Soldatische Ethik und Atomwaffen: Was niemals legitim sein kann
Seite 2: "Himmelschreiender Anschlag auf die Menschheit"
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In jüngerer Zeit haben der Heilige Stuhl und der Papst persönlich die Debattenlage verschärft, indem sie im Einklang mit der überkommenen Lehre und mit Blick auf die veränderte Situation eine uneingeschränkte moralische Ächtung und ein völkerrechtliches Verbot aller Kernwaffen forderten. So erklärte der Heilige Stuhl 2014 in seinem ausführlichen Beitrag "Nukleare Abrüstung: Zeit für den Bann", die Strategie der nuklearen Abschreckung entbehre einer moralischen Grundlage (vgl. Deutsche Kommission Justitia et Pax 2019, S. 15).
Noch deutlicher wurde der Kurswechsel, als der derzeit amtierende Papst Franziskus im Jahr 2017 von der Auffassung seines obengenannten Amtsvorgängers abrückte und in einer Rede an die Teilnehmer am Internationalen Symposium zum Thema Abrüstung im November 2017 klarstellte, dass schon der Besitz von Atomwaffen unmoralisch sei. Wortwörtlich gab er dort zu Protokoll:
Die internationalen Beziehungen dürfen nicht von militärischer Macht, von gegenseitigen Einschüchterungen, von der Zurschaustellung des Waffenarsenals beherrscht werden. Vor allem atomare Massenvernichtungswaffen vermitteln lediglich ein trügerisches Gefühl der Sicherheit und können nicht die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Glieder der Menschheitsfamilie sein, das dagegen inspiriert sein muss von einer Ethik der Solidarität.
(Papst Franziskus, zitiert nach: Deutsche Kommission Justitia et Pax 2019, S. 14f)
Ein Jahr später, im November 2018, hat der Papst dann ausdrücklich begrüßt, dass die UN-Generalversammlung mit der Verabschiedung des Atomwaffenverbotsvertrags festgestellt hatte, "dass Atomwaffen nicht nur als unmoralisch, sondern auch als illegitimes Mittel der Kriegsführung zu betrachten sind". Wiederum ein Jahr später, während einer Apostolischen Reise nach Japan im November 2019, bekräftigte Franziskus sodann an den Orten der beiden Atombombenabwürfe im August 1945, Hiroshima und Nagasaki, seine päpstliche Friedensethik vor der gesamten Weltöffentlichkeit. Wörtlich bekundete er in Hiroshima:
Aus tiefer Überzeugung möchte ich bekräftigen, dass der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken heute mehr denn je ein Verbrechen ist, nicht nur gegen den Menschen und seine Würde, sondern auch gegen jede Zukunftsmöglichkeit in unserem gemeinsamen Haus. Der Einsatz von Atomenergie zu Kriegszwecken ist unmoralisch, wie ebenso der Besitz von Atomwaffen unmoralisch ist, wie ich schon vor zwei Jahren gesagt habe.
Wir werden darüber gerichtet werden. Die neuen Generationen werden unser Scheitern verurteilen, wenn wir zwar über Frieden geredet, ihn aber nicht mit unserem Handeln unter den Völkern der Erde umgesetzt haben. Wie können wir von Frieden sprechen, während wir an neuen, furchtbaren Kriegswaffen bauen? Wie können wir über Frieden sprechen, während wir bestimmte illegale Handlungen mit diskriminierenden und hasserfüllten Reden rechtfertigen?
(Papst Franziskus 2019)
Wenige Stunden zuvor hatte er in Nagasaki das Wettrüsten mit Atomwaffen als "himmelschreienden Anschlag" auf die Menschheit verurteilt und ein weltweites Aus von Massenvernichtungswaffen gefordert, denn die Welt lebe heute in der "abartigen Dichotomie, Stabilität und Frieden auf der Basis einer falschen, von einer Logik der Angst und des Misstrauens gestützten Sicherheit verteidigen und sichern zu wollen".
Der innere Gegensatz von Friedenssicherung durch die Drohung mit gegenseitiger Vernichtung "vergiftet die Beziehungen zwischen den Völkern und verhindert jeden möglichen Dialog. Der Frieden und die internationale Stabilität sind unvereinbar mit dem Versuch, sie auf der Angst vor gegenseitiger Zerstörung oder auf der Bedrohung mit "einer gänzlichen Auslöschung aufzubauen", so der Papst.
