So haben wir die Putschisten in Bolivien abgewählt

Ex-Botschafter Arispe: "Der Apartheid gleichendes System überwunden" (Bildquelle: cancilleria.gob.bo)

Gastkommentar des Ex-Botschafters von Bolivien in Deutschland über die Rückkehr des Landes zur Demokratie. Und wie sich die linke Partei MAS verändert hat

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Es ist fast ein Jahr her, dass der Oberkommandeur der bolivianischen Streitkräfte einer Senatorin mit dem Namen Jeanine Añez die Präsidentschaftsschärpe umgelegt hat. Ihre Inthronisierung als Interimspräsidentin war zwischen einigen Lokalpolitikern mit geringer demokratischer Legitimität, ausländischen Botschaftern und der katholischen Kirche ausgehandelt worden. Die Zeremonie sollte legitimieren, was kurz zuvor geschehen war: Die Streitkräfte hatten dem bis dahin amtierenden Präsidenten Evo Morales den Rücktritt "nahegelegt" und damit nach landläufigem Verständnis einen Putsch durchgeführt.

Beachtlich war, dass die zeremonielle Amtsübergabe im Parlamentsgebäude hinter verschlossenen Türen stattfand. Den Abgeordneten von Morales‘ Partei, der Bewegung zum Sozialismus (MAS), wurde der Zugang versperrt. Die MAS stellte damals zwei Drittel aller Abgeordneten und war aus den Präsidentschaftswahlen mit 63 Prozent als klare Siegerin hervorgegangen. Die Amtsübernahme durch Áñez war eine schlecht inszenierte Show, mit der nach einem angeblichen Wahlbetrug ein demokratischer Übergang vorgegaukelt werden sollte.

Nur drei Tage nach diesen selbst für Bolivien seit Jahrzehnten ungewohnten Ereignissen eröffneten die Streitkräfte das Feuer auf Teilnehmer eines Protestmarsches im Bundesstaat Cochabamba. Elf Zivilisten wurden getötet, mehr als 120 verletzt. Alle offiziellen Berichte über diese Ereignisse bestätigen, dass es sich bei den Todesopfern und Versehrten um Indigene handelte, während kein einziger Angehöriger der Armee verletzt oder getötet wurde. Vier Tage nach dem Massaker in Cochabamba wurden in La Paz erneut elf Zivilisten getötet und 72 verletzt. Auch hier zeigen alle Berichte, dass es sich bei den Toten um Indigene handelte; auch hier wurden keine Mitglieder der Streitkräfte verletzt oder kamen gar ums Leben.

So war erneut ein bolivianischer Staat mit einem der Apartheid gleichenden System entstanden. Ein Staat, der eine soziale Klasse privilegierte, die seit der Gründung Boliviens die Tradition der Clanherrschaft bewahrt und der indigenen Bevölkerung die Brosamen überlassen hatte. Die Indigenen mussten erneut als Zuschauer der politischen Sphäre die harten Konsequenzen einer Wirtschafts- und Sozialpolitik tragen, die Bolivien die im regionalen Vergleich niedrigste Lebenserwartung und den niedrigsten Index menschlicher Entwicklung bescherte.

Elf Monate nach alldem, Anfang Oktober 2020, sagten einige Umfrageunternehmen voraus, dass bei den ersten Wahlen nach dem Umsturz Carlos Mesa, der Spitzenkandidat der Koalition gegen die Partei von Evo Morales, in einer Stichwahl gewinnen würde. Nach dem bolivianischen Wahlgesetz wird ein zweiter Wahlgang notwendig, wenn ein Präsidentschaftskandidat weder 50 Prozent der Stimmen noch 40 Prozent der Stimmen bei einer Differenz von mindestens zehn Prozent zum nächstgelegenen Anwärter auf das höchste Staatsamt erreicht.

Mesa, ein Vertreter der gesellschaftlichen Elite, der stets stolz hervorhebt, dass drei seiner vier Großeltern europäischer Herkunft waren, konnte sich laut dieser Umfragen mit 28 Prozent auf dem zweiten Platz wähnen, sechs Punkte hinter Luis Arce, dem Kandidaten der MAS. An dritter Stelle lag in diesen Prognosen mit angeblich 17 Prozent Luis Camacho, ein Vertreter der agroindustriellen Wirtschaft im Amazonasgebiet, wo eine Handvoll Familien 80 Prozent des fruchtbaren Landes kontrollieren.

Springen wir auf den 18. Oktober dieses Jahres vor, den vergangenen Sonntag. Zum neuen Präsidenten Boliviens wurde Luis Arce gewählt. Er war lange Jahre Chef des Wirtschaftsressorts unter Evo Morales und wird als einer der besten Wirtschaftsminister Lateinamerikas gepriesen. Laut Nachwahlumfragen konnte sich Arce gegenüber Carlos Mesa mit einem Vorsprung von mindestens 20 Prozent durchsetzen. Aus diesen Wahlen wird die MAS demnach mit mindestens 53 Prozent hervorgehen. Vielleicht sogar mehr, wenn man bedenkt, dass später ausgezählte Stimmen aus ländlichen Gebieten und den Siedlungen außerhalb der Städte tendenziell der MAS zufallen. Zudem ist die MAS inzwischen mehr als eine Ein-Mann-Partei in den Händen des Ex-Präsidenten Evo Morales. Es ist die wichtigste politische Partei in der Geschichte Boliviens.

