Soll die Türkei in die EU?

Ein geopolitisches Contra

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Soll die Türkei in die EU? Diese Frage hat viele Aspekte. Ich konzentriere mich auf einen einzigen; auf den, der (mir) der wichtigste ist; es ist zugleich der, zu dem man in der ganzen Beitrittsdebatte bislang so gut wie nichts findet. Meine Frage: Welche Bedeutung hätte ein Türkei-Beitritt für das, was seit Beginn unserer europäischen Einigungsbemühungen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als das Herzstück der europäischen Integration gilt, nämlich das Postulat: In und mit Europa: Nie wieder Krieg?1Also: Wäre eine um die Türkei erweiterte EU der Verwirklichung dieser Forderung eher förderlich oder eher schädlich?

Das ist bei Gott kein abstraktes Problem. Konkret relevant ist diese Frage vor allem mit Blick auf das angeblich größte geopolitische Problem unseres 21. Jahrhunderts: den Clash of Civilizations, den großen Konflikt zwischen den Zivilisationen, insbesondere den zwischen der so genannten westlichen einerseits und der muslimischen, speziell der arabischen, andererseits. Die Debatte darüber, was die Folgen der EU-Erweiterung für dieses Problem bedeuten würde, dürfen wir aus einem einfachen Grund nicht auf später verschieben: Dieser Zivilisations-Krieg steht, wie es heißt, nicht bevor; er ist mit den westlichen Counter-Terror-Schlägen als Reaktion auf den 11. September in Form der Kriege gegen Afghanistan und den Irak bereits offen erklärt.2 Meine Frage also noch einmal konkreter: Welche Rolle würde eine um die Türkei erweiterte EU in diesem globalen Anti-Terror-Krieg spielen?3

Die Standardantwort auf diese Frage - und zwar quer über alle sonstigen Pro- und Contra-Beitritts-Parteiungen hinweg - ist sehr einfach. Es gibt sie in drei Varianten: (i) Wir brauchen die Türkei als Bollwerk gegen den drohenden Ansturm des Islamismus. (ii) Eine durch die Einbettung in die EU stabilisierte demokratische Türkei wird als das Modell für die Demokratisierung weiterer islamischer Staaten fungieren. Und (iii): Die Türkei wird das Scharnier sein (bzw. die Brücke), das (die) zwischen der westlichen und der islamischen Kultur das optimale Bindeglied herstellt.

Ist dieses Bollwerk/Modell/Scharnier-Argument wirklich überzeugend? Um dies zu prüfen, ist dreierlei nötig (I) Ein grober geopolitischer Lagebericht; (II) ein Blick auf die relevanten derzeitigen Entwicklungen in der EU selbst; und (III) eine Einschätzung und Bewertung der wahrscheinlichen geopolitischen Rolle der EU nach ihrer Erweiterung um die Türkei.

I Geopolitische Lage

I.1 Wie sieht die derzeitige geopolitische Lage aus? Ein kurzer Blick auf zwei Karten. Beide sind aus "The Grand Chessboard", der (von mir schon mehrfach empfohlenen) unglaublich klaren und ungeheuer weitsichtigen Einführung in die US-Geostrategie von Zbigniew Brzezinski (Politik des Großraums).4 Seine bekannteste Schülerin ist Condoleeza Rice, die Sicherheitsberaterin von G. W. Bush, die nun Außenministerin werden wird. Die erste Karte:

The Grand Chessboard, das ist "Das eurasische Schachbrett", auf dem "der Kampf um [die] globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird" (S. 57). Der derzeitige (vorläufige) Sieger in diesem Turnier steht fest. Zum ersten Mal in der Geschichte wird "der zentrale Schauplatz der Welt, Eurasien, von einer außereurasischen Macht dominiert" (S. 282). Für diese imperiale Macht ist Europa so etwas wie der "demokratische Brückenkopf", ohne den der Süden und damit ganz Eurasien nicht zu halten wäre.

