Slime is beautiful
Während die Vertreter der PC-Spielebranche vor dem jährlichen Weihnachtsoverkill laut über das drohende Ende der Plattform jammern, blasen Einzelkämpfer frischen Wind in den Markt: "World of Goo" ist jetzt schon eines der besten Spiele 2008
In Zeiten, in denen der rigide Kopierschutz beim vermeintlich größten Titel des Jahres, „Spore“, die Kunden so sehr auf die Barrikaden trieb, dass sich EA dazu gezwungen sah, stückweise davon abzugehen, und andere Publisher wie Crytek anlässlich des Starts der lauen „Crysis“-Draufgabe „Crysis: Warhead“ den potenziellen Käufern angesichts weltweiter Piraterie die Rute ins Fenster stellten, nur mehr für Konsolen zu produzieren, falls das Spiel wie das Original massenhaft raubkopiert würde, scheint wieder einmal der Untergang der Spieleplattform PC nahe. Zumindest prophezeien das Industrievertreter – allerdings, wie man dazu anmerken muss, tun sie das schon seit Jahrzehnten.
Zugleich schaffen es die großen Publisher auch dieses Jahr wieder nicht, all ihre im Vorfeld ausgiebig gehypten Spieletitel für die nach wie vor größte Spieleplattform zu vernünftigen Zyklen in die Läden zu bringen. War der Sommer wie üblich von einer ausgesprochenen Spieledürre gekennzeichnet, so werden in den wenigen Wochen vor Weihnachten geschätzte drei Viertel aller großen Titel fast gleichzeitig auf den Markt geworfen: „Fallout 3“, „Far Cry 2“, das WoW-Addon „Wrath of the Lich-king“, „Left 4 Dead“, „FEAR 2, „Call of Duty: World at War“, „GTA IV“ und „Dead Space“ werden in den kommenden Wochen um die Gunst der Käufer buhlen – und diese Liste ist längst nicht vollständig. Dass die Käufer mit nur begrenztem Budget und endlichen Zeitressourcen ausgestattet sind und die Top-Titel dann nach wenigen Monaten verramscht werden, trägt abseits der Piraterie wohl am meisten dazu bei, dass das Geschäft der großen Softwareentwickler nicht so läuft, wie sie sich das vorstellen.
Kein Wunder, dass sich fernab dieser Hochglanzwelt eine neue Philosophie der Spielentwicklung etabliert hat. Da durch Internetvertriebssysteme wie Steam, die Konsolen-Marketplaces oder andere Downloadanbieter für viele kleine Independent-Programmierer der Weg zum Kunden kürzer und billiger geworden ist, entwickelt sich zunehmend eine hochkarätige Spieleszene abseits der millionenschweren Etats und Messestände.
Independent-Spiele wie „Aquaria“, „Audiosurf“ oder erst kürzlich „Braid“ (bislang nur für XBox erhältlich) setzen auf kleine Preise um die 20 Dollar, Vertrieb über das Internet und eine Liebe zum Detail, die den Großen oft schmerzlich fehlt. Mit World of Goo steht seit kurzem ein Paradebeispiel für die Tugenden der florierenden Independent-Games-Branche zum Download auf verschiedenen Plattformen bereit. Die unglaubliche Liebe und Hingabe zu diesem von den zwei Einzelkämpfern 2D Boy realisierten Projekt hebt „World of Goo“, erhältlich für PC und Wii, auf erfrischende Art und Weise von der Vielzahl der Titel dieses Jahres ab und braucht den Vergleich mit den Großen nicht zu scheuen. Detail am Rande: Wie bei Dwarf Fortress, aber auch etwa Mount & Blade trugen Fans schon während der Entstehungsphase des Spiels durch Vorabbestellungen zur Finanzierung des ambitionierten Zweimannprojekts bei – eine Einstellung vieler Spielefreunde, die den Untergangspropheten der großen Industrie zu denken geben sollte.
Das Konzept des Puzzlers mit Knuddelfaktor und cleverem Physikmodell wurde bereits vor Jahren von den Entwicklern 2D Boy im Rahmen des Experimental Gameplay Project in ihrem als Freeware erhältlichen Experiment „Tower of Goo“ erprobt. Durch das geschickte Platzieren kleiner, schleimiger Cartoonbällchen werden immer komplexere Strukturen errichtet, die sich Schwerkraft, Elastizität und anderen physikalischen Hemmnissen widersetzen sollen. Wie beim in Suchtfaktor und Niedlichkeit ähnlichen Urvater „Lemmings“ soll in „World of Goo“ durch diese Konstruktionsaufgaben eine festgelegte Anzahl der Goos zum Levelausgang befördert werden. Was simpel klingt, erweist sich im Verlauf der liebevoll gezeichneten und intelligent und abwechslungsreich durchdachten Levels als trickreiches Unterfangen, das dem Spieler mit jeder Runde neue Improvisationskünste abverlangt.
Zu leicht ist „World of Goo“ nicht geraten, doch der langsam ansteigende Schwierigkeitsgrad bietet jederzeit das genau richtige Verhältnis zwischen Motivation und Herausforderung, führt langsam verschiedene Typen von knuddeligen Schleimbällchen mit neuen Eigenschaften ein und stellt immer überraschende neue Aufgaben. Vom Puzzledesign her stellt „World of Goo“ sowohl Anfänger wie auch Profis vor spannende Aufgaben, die jedes Mal neue Herangehensweisen erfordern.
Überhaupt sieht man „World of Goo“ auf jeder Ebene an, dass es ein Kind der Liebe ist, wie die Väter in einem Interview voll Stolz bestätigen. Die Grafik zitiert stilvoll Tim Burton und Games-Legende Tim Schafer und verweist auf originelle Weise auf jüngere Spieldesign-Größen wie „Loco Roco“ oder „Patapon“, das Sounddesign überrascht mit wunderbarem Score und stets unterhaltsamen Soundeffekten und auch Menüs, Zwischensequenzen und statische Screens erfreuen durch Stimmigkeit, Humor und Stil.
Hinter dem geheimnisvollen Menüpunkt „World of Goo Corporation“ verbirgt sich ein Online-Spielplatz, in dem man mit erspielten Goos im Freistil Türme errichten und sich weltweit mit anderen Spielern messen kann; eine nette Draufgabe, allerdings fehlt ein Editor, der den Levelnachschub nach Beendigung der Kampagne sichern würde. Diese ist nicht zu kurz ausgefallen und motiviert auch nach erstmaligem Durchspielen mit Geheimnissen oder hoch gesteckten Bonuszielen, die die unweigerlich auftretenden Suchterscheinungen etwas lindern sollen.
„World of Goo“ beweist eindrucksvoll, dass die Vision zweier unabhängiger Programmierer ausreicht, um den millionenschweren Goliaths der Spielebranche mit Kreativität, Stil und Originalität entgegenzutreten – fast erscheint es wie ein Spiel aus einer anderen leider längst vergangenen Epoche. Zum Preis von circa 16 Euro – der durch das Vertriebsmodell überdies in hohem Ausmaß 2D Boy selbst zukommt – sollten sich auch Spieler ohne ausgeprägte Neigung zum Puzzlen dieses rundum geglückte Experiment nicht entgehen lassen. Es versteht sich von selbst, dass kein Highend-PC vonnöten ist, um eines der schon jetzt besten, weil in seiner Originalität und Ausführung einzigartigen Spiele des Jahres 2008 zu erleben – bevor die Weihnachtsschwemme vor schwierige Entscheidungen stellt.
Video zum Gameplay hier:
www.gametrailers.com