgabe zu bestimmen, woher das Nervengift stammt. Das erfordere andere "Inputs", etwa von den Geheimdiensten. Man könne nur sagen, dass es mit "extrem ausgeklügelten Verfahren" hergestellt wurde, was auf einen staatlichen Akteur hinweise. Ob das Labor selbst Nowitschok-Agentien entwickelt oder solche in Besitz habe, beantwortete Aitkenhead nicht, es würde jedenfalls nicht aus dem Labor stammen: "Es gibt keine Möglichkeit, dass so etwas von uns stammt oder die vier Wände des Labors verlassen hat."
Die britische Regierung musste daraufhin zurückrudern. Ein Sprecher des Außenministeriums sagte, die Regierung glaube weiterhin, dass Russland hinter dem Angriff steht, dafür spreche ein breiteres "Geheimdienstbild". Die Identifizierung der Substanz als Nowitschok sei "nur ein Teil" des Bildes. Zu dem gehöre, dass Russland Möglichkeiten untersucht hat, Anwendungsmöglichkeiten für Nervengifte "wahrscheinlich für Anschläge" zu untersuchen, Teil des Programms sei die Herstellung und Lagerung von Nowitschok gewesen. Wenn das zutreffen sollte, dann ist das kein russischen Programm, sondern eines der Sowjetunion gewesen.
Der Sprecher sagte weiter, dass zum Bild auch die Durchführung staatlich unterstützter Anschläge gehöre (die freilich auch die USA praktiziert haben und jetzt zum Alltagsgeschäft britischer und amerikanischer Drohnen gehören). Dazu komme, dass Russland frühere Geheimdienstoffiziere als Ziele betrachte. Die britische Regierung sehe aus diesen Gründen Russland für diese "rücksichtlose Tat" als verantwortlich an und es gebe "keine andere plausible Erklärung, was auch die internationale Gemeinschaft so sieht".
Der britische Außenminister Boris Johnsohn wurde allerdings entlarvt. Er hatte vor zwei Wochen auf die Frage, wie die Regierung so schnell herausgefunden hat, dass das Nowitschok aus Russland stammt, geantwortet: "Wenn ich auf den Beweis der Leute von Porton Down, dem Labor, schaue, dann waren sie sehr bestimmt. Ich fragte den Mann selbst: 'Sind Sie sicher?' Und er sagte: 'Es gibt keinen Zweifel.' Daher haben wir kaum eine Alternative, als uns für die Aktion zu entscheiden, die wir ausgeführt haben." Damals lamentierte er auch, dass Russland nicht bereit sei, bei der Aufklärung zu helfen, machte aber auch klar, dass man Russland keine Proben geben will. Russland Haltung sei "zunehmend bizarr". Das könnte man nun auch der britischen Regierung vorwerfen.
Die russische Botschaft sieht sich durch die Äußerungen von Aitkenhead bestätigt. "Wir haben von Anfang an gesagt, dass die Behauptungen der britischen Regierung, dass das Nervengift in Russland hergestellt wurde, nur ein Bluff war", heißt es. Festgehalten wird auch, dass Aitkenhead nicht ausdrücklich verneinte, dass das Labor Nowitschok-Agentien entwickelt oder gelagert hat. Überdies beschwerte sich der russische Botschafter Alexander Yakovenko, dass die britische Regierung einen konsularischen Zugang zu Informationen über den Anschlag auf die Skripals und den Tod von Nikolay Glushkov verweigere. Alle drei seien russische Staatsbürger.
Inzwischen hat sich erstmals der russische Präsident Putin eingeschaltet. Er sagte gestern in der Türkei, wo er seinen Freund Erdogan anlässlich des Baubeginns eines russischen AKW besuchte, dass nach Angaben von internationalen Experten das Nervengift in 20 Ländern hergestellt werden könnte: "Wir sind an einer umfassenden Ermittlung interessiert. Wir wollen, dass man uns Zugang zu dieser Ermittlung gewährt und hoffen auf den Erhalt entsprechender Materialien, weil es hier um russische Bürger geht. Wie Sie wissen, hat das russische Ermittlungskomitee ein Strafverfahren eingeleitet."
Kremlsprecher Dmitri Peskow forderte gleich eine Entschuldigung von der britischen Regierung. Die "Idiotie" sei zu weit gegangen. Die Vorwürfe gegen Russland seien "auf Nichts basiert", sagte er.
Julia Skripal, die Tochter des Doppelagenten, ist seit Tagen wieder bei Bewusstsein. Die russische Botschaft verlangt Zugang zu ihr. Bislang hat die britische Regierung offenbar noch keine Entscheidung getroffen. Die Tochter könnte wichtige Hinweise auf den Anschlag geben, es wurde auch bereits ein innerfamiliärer Konflikt lanciert, so dass womöglich nicht der Vater, sondern sie selbst das Ziel gewesen sein könnte.