II.2 Die Karte ist veraltet; sie ist von 1997. Die Ostgrenze des alten Westens hat sich im Mai dieses Jahres weiter in Richtung Ukraine/Russland verschoben. Das war die Osterweiterung. Die der EU und damit auch die der NATO.5 Strategisch am wichtigsten ist aber der Süden. Die zweite Karte:

Hier, im Umfeld des Kaspischen Meeres (und der Golfregion), liegen die Bodenschätze, die für ein etwaiges Wiedererstarken Russlands wie für den sich beschleunigenden Aufstieg Chinas unbedingt notwendig sind. Das heißt im Klartext. In diesem Gebiet stehen 'uns' eine Reihe weiterer militärischer Konflikte und Kriege bevor.

I.3 Eine außereurasische Macht kann, selbst wenn sie noch so stark sein mag, diesen (wieder Zitat) "Hexenkessel", diesen "eurasischen Balkan", auf lange Sicht nicht alleine kontrollieren. Dazu brauchen die USA die NATO. Deshalb gibt es diese auch weiterhin - trotz der Auflösung des Warschauer Paktes.

Dank Osama Bin Laden und seiner Freunde ist Afghanistan bereits NATO-Protektorat; Deutschlands Freiheitsraum erstreckt sich schon jetzt bis zum Hindukusch. Pakistan? Derzeit keine größeren Probleme. Usbekistan, die "führende Nation Zentralasiens"6, ist zwar ein totalitärer Staat, zugleich aber "einer der wichtigsten Vorposten der USA im internationalen Anti-Terror-Kampf".7 Im Süden des Landes tun US-Soldaten zusammen mit ihren deutschen Kollegen Dienst.

Für Turkmenistan, von einem Diktator auf Lebenszeit regiert und nach Human Rights Watch "eines der repressivsten Länder der Welt"8, verwaltet die Deutsche Bank einen Milliardenfond, die Abhörtechniken für den Geheimdienst kommen von Siemens.9 Und circa 100 000 russischstämmige Einwohner wurden "gezwungen, Turkmenistan [entweder] ohne ihr Eigentum zu verlassen oder auf den russischen Pass zu verzichten".10 Und die drei ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Armenien und (das mit ihm wegen der armenischen Enklave Berg-Karabach zerstrittene) Aserbaidschan? Alle drei würden sich der NATO lieber heute anschließen als morgen. Georgiens Staatshaushalt stammt ohnehin zu einem Fünftel aus US-amerikanischer Kasse. Bis 2007 will das Land "eine klare Beitrittsperspektive" für den Beitritt zur NATO und zur EU.

I.4 Die Türkei selber - die war und ist schon ab 1952 das südliche NATO-Bollwerk gegen die Sowjetunion und jetzt Russland. Sie ist die zweitstärkste Militärmacht der ganzen NATO. Allein Iran ist von den direkten Nachbarn der Türkei noch nicht "auf Linie"; aber das soll sich bald ändern.

Wegen seines Atomprogramms ist Iran nach bekanntem Muster bereits jetzt im Fadenkreuz. Experten rechnen für die nächsten Monate, wenn nicht gar Wochen, mit einem israelischen Angriff auf die iranischen Atomkraft-Anlagen. (Vorbild: Die Zerstörung des im Bau befindlichen irakischen Atomreaktors in Osirak bei Bagdad durch die israelische Luftwaffe im September 1981.)

