So steht es um Recht und Gerechtigkeit in der Corona-Krise

Diesjähriger Grundrechte-Report greift viele Missstände auf. Keine grundsätzliche Kritik an Maßnahmen gegen Pandemie. "Querdenker" dürften enttäuscht sein

Der diesjährige "Alternative Verfassungsschutzbericht", wie der Grundrechte-Report zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland auch genannt wird, dürfte weder den Regierenden noch der "Querdenker"-Bewegung gefallen. Letztere hat manche Grundrechtsverletzungen, die hier festgestellt werden, gar nicht auf dem Schirm - denn die herausgebenden Bürger- und Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass das Coronavirus eine Gefahr darstellt, vor der nicht alle vulnerablen Gruppen hinreichend geschützt wurden.

Allerdings werden in dem am Mittwoch veröffentlichten Report auch pauschale Versammlungsverbote zu Beginn der Pandemie und manche Quarantänemaßnahmen kritisiert. Im Zusammenhang mit der "Corona-Warn-App" wird vor "einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Gewöhnung an Contact-Tracing" gewarnt, auch Datenschutzfragen werden aufgeworfen. Die beteuerte Freiwilligkeit der App-Nutzung könne sich schnell als Illusion herausstellen - so sei vorstellbar und auch schon diskutiert worden, die Nutzung der App zur Bedingung für die individuelle Lockerung von Ausgangsbeschränkungen zu machen, heißt es in dem Report, der den Zeitraum bis Ende 2020 behandelt. Die Debatte um exklusive Lockerungen für Geimpfte kommt dementsprechend noch nicht vor.

Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Artikel 2 Absatz II des Grundgesetzes war nach Ansicht der Organisationen vor allem für medizinisches Personal, für Beschäftigte der Fleischindustrie und für Asylsuchende stark eingeschränkt.

„Einschränkungen von Grundrechten treffen meist die schwächsten und vulnerabelsten Gruppen in unserer Gesellschaft. Sie können sich am wenigsten dagegen wehren. Ungleiche Rechte spiegeln daher auch den strukturellen Rassismus in diesem Land", unterstrich Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität Berlin, bei der Vorstellung des Reports am Mittwoch. Das Vorwort ist mit "Ungleiche Freiheiten und Rechte in der Krise" überschrieben.

Zwölf-Stunden-Schichten im Gesundheitswesen

Die anfangs beklatschten Heldinnen und Helden der Corona-Pandemie seien schlussendlich von der Politik im Stich gelassen worden, heißt es im Kapitel "Applaus, und sonst? Die Zumutungen der Corona-Krise für die Beschäftigten im Gesundheitssektor". Statt sie vor der Infektionsgefahr besonders zu schützen, seien Arbeits- und Infektionsschutz gelockert und ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt worden - dies sei auch ein Verstoß gegen das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen gemäß Artikel 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Wegen des Mangels an Schutzkleidung, Desinfektionsmitteln und Atemschutzmasken sei die Infektionsgefahr für diese Berufsgruppe besonders hoch gewesen. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) waren allein bis Mitte Dezember 2020 mehr als 34 000 Beschäftigte aus Krankenhäusern, Arztpraxen, Dialyseeinrichtungen und Rettungsdiensten an Covid-19 erkrankt. Auch überlange Schichten hätten die Gesundheit der Beschäftigten gefährdet - dabei sei eine flächendeckende Verlängerung der Arbeitszeit in vielen Krankenhäusern gar nicht nötig gewesen.

Während in einigen wenigen "Corona-Schwerpunkt-Regionen" eine hohe Belastung der Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen sowie von Laboren zu beobachten war, sei die Lage in vielen anderen Einrichtungen noch weit vom Ausnahmezustand entfernt gewesen. Einige Einrichtungen hätten die Lockerung des Arbeitsschutzes genutzt, "um den alltäglichen, ganz unabhängig von der Corona-Pandemie bestehenden Personalmangel durch Zwölf-Stunden-Schichten zu kompensieren". Private Krankenhausträger wie Helios oder Asklepios hätten wiederum versucht, Kurzarbeit zu beantragen, um Personalkosten einsparen zu können.

