"Solidarität statt Verschwörungstheorien"

Seite 2: Lala-Land oder Utopie

Als ich mich quer zur festgefahrenen und von allen Seiten gehaltenen Frontlinie stellte und einen wirklichen Lockdown (also einen Lockdown, der Arbeitswelt und Freizeitbereich einschließt) forderte, bekam ich aus dem Forum zwei bemerkenswerte Antworten: Ein Leser war ein wenig verzweifelt: "Die Querdenker meckern, die Wirtschaft ging kaputt. Wolf Wetzel meckert, dass man die Wirtschaft nicht kaputt macht. Recht machen kann man es sowieso niemandem."

Der zweite Leser wählte einen etwas höheren Aussichtsturm: Ja, klar geht es um Konzerninteressen und die Macht der Eliten, alles paletti. Aber jetzt müsse man sich, "wenn man einigermaßen gebildet und erwachsen ist, für das kleinste Übel entscheiden. Sich aus einer Fundamentalopposition heraus die Argumente zusammenzuklauben und zu verrühren, bis das eigene Lala-Land wie eine Konsequenz aussieht, ist pubertär und dumm".

Gerade in ihrer Genervtheit und Abfälligkeit treffen beide Antworten einen wunden Punkt, wenn nicht gar zentrale Schmerzpunkte, die fast in allen Diskussionen umschifft werden.

Während die Bundesregierung, die staatstragenden Medien, und viel zu viele Linke damit beschäftigt sind, die Corona-Regel-Verbrecher zu outen und sich gegenseitig um die Ohren zu schlagen (zuletzt waren es die Rodler auf Schneepisten, die doch tatsächlich im Freien ihren Spaß haben wollen), um die Schuldigen für das Scheitern des Lockdowns ausfindig zu machen, gehen dieselben - in aller Regel - ohne ein Mucks acht (und mehr) Stunden zur Arbeit, in geschlossenen Räumen, mit vielen Menschen zusammen - als wäre das mit Corona so abgesprochen.

Das hat etwas Groteskes und Absurdes: Da regen sich ganz viele darüber auf, dass im Planschbecken noch Leute schwimmen, schimpfen und überbieten sich mit Sanktionsgelüsten, während direkt daneben das Kampfschwimmbecken aus allen Nähten platzt und der Verstand dabei völlig untergeht.

"Gesundheit als oberste Priorität"

Der Leser hat dabei aber noch etwas auf den Punkt gebracht, was ganz viele wortlos hinnehmen, weil sie es als Selbstverständlichkeit längst verinnerlicht haben. In der Gesellschaft, in der wir leben, geht es nicht um unsere Gesundheit, um unser Wohl. Das haben wir längst geschluckt und akzeptiert. Die, die man als "Corona-Leugner" verspottet, nerven also gar nicht so sehr, weil sie medizinisch keinen blassen Schimmer haben, sondern weil sie tatsächlich ihr Leben, ihre Gesundheit zur obersten Priorität erklären, also das Versprechen der Bundesregierung beim Wort nehmen.

Damit torpedieren sie ein Stillschweigen, ein inneres Abfinden, das erst dann weh tut, wenn andere daran rütteln. Dass also gerade Linke so auf die Querdenker einschlagen, hat wenig mit deren abstrusen Ansichten zu tun, sondern damit, dass sie ihr Selbstbild ankratzen.

Das wird noch mehr greifbar, wenn es um die Kritik an den Corona-Maßnahmen geht. Viele Fortschrittliche und Linke akzeptieren die Corona-Maßnahmen, den Lockdown, auch und gerade in seiner absurden Dichotomie. Sie halten ein, machen mit, sie werden gelegentlich sogar zu Hilfspolizisten, wenn sie zum Beispiel ein Verbot der Querdenkerdemonstrationen fordern, da diese nicht die AHA-Regeln einhalten.

Dass sie auf diese Weise in der Tat "staatlicher als der Staat" agieren, bedarf keiner gedanklichen Verrenkung. Dass die Querdenker dabei und damit auf die Grundrechte und Schutzrechte verweisen, die sie verletzt sehen, die sie verteidigen wollen, macht die Linke rasend.

Nicht, weil das absurd ist, sondern weil sie der Linken den Spiegel vorhalten, in den sie nicht hineinschauen will: Wie kann man als Linke die Verteidigung der Schutz- und Grundrechte so dermaßen aufgeben! Wo bleibt das grundsätzliche Misstrauen der Linken gegenüber staatlichen Zwangsmaßnahmen, gegenüber einer Maximierung von Machtbefugnissen?