I.5 Weiter gen Ost/Nordost liegen die Länder Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan11 - und damit sind wir schon an den Grenzen Russlands und Chinas. Dieser Kreis wird, selbst wenn der Nahe Osten befriedet wäre, das Bermudadreieck dieses ölreichen Hexenkessels sein. In Kasachstan liegt das "weltweit ... größte in den vergangenen 30 Jahren entdeckte Öl-Vorkommen", circa 13 Milliarden Barrel. Erst im Februar letzten Jahres sicherte sich ein westliches Konsortium unter italienischer Führung die Ausbeutungsrechte; mit China wurde eine Pipeline vereinbart; auch die Deutschen liegen gut im Rennen. Trotzdem: Wichtigster Partner Kasachstans im Außenhandel bleibt Russland. Im Nachbarland Tadschikistan weihte der russische Präsident erst vor wenigen Tagen "die größte russische Armeebasis im Ausland ein"12. Ein anderes machtpolitisches Signal an die USA sind die Luftwaffenstützpunkte Moskaus in Kirgistan. Auch dort läuft unter dem Titel "Kampf gegen den Terrorismus" viel, was ohne diesen Titel so nicht möglich wäre. Die umstrittene Grenze zu China ist über 1000 km lang.

Sie brauchen nur eines behalten: Wer die Herrschaft über diesen Kreis hat, ist der Herrscher über Eurasien - und damit der Beherrscher der Welt. Was schließen wir daraus?

II EU/Türkei-relevante Entwicklungen

II.1 Warum ist es aus der Sicht der USA absolut rational, den Beitritt des NATO-Partners Türkei in die EU zu fordern und nach Kräften zu fördern? Das ist vor diesem geopolitischen Hintergrund absolut evident. Aber haben nicht die USA selber erst vor 2 Jahren - und zwar pünktlich zum ersten Jahrestag des 11. September - ganz explizit die ganze Welt wissen lassen13, dass sie, notfalls auch präemptiv, keinen Konkurrenten dulden werden, der ihnen irgendwann einmal auch nur annähernd das Wasser reichen könnte? Keine Frage, dass neben China auch die EU ein solcher Konkurrent werden könnte. Kommt da nicht die EU eines Tages selbst auf die Abschussliste?

Beides widerspricht sich nicht; nicht nach der sehr vernünftigen Logik, wonach das zunächst Wichtigste auch die zeitliche Priorität hat. Das mittelfristig Wichtigste ist aber: die Kontrolle über die unbezahlbaren Bodenschätze des kaukasischen "Hexenkessels".

II.2 Aber: Die größte Schwäche der größten Militärmaschinerie der Weltgeschichte zeigt sich derzeit medial-primär im Irak. Luftüberlegenheit reicht nicht. Ein militärischer Sieg ist noch lange kein stabiler politischer. Dazu sind, wenn nicht die Bevölkerung selbst hinter den Besatzungstruppen steht, irgendwann nach den Bomben Bodentruppen notwendig. Das bedeutet: Es gibt auch auf der eigenen Seite Tote; das ist dem eigenen Publikum medial kaum verkaufbar.

Also: Zumindest für diesen Fall rechnet sich eines doch: Multilateralität. Insofern hätte sich die Irakpolitik Kerrys von der von Bush nicht groß unterschieden. Der US-Vorteil bei Kerry wäre freilich gewesen, dass ihm auch die Europäer bereitwilliger gefolgt wären als Bush. Insofern wäre Kerry, geopolitisch gesehen, für Europa vielleicht sogar die gefährlichere Variante gewesen.

II.3 Multilateralität hin oder her: Aus der Sicht der USA sollte Europa möglichst bald mit einer Stimme sprechen - zumindest so lange, bis der wichtigste Job erledigt ist. Dass die meisten EU-Länder ohnehin zur NATO gehören, reicht für diesen Job nicht. Beleg: Siehe wiederum Irak. Sogar so enge Vasallen wie Deutschland, die Türkei und nunmehr auch Spanien sind, bzw. besser gesagt, waren Kriegsdienstverweigerer. Hätte die EU schon Anfang 2003 mit einer Stimme sprechen können, dann hätte es auch mit einer Stimme sprechen müssen; dann wäre diese (wirkliche?) Verweigerungshaltung nicht mehr möglich gewesen. Ein Dissens hätte das Ende der europäischen NATO bedeutet - und damit auch das Ende der Europäischen Union selbst. Deren Fortbestehen wäre allen wichtiger gewesen. Also ...