Wie aber ist das Scheitern der anderen Parteien bei diesen Wahlen zu erklären?

Bolivien wurde aufgrund der COVID-19-Pandemie eine mehr als 150 Tage währende Quarantäne auferlegt, eine der strengsten Maßnahmen dieser Art auf dem südamerikanischen Kontinent. Internationale Institutionen sprachen von einer der weltweit am schlechtesten Krisenreaktionen einer Regierung. All dies fand statt, obwohl die Regierung von Jeanine Añez den alleinigen Auftrag hatte, Neuwahlen einzuberufen und nur für dieses Ziel internationale Unterstützung erhielt.

Tatsächlich aber traf ihre Regierung eine Reihe politischer Entscheidungen, die weit über ihr Mandat hinausgingen und einer offen politische Agenda folgten: Sie schloss Botschaften in Nicaragua und im Iran, sie unterzeichnete Strukturverträge zwischen der nationalen Erdölgesellschaft Boliviens und der brasilianischen Erdölgesellschaft Petrobras, die die bolivianische Wirtschaft in den nächsten sechs Jahren beeinträchtigen werden, und sie rief ohne parlamentarische Genehmigung einen Kredit des Internationalen Währungsfonds ab, wodurch die Verwendung dieser Mittel verfassungswidrig ist.

Dies und eine Reihe weiterer rechtswidriger Handlungen haben das wahre Ausmaß der politischen Agenda der nun abgewählten Führung enthüllt. Sie vertiefte die soziale Spaltung zwischen einer Minderheit und der indigenen Bevölkerung, die als Wilde, als Unregierbare diffamiert wurden. Die Demonstranten gegen die Führung wurden pauschal als "Drogenterroristen" bezeichnet, was zu der Schaffung eines neu gearteten Apartheidsystems beitrug.

Auch die Forderung der Übergangsregierung nach einer Verfassungsreform waren klarer Ausdruck einer politischen Strömung, die den Weg zurück zu einer republikanischen Staatsform bereiten wollte. Ziel war, mit dem plurinationalen Staat zu brechen, der einen Verfassungsrahmen für die Gleichheit aller Bevölkerungsgruppen und den Respekt gegenüber der bäuerlichen und indigenen Bevölkerung sicherstellt.

Im Kontext der Corona-Krise spielten die tiefgreifenden Fehler und die mangelnde Verantwortung dieser Regierung bei der Beschaffung von Krankenhausbedarf und bei der logistischen Unterstützung des bolivianischen Gesundheitssystems eine wichtige Rolle. Zugleich wurden umgerechnet knapp 61 Millionen Euro für das Militär bewilligt. Staatliche Zuwendungen an die Bevölkerung knüpfte Áñez aber an die Bedingung, dass das Parlament einem Kredit des IWF zustimmt, wodurch Bolivien seiner Souveränität beraubt worden wäre.

Einem großen Teil der bolivianischen Bevölkerung - mindestens 70 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in der informellen Wirtschaft als Tagelöhner - wurden in den 150 Tagen pro Person umgerechnet nur gut 61 Euro (500 Bolivianos) zur Verfügung gestellt, um die strenge Quarantäne zu überleben. Zudem führte die mehrfache Verschiebung der Wahlen durch die zuständige Behörde zu Protesten und Blockaden im gesamten Land. Die Añez-Führung drohte die Pandemie zu ihrem Machterhalt auf unbestimmte Zeit zu nutzen. In Umfragen sprachen sich derweil 85 Prozent der Bevölkerung für möglichst rasche Wahlen aus.

Die am Sonntag unterlegene Parteienkoalition wurde letztlich zum Verhängnis, dass sie für keinen glaubwürdigen Neuanfang stand. Luis Arce und David Choquehuanca, künftiger Präsident und Vizepräsident, haben indes unter Beweis gestellt, dass die MAS nicht länger eine Ein-Mann-Partei ist, sondern eine eigenständige politische Struktur. Es ist ihr gelungen, inmitten einer der schwersten Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahrzehnte eine neue politische Führung zu etablieren. Der Dank aber gilt dem bolivianischen Volk für seine politische Reife und sein Votum.

Sergio Arispe Barrientos ist als Rechtsanwalt auf Verwaltungs- und Umweltrecht spezialisiert. Als Diplomat hat er Bolivien gegenüber der UN vertreten; er war zudem an der UN-Klimakonferenz in Paris beteiligt. Arispe Barrientos kam kurz vor dem Putsch gegen die Regierung Morales als Botschafter nach Deutschland. Vor der Akkreditierung rief das De-facto-Regime ihn ab.