Soll man den Verfassungsschutz abschaffen?

Er ist mindestens überflüssig. Für kriminelles Tun sind schon Polizei und Staatsanwaltschaft zuständig. Das Bundesamt kann zur gefährlichen Partei werden. Kommentar.

Kritisches Engagement war dem Staat zuwider, und die Intellektuellen, die dahinterstanden, waren ihm als Kommunisten und Extremisten suspekt. (...) Aus der permanenten Notwehr gegen Feinde der Demokratie wurde ein permanenter Putativnotwehrexzess.

Heribert Prantl

Luisa Neubauer, der Kopf der deutschen Fridays for Future und Götz Kubitschek, das Gesicht des intellektuellen Teils der Neuen Rechten haben zumindest eines gemeinsam – auch wenn diese Gleichsetzung manchen jetzt nicht gefallen wird: Sie und die hinter ihnen stehenden Organisationen sind im Visier des Bundesverfassungsschutzes.

Natürlich gibt es Unterschiede: Das von Kubitschek gegründete Institut für Staatspolitik und sein Verlag waren dem Verfassungsschutz zunächst Verdachtsfall, ab 2023 gilt es als gesichert rechtsextremistisch. Die Fridays for Future werden einstweilen nur beobachtet. Interessant sind dabei für den Inlandsgeheimdienst vor allem Kontakte zu anderen Klimagerechtigkeitsgruppen.

Der Präsident jenes Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, griff letzte Woche direkt in die öffentliche Debatte ein.

Innerhalb der AfD, sagte er nach Abschluss der ersten Hälfte des Magdeburger AfD-Parteitags, nehme der Einfluss verfassungsfeindlicher Strömungen deutlich zu. Auf dem Parteitreffen seien rechtsextremistische Narrative verbreitet worden.

Gehen wir einmal davon aus, dass dieser Befund zutrifft. Dass er tatsächlich die Kenntnisse, die der Verfassungsschutz vor dem Parteitag gehabt hat, übersteigt, dass Haldenwang also ehrlich schockiert war, und er sich aus Sorge um sein Land äußerte, so stellt sich trotzdem die Frage, ob dieses Verhalten korrekt war?

Ob Haldenwang, den man für vieles schätzen und respektieren kann (nicht nur im Vergleich mit seinem Vorgänger Hans-Georg Maaßen), der Demokratie damit einen Dienst erwiesen hat?

Denn wieso ist das alles eigentlich in Ordnung? Ist es überhaupt in Ordnung? Eher nicht.

Tatsächlich sprechen eine ganze Menge Argumente dafür, auf die Dienste des Verfassungsschutzes in Zukunft zu verzichten, und solche Beobachtungen, wenn sie denn nötig sein sollten, den Polizeibehörden zu überlassen.

Gerade kein unabhängiger oder neutraler Schiedsrichter

"Wer schützt die Verfassung vor dem Verfassungsschutz?" Das hatte der Jurist und langjährige SZ-Redakteur Heribert Prantl bereits vor über zehn Jahren (zuerst 07.01.2012) in einem Leitartikel gefragt, und seine Überlegungen seither in zahlreichen Beiträgen wiederholt und vertieft, sowie ein Buch dazu geschrieben.

Darin vermutet Prantl, der Verfassungsschutz sei mindestens überflüssig, vielleicht eine Gefahr. Prantls SZ-Kollege Ronen Steinke, ebenfalls Jurist, schlägt jetzt in seinem neuen Buch "Verfassungsschutz" in die gleiche Kerbe. Steinen sagt unzweideutig: "Der Verfassungsschutz gehört aufgelöst."

Denn der Bundesverfassungsschutz ist gerade kein unabhängiger oder neutraler Schiedsrichter im politischen Raum, sondern mindestens indirekt Partei. Und wer beobachtet wird, das entscheiden die jeweiligen Regierungen, genau gesagt ihre Innenminister.

Die Präsidenten des Verfassungsschutzes sind politische Beamte, die jederzeit ohne Angabe von Gründen ausgetauscht werden können. Sie sind aus diesem Grund gerade nicht unabhängig, sondern letztendlich ist ihre berufliche Position abhängig von der jeweils herrschenden Macht.

Unklar und willkürlich

Das Hauptargument für solche radikalen Forderungen ist die Tatsache, dass die Kriterien, mit denen der Verfassungsschutz arbeitet, völlig unklar sind. Dass zweitens diese Kriterien von den Akteuren willkürlich angewandt werden. Und dass drittens die ganze Idee des Verfassungsschutzes falsch und ein deutscher Sonderweg in der Geschichte der Demokratien sei.

