"So schlimm war es noch nie"

Das "Jahrhunderthochwasser" lag deutlich unter den Pegelständen früherer Überschwemmungen. Bild: Daniel Schwandt

Katastrophenwahrnehmung, Alarmismus und Aktionismus

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Die Gegenwart, an der wir teilhaben, erscheint uns immer als eine besondere Zeit. Somit ist es nicht verwunderlich, dass seltene (Natur)Ereignisse vorrangig vor dem Kontext unserer eigenen Erfahrungen eingeordnet werden. Entsprechend sind die Ereignisse außergewöhnlich und werden mit Superlativen "am schlimmsten / größten / gewaltigsten" bedacht. Direkte Betroffenheit oder das Miterleben im persönlichen Umfeld steigern diese Wahrnehmung noch.

Ereignisse, die frisch im Gedächtnis sind, erscheinen gewaltiger als Ereignisse, die lange her sind, da in der Erinnerung vieles verblasst. Ausgenommen davon sind Erlebnisse, die man als Kind aus einer anderen Perspektive gemacht hat: Für ein Kind reicht eine Schneedecke von 50 cm bis zum Bauch (Gehen ist kaum noch möglich), für einen Erwachsenen jedoch nur bis zum Knie (Gehen ist erschwert).

Auch Journalisten können sich der allzu menschlichen Einordnung von Ereignissen nicht entziehen und stellen das Ungewöhnliche, Einzigartige eines Ereignisses besonders heraus, um in der Nachrichtenflut aufzufallen.

So wurden die Rheinhochwasser 1993 und 1995, das Oderhochwasser 1997, das Elbehochwasser 2002, sowie das Elbe- und Donauhochwasser 2013 in den Medien als Jahrhundert-, Jahrtausend- oder auch Sintflut bezeichnet, ungeachtet der Tatsache, dass es im 19. und 20. Jahrhundert durchaus einige vergleichbare Hochwasserereignisse gab, zu denen auch Messwerte und Hochwassermarken existieren. Etwas mehr Recherche hätte da nicht geschadet. Dabei wäre vielleicht auch aufgefallen, dass die in früheren Jahrhunderten besonders schadensträchtigen Eisstau-Hochwasserereignisse in den durch Kühlwasser und Abwasser erwärmten sowie durch Salz und andere Stoffe belasteten Flüssen (der Rhein fror das letzte Mal 1963 zu) nicht mehr auftreten.

Hochwassermarken an einem alten Fachwerkhaus in Bernkastel-Kues an der Mosel (Foto: D. Schwandt). Die Markierung für das Eishochwasser 1784 liegt weit oberhalb der für das Weihnachtshochwasser 1993.

Beim Betrachten überfluteter Häuser und Straßen oder sturmgeknickter Bäume - live und in Sondersendungen- rieselt ein Schauer den Rücken herunter. Man ist froh, jetzt nicht dort zu sein. Eventuell empfindet man auch Mitleid mit den Betroffenen, überwiegend bricht sich aber die Sensationsgier Bahn - in höchster Vollendung beim Katastrophentourismus mit Selfie vor der Hochwasserschutzwand, aber auch schon vor über hundert Jahren als arrangiertes Foto auf dem Ausflugskahn in überschwemmten Straßen.

Rheinhochwasser in Neuwied, 1882/83. Bild: dilibri Rheinland-Pfalz/ CC BY-NC-SA 3.0

Mit zunehmender Entfremdung von der Natur führen die Existenz und die Entwicklung der Massenmedien zur Dramatisierung von Wetter- und Naturereignissen. Wenn bereits kleinere Ereignisse, bei denen der Fluss lediglich stellenweise über die Ufer getreten ist und vorsorglich die mobile Hochwasserschutzwand aufgebaut wird, einen überregionalen Nachrichtenwert haben, droht durch die Dauererregung der Medien eine Verschiebung der öffentlichen Wahrnehmung.