Fleischfabriken: Kapitalinteressen vor Gesundheit

Auch deutschen Fleischfabriken seien "Kapitalinteressen über die Gesundheit von Beschäftigten gestellt" worden. Untergebracht würden die zumeist osteuropäischen Beschäftigten häufig in Sammelunterkünften, mit mehreren Menschen in einen Raum und unter unzumutbaren hygienischen Bedingungen. Die Bundesregierung, so die Einschätzung der Autoren, sah sich durch den öffentlichen Druck nach den Corona-Massenausbrüchen in mehreren Schlachtbetrieben "gezwungen", das neue Arbeitsschutzkontrollgesetz zu erarbeiten.

Geflüchtete: "Die Exekutive hatte sie vergessen"

"Wer im Bereich Flucht und Asyl tätig ist und mit Beginn der Pandemie in Deutschland die ersten Corona-Schutzverordnungen durchlas, stellte fest: Regelungen zu Unterkünften von Geflüchteten fehlten. Die Exekutive hatte sie vergessen", heißt es in dem Report. Da aber Asylsuchende verpflichtet sind, in Sammeleinrichtungen zu leben, lag es in der Hand der Betreiber, Hygienemaßnahmen zu veranlassen - und beispielsweise zu versuchen, in einem Lager mit 300 bis 500 Menschen Mindestabstände von 1,5 Metern durchzusetzen.

Statt die Unterkünfte aufzulösen und Geflüchtete anderweitig unterzubringen, seien sie immer wieder unter Kollektivquarantäne gestellt worden - "ein starker Eingriff in das Recht auf Freiheit aller dort Untergebrachten und auch in das Recht auf Gesundheit nach Artikel 2 Absatz 2 GG". Da die noch nicht erkrankten Menschen nicht ausreichend geschützt würden, komme es in einer Kollektivquarantäne meist zu neuen Infektionen - was wiederum zur Verlängerung der Quarantänemaßnahme führe. In diesem Zusammenhang sprechen die Organisationen in dem Report von strukturellem Rassismus.

Generalverdacht und stigmatisierende Razzien

Institutioneller Rassismus spielte 2020 laut Grundrechte-Report auch auf Problemfeldern unabhängig von der Corona-Pandemie weiterhin eine Rolle. Nach den rassistischen Morden vom 19. Februar 2020 in Hanau - unter anderem in einer Shisha-Bar - sei nur "für eine sehr kurze Zeit" kritisch über stigmatisierende Razzien in Shisha-Bars und das Konzept der "Clankriminalität" diskutiert worden. Im Mai 2020 habe dann die Berliner Polizei in der "Jahresbilanz 2019 zur Bekämpfung der Clankriminalität" offen ausgesprochen, welche Bevölkerungsgruppe sie als besonders kriminalitätsaffin betrachte.

Damit habe sie offensiv rassistische Weltbilder verteidigt, wird im entsprechenden Kapitel kritisiert. Im Originalton der Berliner Polizei liest sich das so: "Der Phänomenbereich ist von einer in weiten Teilen der arabischstämmigen Community bestehenden Parallelgesellschaft geprägt und geht einher mit einer mangelnden Akzeptanz oder sogar Ablehnung des in Deutschland vorherrschenden Werte- und Normensystems."

Einen Verstoß sehen die Autoren hier gegen Artikel 3 Absatz III des Grundgesetzes. Dort heißt es zur Zeit noch, dass niemand "wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden" darf. Der Begriff "Rasse" soll demnächst gestrichen werden - stattdessen soll ein Verbot von Diskriminerung "aus rassistischen Gründen" formuliert werden.

Mörderischer Antisemitismus und undifferenzierte Debatten

Auch Antisemitismus und der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland sind ein Thema im Grundrechte-Report. Im Kapitel "Kein Schlussstrich nach dem Halle-Prozess" wird die Rolle der Sicherheitsbehörden vor und nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 kritisch beleuchtet. "Wie konnte es sein, dass das Landeskriminalamt (LKA) Sachsen-Anhalt die Gefährdungslage falsch einschätzte, obwohl die jüdische Gemeinde mehrfach um Schutz gebeten hatte? Die Anfragen waren nicht gehört bzw. von den zuständigen Stellen nicht ernst genommen worden", so das Fazit. Letztendlich waren die anwesenden Jüdinnen und Juden nur durch die schwere Tür des Gebetshauses einem Massaker entgangen, während der Attentäter draußen zwei Zufallsopfer erschoss.