Es wird sich zeigen, wie die USA in dem unvermeidbaren späteren Dilemma umgehen werden: Entweder eine starke NATO-EU oder keine EU, damit aber auch keine wirklich verlässliche europäische NATO.

II.4 Was tut sich in geopolitischer Hinsicht in der EU selber? Was sagt zum Beispiel unsere vorläufige EU-Verfassung dazu?

Ich bin Mitglied in der deutschen Sektion von pax christi, der internationalen katholischen Friedensbewegung. Deren Post hat mich vor wenigen Tagen alarmiert. Dafür Herzlicher Dank an dieser Stelle an Marianne Kurek. Marianne, Deine Post hat mich schockiert.

Gibt es Europäer, die sich für die EU-Verfassung überhaupt interessieren? Dann sollten diese diese Verfassung einmal in Ruhe studieren. (Das betreffende Informationsheftchen hat seinen Namen zu Recht: IMPULSE.)14

II.5 Das Wichtigste kurz zusammengefasst15: Der Verfassungsentwurf schreibt die schrittweise Entwicklung Europas zu einer Militärunion fest (Art. I-11,4; I-15,1; I-40,1,2). Zur "Bekämpfung des Terrorismus" sind, dazu ist dieses Konzept schließlich da, weltweite Militäreinsätze zulässig.

Die EU-Verfassung folgt im Wesentlichen den Grundlinien der US-amerikanischen Sicherheitsstrategie; auch die EU-Verfassung enthält die Option zu Präventivkriegen; auch sie verstößt damit gegen das Völkerrecht. Nicht nur das; die Verfassung enthält, wohl einzigartig auf der ganzen Welt, die permanente militärische Aufrüstung sogar als Verfassungsgebot (Art.I-40,3) - und verstößt damit, Gott sei's gedankt, immerhin auch noch gegen das Grundgesetz Deutschlands. Insofern bin ich über das umstrittene Urteil unseres Verfassungsgerichts regelrecht erleichtert. Es betont, dass das Recht des Grundgesetzes viel schwerer durch angeblich übergeordnetes Recht gebrochen kann, wie manche (Europäer wie Nicht-Europäer) das gerne hätten. Friedensfreunde werden dieses (sogar mit Einstimmigkeit zustande gekommene) Urteil noch zu schätzen lernen.

II.6 Prinzipiell setzt die vorläufige Verfassung den ohnehin bereits sehr fortgeschrittenen Entdemokratisierungsprozess der EU fort. Aktionen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik werden vom Europäischen Rat bzw. im Ministerrat beschlossen; sie können durch andere Instanzen der EU nicht mehr kontrolliert, geschweige denn gestoppt werden. Ein Parlamentsvorbehalt ist auf der Ebene der Union ... nirgendwo vorgesehen. Das Europäische Parlament verfügt nur noch über das Recht, "regelmäßig gehört" und "auf dem Laufenden gehalten" zu werden (Art, I-40,8).

Dem Europäischen Gerichtshof wird für den gesamten Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik die Zuständigkeit explizit abgesprochen (Art. III-282). Fragen von Krieg und Frieden können somit ohne weitere demokratische Kontrollen auf der Ebene der zuständigen Organe der EU entschieden und umgesetzt werden. All dies klingt, als hätten sich die Verfassungs-Autoren die "Gemeinsame Erklärung" der europäischen Rüstungsindustrien16 voll zu Herzen genommen.

II.7 Was diese Verfassungsfragen mit dem Problem des EU-Beitritts der Türkei zu tun haben? Ist das für Sie wirklich noch eine echte Frage? Eine weitere kleine Hilfestellung: Nach den USA besitzt die Türkei, was die Truppenstärke angeht, die größten Streitkräfte der NATO. Ihre Truppenstärke ist in etwa genau so groß wie die von Deutschland und Frankreich zusammengenommen.