Der (erwartbar) erste Schnee im Oktober/November, vollgelaufene Keller und Tiefgaragen nach Gewittern, Sturmböen auf den Bergspitzen - alles ist gut für eine Schlagzeile und es verdichtet sich der Eindruck, dass es draußen gefährlich ist. So wird auch vom Deutschen Wetterdienst vor fast allen Wettererscheinungen in feiner Abstufung gewarnt: Wetterwarnungen, Warnungen vor markantem Wetter, Unwetterwarnungen und Warnungen vor extremem Unwetter. Es gibt wohl nur wenige Nächte, in denen ganz Deutschland friedlich und ungewarnt schlafen kann.

Nichts gegen Warnungen, eine frühzeitige zutreffende Warnung vor Extremwetter und Hochwasser kann Schäden verhindern und Leben retten. Wenn jedoch ständig vor etwas gewarnt wird, sollte es nicht nur ein abstraktes Gefahrenpotential haben, sondern tatsächlich über das allgemeine Lebensrisiko hinaus gefährlich sein. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zu den Todesursachen nach Unfallkategorien z.B. für das Jahr 2018 sprechen da eine andere Sprache: häusliche Unfälle (ca. 12 000 Tote) sind weit häufiger als Blitzschlag (5), Sturmkatastrophe (3), Lawine oder Erdrutsch (1), Exposition gegen übermäßige natürliche Hitze (21) oder Ertrinken/Untergehen nach Sturz in natürliches Gewässer (30). Demnach müsste in jeder Nachrichtensendung vor wackligen Leitern, kippligen Stühlen und rutschigen Fliesen gewarnt werden.

Mit der wirklichen oder eingebildeten Gefahr lässt es sich leichter umgehen, wenn man etwas dagegen tun kann. Das gemeinsame Füllen und Stapeln von Sandsäcken gegen die Flut schafft ein Gemeinschaftsgefühl und ist wirklich hilfreich. Leider gibt es auch blinden Aktionismus, der nicht zur Gefahrenabwehr beiträgt und somit weitgehend nutzlos ist, zum Teil sogar neue Gefahren erzeugt. So kann das sofortige Auspumpen von durch Hochwasser vollgelaufenen Kellern die Gebäudestabilität gefährden, da der Außendruck des ansteigenden Grundwassers durch das im Keller stehende Wasser kompensiert wird. Als schnelle Maßnahme wird nach Hochwasserereignissen zuweilen großflächig der Bewuchs entlang der Gewässer abgeholzt, um das Abflussprofil freizuhalten. An Engstellen bewirkt das eine lokale Reduzierung der Hochwasserscheitel und ist sinnvoll. Bei breiten Abschnitten ist der Effekt minimal. Den Hauruck-Aktionen ist vorzuwerfen, dass dort wohl die notwendige regelmäßige Gehölzpflege vernachlässigt wurde. Außerdem ist ein Fluss nicht nur eine Flutrinne für das Wasser, sondern ein Lebensraum, der natürlicherweise von Auen/Auwäldern eingefasst ist.

Die permanente mediale Schilderung fast jeglichen Geschehens als Katastrophe entwertet den Begriff. Mit einer (willkürlichen) Verkürzung des Vergleichszeitraums lässt sich ein gewöhnlicher Ebbe / Flut-Gezeitenzyklus an der Nordsee zur höchsten Flut seit 12 ½ Stunden aufbauschen. Für einen sinnvollen Vergleich von (Natur)Ereignissen sind lange Vergleichszeiträume (Jahrhunderte) angemessen. Bei so einem Vergleich fällt dann häufig auf, dass vieles schon dagewesen ist und einige vergangene Ereignisse das aktuelle Geschehen weit in den Schatten stellen.

Dies betrifft übrigens nicht nur Naturereignisse, sondern auch die derzeit vielbeachteten Seuchen bzw. Epidemien. So starben bei einem der letzten Pestausbrüche im Ostseeraum in der Hansestadt Stralsund von August 1710 bis März 1711 etwa 30% der Bevölkerung (3609 Tote vgl. Zapnik, 20071) - ein himmelweiter Unterschied zur Zahl der von März bis Oktober 2020 mit bzw. am Coronavirus Gestorbenen im gesamten Landkreis Vorpommern-Rügen (in dem Stralsund liegt): 2.

Autor: Daniel Schwandt, Koblenz dschwandt_privat@gmx.de

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