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Der 11. September 2001 löste gleich eine ganze Reihe Kettenbriefe aus. Ihr Erfolg basiert auf Emotionen, Gutgläubigkeit und fehlenden Informationen

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Äußerst beliebt waren Verschwörungstheorien. Kaum hatte sich der Rauch nach den Terroranschlägen in New York und Washington gelegt, verbreiteten sich die ersten Kettenmails rund um den Globus. Nostradamus, hieß es in einer, habe die Anschläge vor Hunderten von Jahren vorhergesagt, denn er schrieb: "Die Zwillinge, die auseinandergerissen werden/ die Festung, die standhält/ und wenn die große Stadt in Flammen liegt/ beginnt der dritte große Krieg." Das klang hinreichend mysteriös, um für eine enorme Verbreitung des Vierzeilers zu sorgen. Mysteriöser noch wurde die Mail durch ihr Datum. Die Aussage des zweifelhaften Propheten war bisweilen auf 1654 datiert. Der Mediziner Michael de Nostre Dame starb jedoch schon 1566 in Salon-de-Craux.

Es sind mehrere Faktoren, die den Erfolg von Ketten- oder Lawinenmails ermöglichen. Der wichtigste ist Naivität, etwa in dem Fall von versprochenen Prämien, die bei Weiterleitung per Scheck ins Haus flattern (was der anonyme Absender natürlich erst selber nicht glauben wollte, bis er das Geld tatsächlich erhalten habe). Die österreichische Seite Luzifer.at hat nachgerechnet:

Wenn nur zwei von 20 Adressaten die Mail binnen eines Tages weiterschicken, sind das nach 14 Tagen 2 hoch 14, also 16384 Endempfänger - insgesamt also 32.767 Empfänger. Wenn beispielsweise Microsoft angeblich eine Rendite von 24.800 US-Dollar (authentisches Beispiel) versprochen hat, macht das für alle Teilnehmer eine Gesamtsumme von 406.310.800 US-Dollar aus.

400 Millionen Dollar für eine Werbekampagne, auf die gerade mal die Bevölkerung einer Kleinstadt reagiert? Aber auch quantitativ geht die Rechnung kaum auf. Geht man davon aus, dass jeder vierte der je zwanzig Adressaten die Mail weiterleitet, würde sie binnen zwei Wochen gut sechs Milliarden mal eine Inbox erreichen. Derzeit wird aber nur von gut 100 Millionen Usern weltweit ausgegangen. Dass nicht jeder hunderte Kopien der gleichen Mail erhält, zeigt, dass der Unsinn von der Mehrheit als solche erkannt und gelöscht wird. Trotzdem gibt es immer wieder erfolgreiche Massenmails.

Ein fast sicheres Mittel zum Erfolg ist das Spiel mit den Emotionen. Sei es ein sterbendes Kind, das sich Briefe wünscht, um ins Guiness-Buch aufgenommen zu werden, oder sein kleiner virtueller Leidensgenosse, der Knochenmarkspender sucht: Betroffenheit verleitet zu gerade der falschen Reaktion, die Nachricht weiterzuleiten. In die gleiche Kerbe schlagen Kettenmails, die auf politische Ängste der Menschen setzen. So wird in einer Kettenmail zur Unterzeichnung einer "Petition gegen den Krieg" aufgerufen. In einer deutschen Version, die den Autor unlängst wiederholt erreichte, wird das Dilemma deutlich:

"Die Vereinigten Staaten wollen den Krieg erklaeren. Wir befinden uns an einem Punkt extremen Ungleichgewichts auf der Welt der zu einem DRITTEN WELTKRIEG fuehren koennte. Wenn Du dagegen bist, schlaegt die UNO eine Petition gegen den Krieg vor um dieses tragische Ereignis zu verhindern."

387 Menschen - passagenweise waren User aus Norwegen, Texas, Südspanien und Deutschland gelistet - hatten diesen Text bereits "unterzeichnet". Sie hätten kritischer sein sollen. Welche UN-Organisation schlägt die Petition vor? Wo ist der Text der Petition zu lesen? Hier ist schließlich nur von der Absicht die Rede. Wem wird die Petition vorgelegt? Präsident George W. Bush oder sich selber? Und nicht zuletzt: Wem soll hier eigentlich der Krieg erklärt werden?

Dem Irak?! Würde man vermuten. Ist aber nicht so. Bereits kurz nach den Anschlägen in den USA listete Kai Ziemann die Mail auf seiner Sonderliste zum 11. September. Damals flutete eine erste Welle der Mail durchs Netz. "Gut gemachte Lawinenmails", schreibt Luzifer.at, "können sich binnen 36 Stunden über den ganzen Globus verbreiten." Sie würden statistisch betrachtet von jedem Empfänger alle 40 Minuten an zehn weitere Personen verschickt. Nach zwei Stunden sind 1.000 User "infiziert", nach vier Stunden eine Million. "Danach flacht die Kurve wegen der "Durchseuchung" stark ab", denn niemand sende eine Kettenmail zweimal, auch wenn er sie zwölfmal bekomme.

Anders bei der UN-Petitions-Mail. Ursprünglich im Hinblick auf den Afghanistan-Feldzug der USA verfasst, kehrte sie wegen ihrer herrlich banalen Formulierung beim drohenden Irak-Krieg gleich zurück, um erneut "tragische Ereignisse" zu vermeiden. Pech für die Vereinten Nationen. Im Washingtoner Informationsbüro der Organisation musste man das Konto unicwash@unicwash.org wegen Überlastung schließen. Die Macher reagierten prompt und ließen das Machwerk fortan der UN-Adresse inquiries@un.org zustellen.

Ob tatsächliche Kriegsangst oder im Gegenteil deren Missbrauch die Initiatoren der Petition motivert hat, vermag Albert Fuchs, Psychologe und Mitarbeiter des Informationsdienst Wissenschaft und Frieden, nicht beantworten. "Eher skeptisch stimmt mich jedoch, dass man offensichtlich mit einer Täuschung zu arbeiten versucht", sagte er auf Anfrage von Telepolis. Auch schlichte Uninformiertheit über das Funktionieren der UNO-Maschinerie mag Fuchs nicht ausschließen.

Die Vereinten Nationen haben bereits vor Jahren Internet-Petitionen als Mittel der politischen Arbeit ausgeschlossen. Schließlich kann ein Name mit Ortsbezeichnung aus dem Telefonbuch abgetippt sein und ist in keinem Fall juristisch wirksam. Ralf E. Streibl, Diplom-Psychologe an der Universität, weist auf einen zusätzlichen Umstand hin. Vorausgesetzt, die Menschen hätten tatsächlich Bedenken vor einer internationalen Zunahme der Gewalt, "ist es einfacher, sein Gewissen mit einem Knopfdruck zu beruhigen, als auf der Strasse zu demonstrieren oder anderweitig aktiv zu werden".