II.8 Soll die Türkei in die EU? Ich glaube, dass es vor dieser Debatte für die derzeitigen EU-Mitglieder - und damit für uns selber - noch eine sehr viel grundsätzlichere Frage zu klären gäbe. Jedenfalls gilt: Nach den Kriterien, die den Beginn des europäischen Einigungsprozesses nach allgemeiner Auffassung geprägt haben sollen, nach diesen Kriterien könnte die derzeitige EU heute nicht einmal sich selber beitreten.

III Zum BMS-Argument

III.1 Zurück zum Anfang. Das militärstrategische Standardargument in der Türkei-Beitrittsdebatte war: Wir brauchen die Türkei in dreifacher Hinsicht: (i) als Anti-Islamisten-Bollwerk; (ii) als Demokratie-Modell und (iii) als interkulturelles Scharnier.

Überzeugt Sie dieses Argument immer noch?

III.2 Erste Frage: Taugt die Türkei als Scharnier (bzw. als Brücke) zwischen dem Westen und dem Nahen und Mittleren Osten? Antwort: Das kommt ganz darauf an, wohin man dort schaut. Es gibt dort zum Beispiel das strategische Dreieck aus den USA, Israel und der Türkei.

Der 1996 zwischen Israel und der Türkei geschlossene Vertrag über militärische Zusammenarbeit sowie die Einrichtung einer gemeinsamen Freihandelszone haben die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten deutlich verändert. Israel verfügt über etwa 260 Atombomben; Kernwaffen der USA sind in der Türkei stationiert. Israel ist nach den USA größter Waffenlieferant für die Türkei - gefolgt von Frankreich und Deutschland. Israelische Einheiten üben ihre Einsätze in Anatolien. Im östlichen Mittelmeer finden regelmäßig gemeinsame Übungen israelischer, türkischer und US-amerikanischer Kriegsschiffe statt.

III.3 Das sind Tatsachen. Wohlgemerkt: Es geht jetzt ausdrücklich nicht direkt um deren Bewertung. Nur um die Frage, ob die Türkei als unser Scharnier, als unsere Brücke zum Osten überhaupt funktionieren würde. Wie eben deutlich gemacht: Dieses Scharnier funktioniert schon sehr gut; freilich gerade nicht in dem Sinne, wie es das Pro-EU-Beitritts-Scharnier-Argument unterstellt.

Die arabisch/muslimischen Menschen des Nahen wie des nicht so ganz Nahen Ostens sind aber mit Sicherheit nicht so ignorant, wie das von diesem Scharnier-Argument von unserer Seite her unterstellt werden muss. Nein: Von West nach Ost öffnet dieses Scharnier nicht; es verriegelt.

III.4 Zweite Frage: Die Türkei als Demokratie-Modell für diese Region? Das dürfte aus dem gleichen Grund kaum funktionieren. Zudem erklärt die Türkei selbst, dass sie diese Modellfunktion gar nicht haben will. Und schließlich: Was wäre denn, wenn in der Türkei tatsächlich (von uns so bezeichnete) radikal-islamistische Fundamentalisten per demokratischer Wahl an die Macht kämen? Wie würde daraufhin eine EU reagieren, in der die Türkei selber Mitglied ist?

Die EU-Kommission dann etwa so, wie sie auf die Beteiligung der Haider-Partei an der österreichischen Regierung reagiert hatte? Mit ein paar Wochen als intensiv erklärtem öffentlichen Schmollen? Oder so, wie es der stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz, der mutmaßliche Hauptkriegstreiber in Sachen Irak, getan hat, nachdem das türkische Parlament den US-Truppen die Nutzung der südlichen Türkei als Aufmarschgebiet verweigert hatte? Originalton Wolfowitz: "Wozu gibt es in der Türkei eigentlich Generäle?"