Anstatt sich dem zu stellen, eigene, bessere Antworten zu finden, stürzt sie sich mit Schwarmintelligenz auf ein vermeintlich grobes Foul, als Querdenker das neue Infektionsschutzgesetz 2020 mit dem Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933 verglichen haben. Endlich kann sich die Linke als geschichtsbewußt auszeichnen und vor Geschichtsrelativierungen warnen.

Dass dies ein ganz billiger Freistoß ist, weiß sie aber auch. Denn es müsste für eine Linke selbstverständlich sein, Ausnahmezustände zu hinterfragen, sie mit anderen Ausnahmezuständen zu vergleichen, um das geschichtliche Wissen abzurufen, dass Ausnahmezustände nie dem vergebenen Zweck dienten, sondern andere Intensionen verdecken sollten, die man ohne diesen Anlass nicht hätte durchsetzen können.

Das "kleinere Übel"

Auch der zweite Leser trifft einen ganz neuralgischen Punkt und führt dabei eine nicht ganz ungewöhnliche Paradoxie auf: Zuerst winkt er die Kritik an Konzerninteressen, die Interessen der Machteliten durch, die mit unserer Gesundheit nur peripher etwas zu tun haben. Dann folgt sein harter Lockdown, der Verweis auf das "kleinere Übel". Mit dem sind viele, über Jahrzehnte großworden.

Über Jahrzehnte gehörte das "kleinere Übel" zum Narkosemittel wohlwollender "Ärzte". Dabei geht es aber nicht nur um die Berücksichtigung der Machtverhältnisse, um den berühmten Realismus und Pragmatismus, den man brauche. Das "kleinere Übel" betäubt einen selbst. Denn jenseits davon, was wir erreichen, was wir verhindern können, ist es wichtig, uns nicht an Verschleierungen, an Lügen zu beteiligen. Das macht eine Linke glaubwürdig!

Es geht eben nicht um Corona, um das Retten von Menschenleben, sondern um die Bewahrung des Status-quo, an dem man gepflegt rummeckert, aber sofort verteidigt, wenn es darauf ankommt. Es gibt, wenn es hart auf hart kommt, nichts jenseits davon - auch nicht für die Linke.

Dann ist es aber endlich an der Zeit, nicht mit zwei Kartenspielen (Fundis und Realos) zu operieren. Wenn's nicht darauf ankommt, dann ist man antikapitalistisch und wenn es brenzlig wird, dann ist man ganz realistisch und hält alles andere für Lala-Land-Phantastereien.

Das kleinere Übel kommt auch ohne uns, von alleine. Versprochen.

Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass man Veränderungen, die man mit Herz und Leidenschaft erreichen will, nicht im "Ist-eben-So-Modus" erreichen kann, sondern nur, wenn man das Lala-Land betritt. Das nannte man vor nicht allzu langer Zeit noch Utopie und wenn man dies zum Maßstab des eigenen/kollektiven Handeln macht, machte Ernst Bloch daraus eine "konkrete Utopie".

Der Umgang der Linken mit Entäuschungen

Für eine Linke, die nur Opposition ist, weil sie noch nicht an der Regierung ist, sind die damit verbundenen Enttäuschungen längst aufgebraucht. Die Linke (in Deutschland) ist auch schwach, weil sie mit diesen Enttäuschungen nicht offen umgeht. Sie ist aber ganz schwach, solange sie vor allem damit beschäftigt ist, zu erklären, wer alles rechts-offen ist, anstatt eine (konkrete) Utopie erlebbar zu machen, in der das, was links ist, nicht wie ein Hilfspolizist auftritt, sondern in der Vielgestalt einer packenden Einladung.

Seit zehn Monaten be- und überstimmt Corona alle anderen Auseinandersetzungen und geführte Kämpfe (Klima, Wirtschaftskrise, Wohnen als Grundrecht usw.). Wenn man als gemeinsamen Ausgangspunkt nähme, dass Corona (und das darum gebaute Regime) auch die Linke das "Fürchten gelehrt" hat, dann würde man auch zugeben, dass der Boden unter den eigenen Füssen sehr dünn ist.

Der Vorwurf an die Querdenker, sie möchten nur einen Kapitalismus zurückhaben, der auch Spaß macht, ist leicht und schnell dahingesagt. Viel schwerer ist es, etwas auf die Beine zu stellen, das diesem Vorwurf trotzt.

Quellen und Hinweise:

Wolf Wetzel, Die Welt ist unsere Klinik

Thomas Rudhof-Seibert, Wann hört das endlich alles auf ... und wie soll es weitergehen? Was unter Corona links sein könnte

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