Soforthilfe-Chaos: Die Zerreißprobe
Bei Soforthilfen für Selbständige in der Corona-Krise herrscht zunehmend Chaos, politische Versprechen werden nicht eingelöst. Es droht eine Insolvenzwelle
Beeindruckende Milliardenpakete haben Bund und Länder geschnürt, um die Wirtschaft in der Corona-Krise zu unterstützen. Große Konzerne erhalten Kredite, das Kurzarbeitergeld für Arbeitnehmer wird verlängert und aufgestockt, Selbständige erhalten Soforthilfen, und auch die besonders in Mitleidenschaft gezogene Kulturbranche soll unterstützt werden.
So gut das in der Theorie alles klingt - in der Praxis hakt und hängt es. Hilfen kommen oft nicht dort an, wo sie gebraucht werden, sich ständig ändernde Regeln und Bedingungen verunsichern jene, die eigentlich Anspruch auf Unterstützung hätten, und nun hat NRW auch noch den Rückzahlungsprozess der Unternehmer-Soforthilfen gestoppt, weil sich deren Modalitäten mit den ursprünglichen Antragsvoraussetzungen widersprechen.
Das Versprechen von Wirtschaftsminister Peter Altmaier
Aus dem von Wirtschaftsminister Peter Altmaier vor Monaten abgegebenen Versprechen, niemanden hängen zu lassen, ist längst ein undurchschaubares Chaos von Zuständigkeiten und einer mehr als holprigen Umsetzung geworden.
Nordrhein-Westfalen Ende März 2020: Als klar wird, dass man im Kampf zur Eindämmung der Corona-Pandemie um einen partiellen Lockdown samt Geschäftsschließungen nicht mehr herumkommt, prescht die Landesregierung vor und stellt, noch bevor der Bund Nägel mit Köpfen gemacht hat, ein Formular ins Netz, über das Selbständige unkompliziert Soforthilfen beantragen können, und zwar zwischen 9.000 und 25.000 Euro, je nach Größe des Betriebs und zur Überbrückung der kommenden drei Monate.
Die Kosten für private Lebensführung
Explizit steht in der Ausschreibung, dass die Gelder nicht nur zur Deckung von Betriebskosten, sondern auch für die private Lebensführung verwendet werden dürfen. Doch das Bundeswirtschaftsministerium stemmt sich dagegen, indem es verkündet, es werde Mittel zur privaten Lebensführung nicht übernehmen - diese müsse das Land selbst aufbringen. Offenbar bekommt man daraufhin in Düsseldorf kalte Füße - und der Passus verschwindet kommentarlos ausgerechnet am 1. April. Viele Betroffene können darüber gar nicht lachen. Ein Aprilscherz, ein schlechter.
Nun ist es juristisch zwar eindeutig - es gilt vertraglich, was zum Zeitpunkt der Antragstellung abgemacht und festgehalten war. Das heißt: Rein rechtlich darf jeder, der seinen Antrag vor dem 1. April gestellt hat, die bewilligten Gelder zur Lebensführung verwenden. Das Land NRW will davon allerdings nichts wissen, und eine verbindliche Antwort haben Betroffene bis heute nicht erhalten.
Chaos
Das ist nur eines von bundesweit unzähligen Beispielen für das Chaos, das rund um die Soforthilfen entstanden ist, deren Umsetzung von "unkompliziert" ziemlich weit entfernt ist. Dieses Chaos sowie weitere sich andauernd ändernde und widersprechende Regeln - auch zu der Frage, welche Hilfsmittel kombiniert werden dürfen und welche nicht - haben dafür gesorgt, dass eine Vielzahl anspruchsberechtigter Selbständiger erst gar keinen Antrag gestellt hat. Und das setzt sich fort.
Einige Beispiele:
• Da die Soforthilfen des Bundes in der ersten Runde nur für Betriebskosten verwendet werden durften (vereinzelte Bundesländer haben abweichende Lösungen installiert) wurden Selbständige zur Deckung der Lebensführungskosten auf das Arbeitslosengeld II verwiesen. Für Betroffene sollte es ein stark vereinfachtes Antrags- und Bewilligungsverfahren ohne Vermögensprüfung und mit voller Mietkostenübernahme geben. Das wurde politisch zugesagt. Doch nach Berichten von Betroffenen zeigte sich, dass viele Arbeitsagenturen die neuen Regelungen nicht umsetzten und zum Teil bis heute nicht umsetzen.