Er warnte die Politiker, dass Nuklearwaffen nicht vor Bedrohungen schützten. Man müsse die katastrophalen Folgen bedenken und aufhören, "ein Klima der Angst, des Misstrauens und der Feindseligkeit zu schüren, das von den Nukleardoktrinen befeuert wird. Zwingend erforderlich sei daher die vollständige nukleare Abrüstung: "Eine Welt in Frieden und frei von Atomwaffen ist das Bestreben von Millionen von Männern und Frauen überall auf der Erde".
Zerstörungsradien bei der Explosion einer SS-25 in deutschen Hauptstädten (16 Bilder)
In der Bundesrepublik Deutschland hat die katholische Kirche die vom Vatikan vorgegebene Lehrmeinung zur Nuklearwaffenproblematik stets loyal mitgetragen und nachvollzogen. Augenfällig kommt dies unter anderem im Hirtenwort "Gerechtigkeit schafft Frieden" von 1983 zum Ausdruck, in dem die Deutsche Bischofskonferenz zu dem Urteil gelangte, die Abschreckung lasse sich als Kriegsverhütungsstrategie moralisch vertreten, vorausgesetzt, die durch sie - gleichsam - erkaufte Zeit werde politisch genutzt, um das "Gleichgewicht des Schreckens" zu überwinden (Deutsche Kommission Justitia et Pax 2019, S. 8).
Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen und neuerer päpstlicher Äußerungen hat nunmehr auch die Deutsche Kommission Justitia et Pax diese Position einer kritischen Überprüfung unterzogen. Sie gelangt dabei zu dem Schluss, "dass die bisherige moralische Duldung der Strategie der nuklearen Abschreckung als Konzept der Kriegsverhütung aufgegeben werden muss". Daher "schließt sie sich der vom Heiligen Stuhl und Papst Franziskus vertretenen Auffassung an, derzufolge dieses Konzept der Friedenssicherung ethisch nicht länger verantwortet werden kann und die Atomwaffen völkerrechtlich geächtet werden müssen".
Als Gründe hierfür nennen die Autoren des Positionspapiers: die "unüberwindbare Instabilität des Abschreckungssystems", die "unaufhebbare Widersprüchlichkeit der Abschreckungsstrategie," die "Illusion der Wirkungskontrolle" sowie die "Illusion der Eskalationskontrolle". Konsequenterweise fordert die Kommission über die umfassende internationale Ächtung von Atomwaffen" hinaus eine "gemeinsame Abrüstung" dieser Waffensysteme.
Ethisch-moralischer "Eiertanz"
In der im Vergleich zur katholischen Kirche weitaus weniger zentralistisch-hierarchisch strukturierten protestantischen Kirche, stellte und stellt sich die moralisch-ethische Positionierung zur Nuklearwaffenproblematik noch weitaus ambivalenter als bei jener dar. Während einerseits im Rahmen der Ökumene die atomare Abschreckung abgelehnt wird, seit die VI. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983 und den folgenden Vollversammlungen, zuletzt in Busan 2013, sich darauf verständigt hatte, dass "[d]as Konzept der Abschreckung, dessen Glaubwürdigkeit von der Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen abhängt, (…) aus moralischen Gründen abzulehnen und nicht geeignet [ist], Frieden und Sicherheit langfristig zu sichern", moduliert die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hierzulande grosso modo lediglich ihre im Jahr 1959 in den "Heidelberger Thesen" formulierte Position.
Damals bereits wird der seither in Permanenz aufgeführte "ethisch-moralische Eiertanz" nur allzu deutlich, wenn es dort etwa heißt:
- "Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen" (These 6);
- "Die Kirche muß die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen" (These 8) oder
- "Für den Soldaten einer atomar bewaffneten Armee gilt: Wer A gesagt hat, muß damit rechnen, B sagen zu müssen; aber wehe den Leichtfertigen!" (These 9).
Ähnlich laviert das Forum "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" in seiner "Stuttgarter Erklärung" von 1978. Dort konstatieren die Autoren: "Die nukleare Abschreckung ist wegen ihrer Risiken und Kosten als Instrument der Kriegsverhinderung auf Dauer nicht geeignet. Ein Einsatz von Waffen, der unterschiedslos vernichtet und verwüstet, ist vor dem Gewissen eines Christen nicht zu rechtfertigen. Daraus erwächst die moralische Anfechtbarkeit einer Strategie, die auf Drohungen mit solchen Einsätzen nicht verzichten kann. Das darin liegende Dilemma kann nur aufgelöst werden, indem die Strategie der nuklearen Abschreckung so schnell wie möglich durch verlässlichere Strategien ersetzt wird" (Forum 1978).