III.5 Bleibt das Bollwerk-Argument. Bleibt also die Frage: Bollwerk gegen wen?

(a) Gegen die anderen US-Verbündeten bzw. gegen die bereits US-GB- bzw. NATO-besetzten Gebiete reihum?

(b) Gegen Iran, den nächsten Abschusskandidaten auf der Achse des Bösen? Die Angriffsrichtung wird in diesem Fall aber gerade umgekehrt sind. Nicht von Ost nach West; sondern ... Also gerade nicht Bollwerk, vielmehr vom Westen (Israel inklusive) bestens hochgerüstetes Einfallstor.

(c) Oder etwa Bollwerk gegen den Terrorismus? Das wäre aber mit dem ganzen Rest der ganzen West- Propaganda schlicht unverträglich. Der moderne Terrorismus, insbesondere der von Al-Qaida und deren Verbündeten, sei, so heißt es doch immer wieder und wieder (und sogar zutreffend): grenzüberschreitend!

(d) Und wie passt die Rede vom türkischen Anti-Terrorismus-Bollwerk zu der Tatsache, dass die Türkei schon längst selber im Fokus des internationalen Terrorismus liegt?

III.6 Ich glaube: Viele kommen einfach nicht mehr von der jahrzehntelang eingespielten Kalten-Kriegs-Bollwerks-Sprachregelung los. Oder sie ticken, speziell wenn sie an die Türkei denken, viel zu simpel - etwa im Takt von: Einmal Bollwerk, immer Bollwerk. 40 Jahre gegen den alten Feind (die Sowjetunion); mindestens weitere 40 Jahre gegen den neuen (die Islamisten).

III.7 Soll die Türkei in die EU? Rückfrage: In welche? In die, die wir hier etwas näher kennen gelernt haben? Das wäre nicht gut; nicht für die Welt insgesamt; nicht gut für den Nahen und den wie weit auch immer erweiterten Mittleren Osten; nicht gut für Europa; nicht gut für die Türkei selbst.

Es kann nicht im wohlverstandenen langfristigen Interesse einer demokratischen Türkei sein, sich im Rahmen des skizzierten geopolitischen Schachspiels als bloße Spielfigur, deren Züge zudem von anderen festgelegt werden, instrumentalisieren zu lassen.

Von meinem deutsch-türkischen Schwiegersohn in spe höre ich immer wieder: Die Türkei sei eine sehr stolze Nation. Nun, wenn das so ist, dann wäre es am besten, die Türkei würde ihren EU-Beitrittsantrag von 1987 nach reiflicher Überlegung möglichst bald selber zurückziehen. Es gibt für sie bessere Alternativen als diese Art von EU.17

III.8 Ein kleiner Nachtrag. Das geradezu brutal stärkste Argument CONTRA Beitritt, das mir zu Ohren gekommen ist, habe ich für den Schluss aufgehoben. Hier ist es. Es stammt18 von einem bekannten Journalisten, der es freilich gerade andersherum, nämlich als Argument Pro Beitritt gesehen haben wollte:

Die EU vergreist, braucht aber, um Global Player werden zu können, Soldaten.

Nun, die Türken, die haben doch viele junge Leute - und sind eh ein kriegerisches Volk.

George Meggle ist Professor für Philosophische Grundlagen der Anthropologie und Kognitionswissenschaften in Leipzig. Dieser Text wurde am 24.10.04 als CONTRA-Statement in dem Sonntagsgespräch mit der Universität Leipzig gehalten. PRO-Vertreter war Harun Gümrükçü, Leiter des Hamburger Instituts für Türkisch-Europäische Studien. Sein Vortrag Perspektiven des Türkeibeitritts zur EU ist online nachzulesen. Auf der Webseite des Sonntagsgespraächs findet man auch die Fragen von Georg Meggle an Harun Gümrükçü

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