• Eigentlich soll das vereinfachte ALG II mit den Soforthilfen für Betriebskosten kombinierbar sein (anders geht es auch gar nicht, wenn die Soforthilfen zweckgebunden sind) - doch auch das funktionierte vielerorts nicht, weil Arbeitsagenturen die Hilfen auf das ALG II anrechneten, womit das ganze Konstrukt bei einigen Betroffenen in sich zusammenbrach.
• Anfangs hieß es, die Soforthilfen müssten nicht zurückgezahlt werden, was aber rasch wieder kassiert wurde. Nun muss bis September aufgerechnet werden: Wer wider Erwarten genug Einkommen generiert hat, um ohne staatliche Unterstützung klarzukommen, muss die erhaltenen Gelder bis Jahresende zurückzahlen.
Das ist legitim - doch im Kleingedruckten tauchen plötzlich Regeln auf, die es bei Antragstellung noch nicht gab: So dürfen einzelne Ausgabenposten Beträge von 800 Euro nicht übersteigen (was in manchen Branchen absolut unrealistisch ist), außerdem dürfen Personalkosten nicht geltend gemacht werden. NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart hat das Abrechnungsverfahren daraufhin gestoppt. Er will erst Klarheit vom Bund über diese strittigen Punkte.
• Umfragen haben ergeben, dass mehr als die Hälfte der bisherigen Soforthilfe-Empfänger die Mittel wohl ganz oder teilweise zurückzahlen müssen - was oft nicht daran liegt, dass sie so gut durch den Lockdown gekommen sind, sondern an unklaren Regelungen bei der Mittelvergabe.
• Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat derweil ein Hilfspaket in Höhe von 52 Millionen Euro zur Unterstützung der Kulturbranche aufgelegt. Das klingt nach viel Geld. Setzt man es als bundesweiten Topf in Relation zu den 105 Millionen Euro, die allein NRW den Künstlerinnen und Künstlern zukommen lässt, ist die Zahl aber bereits deutlich weniger beeindruckend.
Und auch hier übt der Kulturrat NRW Kritik an den Vergabemodalitäten: Die Hilfen und Stipendien, die aus dem Hause Grütters kommen, schließen offenbar gleich mehrere Kunstsparten aus. So heißt es beim Kulturrat:
"Das ist ein unbedachtes Vorgehen, das wir kritisieren. Der Fehler ist der gleiche, den die Bundesregierung schon zu Beginn der Staatshilfen in der Corona-Krise beging: Sie verzichtet auf ein planvolles und der Szene angemessenes Vorgehen, weil eingeschränkte Förderinstrumente bereits zur Verfügung stehen. Soloselbständige erhalten keine Wirtschaftshilfe, weil es ja schon die Jobcenter gibt, so wenig sie auch zur Kompensation von Einnahmeausfällen geeignet sind. Die Alte-Musik-Szene erhält keine Stipendien, weil es ja den Musikfonds gibt, als sei er ein Instrument für das ganze Musikleben, dabei hat seine Satzung für weite Teile des Musiklebens keine Relevanz."
Die Kulturbranche ist von der Krise besonders betroffen, da die wesentlichen Umsätze mit Publikumsveranstaltungen generiert werden - und diese sind bis auf Weiteres nicht oder nur extrem eingeschränkt durchführbar.
Die nun aufgrund von Unvernunft in der Bevölkerung und unkoordinierter und zögerlicher Politik wieder stark ansteigenden Infektionszahlen dürften, sofern nicht umgehend gegengesteuert wird, einen zweiten Lockdown unausweichlich machen. Und den werden viele Unternehmer und Selbständige nicht überstehen.
Wie geht es weiter?
Selbst mit den Soforthilfen sind viele in Schieflage geraten. Eine Insolvenzwelle gegen Jahresende wäre aber eine gesamtgesellschaftliche ebenso wie eine ökonomische Katastrophe, hängen doch an jedem kleinen Betrieb und auch an jedem Soloselbständigen weitere Unternehmen und damit Arbeitsplätze dran, die mit in die Tiefe gerissen werden.
Unterm Strich ist es eine simple Rechnung: Was ist teurer? Die Betroffenen jetzt so unkompliziert wie einst versprochen mit Geld zu versorgen und ihnen damit durch die Krise zu helfen - oder sie in die Pleite schlittern zu lassen, was nicht nur die Wirtschaftsleistung Deutschlands immens beeinträchtigen, sondern auch die Sozialkassen durch explodierende Ausgaben bei sinkenden Einnahmen auf Jahre hinweg einer Zerreißprobe aussetzen würde?