Die aus dieser zutreffenden Erkenntnis eigentlich zwingend folgende Konsequenz, nämlich sowohl den Besitz als selbstredend auch jeglichen Einsatz atomarer Massenvernichtungswaffen kategorisch zu ächten, unterbleibt - im Gegenteil: 1984 gibt der Leiter des Evangelischen Kirchenamtes, Militärgeneraldekan Reinhard Gramm seine denkbar zynische Einsicht zu Protokoll, daß nämlich "A-Waffen … auch als Zuchtrute Gottes verstanden werden [können], die uns zwingen, nicht nur den Atomkrieg, sondern jeden Krieg selbst unmöglich zu machen" (Gramm 1984, S. 136).
Von derartigen theosophischen Aberrationen ist die 12. Synode der EKD mit ihrer jüngst am 13. November 2019 beschlossenen Kundgebung "Auf dem Weg zu einer Kirche der Gerechtigkeit und des Friedens" insofern deutlich abgerückt, als sie sich darin sowohl an den oben dargelegten unzweideutigen Festlegungen ihrer katholischen Glaubensbrüder orientiert als auch dem in der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Konsens einer völkerrechtlichen Ächtung der Atomwaffen anschließt.
Wörtlich lautet die "überfällige Positionierung der EKD" (Frey, 2020, S. 3):
Atomwaffen sind Massenvernichtungswaffen und eine existentielle Bedrohung des gesamten menschlichen Lebensraums. Schon die Friedensdenkschrift von 2007 betont, dass die ‚Drohung mit Nuklearwaffen nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung‘ betrachtet werden kann. Politisches Ziel bleibt deshalb ein Global Zero: eine Welt ohne Atomwaffen. Während dieses Ziel breiter Konsens ist, ist der Weg dorthin umstritten. Dennoch erscheint uns heute angesichts einer mangelnden Abrüstung, der Modernisierung und der Verbreitung der Atomwaffen die Einsicht unausweichlich, dass nur die völkerrechtliche Ächtung und das Verbot von Atomwaffen den notwendigen Druck aufbaut, diese Waffen gänzlich aus der Welt zu verbannen.
(Synode 2019, S. 6)
Dementsprechend erfolgt daher die Aufforderung an die Bundesregierung, konkrete Schritte zur Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrages einzuleiten. Zwar tritt die Synode der EKD mit ihrer Kundgebung nunmehr für ein völkerrechtlich kodifiziertes Atomwaffenverbot ein, dennoch impliziert diese Erklärung insofern einen gewissen "Rückschritt der Entwicklung von Friedenstheologie und Friedensethik" (Frey, 2020, S. 5), als darin die Problematik der nuklearen Abschreckung nicht einmal erwähnt wird, obwohl der Rat der EKD in seiner bereits 2007 entstandenen Denkschrift "Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen" geurteilt hatte:
Die Tauglichkeit der Strategie der nuklearen Abschreckung ist jedoch in der Gegenwart überhaupt fraglich geworden. Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden"
(EKD 2007, Ziffer 162)
Als Zwischenfazit der Analyse der Nuklearwaffenproblematik aus Sicht der kantischen Moralphilosophie sowie der christlichen Ethik lässt sich an dieser Stelle festhalten: Eine sicherheitspolitische Strategie, welche die potenzielle Vernichtung ganzer Gesellschaften oder der menschlichen Zivilisation insgesamt in Kauf nimmt, vermag kein legitimes Mittel zur Bewahrung von Freiheit und Frieden darzustellen.
Und jeder, der zur Stützung des gegenwärtigen Systems nuklearer Abschreckung auf der Basis wechselseitig gesicherter Vernichtungsfähigkeit in irgendeiner Form beiträgt - sei es der Politiker, der Soldat, der Wissenschaftler, der Journalist, der Steuerzahler - macht sich schuldig dadurch, dass er gegen die fundamentalen Prinzipien menschlichen und menschenwürdigen Miteinanders und gegen die Moralprinzipien reiner praktischer Vernunft verstößt.
Vorabversion - dieser Text ist ein Auszug eines längeren Beitrags zu dem Band des Arbeitskreises Militär und Sozialwissenschaften "Die Philosophie des Militärs", herausgegeben von Martin Elbe, der demnächst im Nomos-Verlag, Baden-Baden 2021, erscheint.
Für das Online-Format wurde er von Telepolis geringfügig redaktionell bearbeitet, mit Zwischenüberschriften und Links versehen.
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