Im Kapitel "Streit um BDS - Israel-bezogener Antisemitismus und Meinungsfreiheit in der deutschen Nahost-Debatte" wird die Frage aufgeworfen "ob es zu einer effektiveren Antisemitismus-Bekämpfung beiträgt, die Nahost-Debatte mit rechtsförmigen Ausschlüssen und sicherheitsbehördlichen Maßnahmen zu regulieren". Gemeint ist die Auseinandersetzung über den Umgang mit der gegen den Staat Israel gerichteten Kampagne "Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen" (BDS) und mutmaßlich dieser Bewegung nahestehenden Personen.

Mit Verfahren gegen Kommunen, die BDS-nahe Personen von öffentlichen Einrichtungen wie Veranstaltungsräumen ausschließen wollten, waren in den letzten Jahren mehrere Verwaltungsgerichte befasst, etwa in Niedersachsen und Hessen. "Klärend im Sinne der Bürgerrechte" könnte dabei laut Grundrechte-Report eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs von November 2020 wirken, wonach die Stadt München einen Saal für eine Podiumsdiskussion über den Umgang mit BDS zur Verfügung stellen musste.

Kritik an Berliner Neutralitätsgesetz

Widersprüchliche Aussagen gibt es im Grundrechte-Report zur Bedeutung des muslimischen Kopftuchs. "Richter:innen dürfen erkennbar teure Uhren tragen, alt oder jung sein, gepflegte oder ungepflegte Frisuren haben, ohne dass ihnen allein deshalb Parteilichkeit zugunsten sozialer Gruppen unterstellt werden darf. Nichts anderes kann für das Tragen eines Kopftuches gelten", heißt es einerseits. An anderer Stelle gibt dieselbe Autorin zu bedenken: "jedenfalls verweist das von Musliminnen getragene Kopftuch immer auf männliche Dominanz. Diese Positionen tragen Staatsbedienstete mit Kopftuch unabhängig von ihren Motiven mit in die staatliche Institution, in der sie arbeiten".

Im Endeffekt wird das Berliner Neutralitätsgesetz kritisiert und soll nach Meinung der Autorin zumindest zugunsten von Lehrerinnen und Rechtsreferendarinnen mit Kopftuch geändert werden. "Bis auch Staatsanwält:inen und Richter:innen mit Kopftuch politisch durchsetzbar sind, wird es noch dauern; wenigstens Rechtsreferendarinnen sollten die Länder aber die vollständige Ausbildung mit Kopftuch ermöglichen."

Nicht erörtert wird, ob Befangenheitsanträge von Angeklagten gerechtfertigt wären, wenn sie sensible Bereiche ihres Privatlebens vor einer Richterin ausbreiten müssten, die durch ein Kopftuch - oder auch ein Kreuz - eher konservative Moralvorstellungen signalisiert.

Scheitern der Paritätsgesetze als "Rückschlag" bewertet

Als "Rückschlag für Frauen auf dem Weg in die Parlamente" wird in dem Report bewertet, dass die Landesverfassungsgerichte in Thüringen und Brandenburg jeweils Paritätsgesetzen eine Absage erteilt haben. In Parlamenten sei weiterhin "eine merklich ungleiche Verteilung von Frauen und Männern festzustellen", obwohl sich der verfassungsrechtliche Förderauftrag zur Gleichberechtigung der Geschlechter auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beziehe.

Benachteiligung Ostdeutscher rechtlich schwer zu fassen

Ein weiteres Kapitel widmet sich der Schwierigkeit, die Benachteiligung Ostdeutscher rechtlich zu fassen, obwohl diese Gruppe auch "30 Jahre nach der Wiedervereinigung in den Eliten der Bundesrepublik dramatisch unterrepräsentiert" sei. Auch jenseits der hohen Posten in Justiz, Verwaltung und Wissenschaft sind Beschäftigte aus dem Osten einem höheren Diskriminierungsrisiko ausgesetzt als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Sie können sich aber nicht auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) berufen, da sie weder eine ethnische Gruppe sind noch eine einheitliche Weltanschauung teilen.

Der Grundrechte-Report 2021, erschienen bei S. Fischer Verlage, ist ein gemeinsames Projekt von:

Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav Heinemann-Initiative • Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen • Internationale Liga für Menschenrechte • Komitee für Grundrechte und Demokratie • Neue Richtervereinigung • PRO ASYL • Republikanischer Anwältinnen-und Anwälteverein • Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen • Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung • Gesellschaft für Freiheitsrechte

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