Beginnen wir mit den Begriffen und Kriterien. Der Verfassungsschutz soll Verfassungsfeinde und Extremisten beobachten. Doch der Begriff des Extremismus wird, so Steinke, nicht objektiv gehandhabt, sondern hängt von den aktuellen politischen Mehrheiten ab.

Auch wenn einem diese Mehrheiten sympathisch sein mögen, kann aus guten Gründen der Verfassungsschutz oder irgendeine Institution der Regierung solche elementaren Kategorien nicht dezisionistisch handhaben.

Maßlose Bespitzelung der eigenen Bürger

Sie handhabt sie auch maßlos. Gut 6.000 Agenten hat der Auslandsgeheimdienst, der BND, in der ganzen Welt. Gut 8.000 Mitarbeiter hat der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz im Inland, nur um die eigenen Bürger zu bespitzeln und zu überwachen.

Es geht dabei wohlgemerkt nicht um etwaige Verbrechen (das wäre ein Fall für die Polizei), sondern einzig und allein um die politische Gesinnung der Überwachten zu kontrollieren. Diese Gesinnung ist aber nicht verboten.

Tatsächlich aber werden legale Zeitungen wie die Junge Welt oder die Junge Freiheit bespitzelt. Überwacht werden auch Menschen und Institutionen, die sich ganz klar zu den Werten der FDGO bekennen, etwa eben die Klimaaktivisten, wobei manche von ihnen natürlich davon sprechen, dass für sie das Widerstandsrecht der Verfassung greife (hier können die Juristen lange drüber debattieren) und einige halten sogar Gewalt für gerechtfertigt.

Aber dagegen könnte man vorgehen. Es gibt bei uns in der Bundesrepublik einerseits die Meinungsfreiheit, die sehr weit gefasst ist, es gibt die Presse und Publikationsfreiheit, die ebenfalls sehr weit gefasst ist, es gibt andererseits aber auch sehr klare und strenge Vorschriften: gegen Volksverhetzung, gegen Antisemitismus, gegen Beleidigungen und gegen die Verbreitung von Nazipropaganda.

Sie alle können mithilfe der Staatsanwaltschaft und der Polizei genutzt werden durchgesetzt werden.

Aber wo sich politische Gruppen – ob sie einem gefallen oder nicht – an die Gesetze halten, da darf man ihnen keine Steine in den Weg legen.

Es ist erlaubt, zu kritisieren

Es ist in Deutschland ausdrücklich erlaubt, den Staat und seine Institutionen, seine Parteien und seine Politiker und Amtsinhaber – übrigens auch seine Beamten und Behörden – mit legalen Mitteln herauszufordern und zu kritisieren.

Es ist erlaubt, sie lächerlich zu machen durch Satire und Ähnliches. Nur eingeschränkte Formen des Persönlichkeitsrechts setzen den Grenzen. Wir sollten nicht vergessen, dass letztendlich der Staat der Diener der Bürger ist und nicht sein Chef, sein Kommandeur oder sein Auftraggeber

Ebenso ist es doch erstaunlich, dass wir in einem Land leben, in dem eine Regierung relativ frei entscheiden kann, wer überwacht wird, und was dazu publiziert wird. Denn das Handeln des Verfassungsschutzes ist eine politische Entscheidung. Sie wird oft bis ins Detail vom jeweiligen Innenministerium gesteuert.

In unserem Staat hat die Regierung damit die Möglichkeit, weitgehend unkontrolliert festzulegen, welche Oppositionsgruppe – wohlgemerkt legale Oppositionsgruppe, die sich keiner kriminellen Tat schuldig gemacht hat, denn kriminelle Taten kann man mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft verfolgen und gegebenenfalls von einem Gericht bestrafen lassen – noch erlaubt ist.

Im anderen Fall kann sie Geheimdienste losschicken und besagte Oppositionsgruppe jenseits der Öffentlichkeit bekämpfen, mit versteckten, klandestinen Mitteln ebenso wie mit öffentlicher Brandmarkung, mit Verunsicherung und Zersetzungskampagnen.

Dass eine Regierung dies im eigenen Land mithilfe eines Geheimdienstes tun kann, ist etwas, das wir aus autoritären Staaten kennen, aber nicht aus Demokratien. Der deutsche Verfassungsschutz ist eine im Vergleich der europäischen Länder einmalige Instanz. Sie steht einer liberalen Demokratie nicht gut zu Gesicht. Sie schwächt unsere Demokratie.

Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes gelten für alle

Es braucht keinen Verfassungsschutz. Es gibt in Deutschland scharfe Gesetze gegen Volksverhetzung, gegen Polit-Gangstertum. Die Terrorabwehr gehört nach sauberen rechtsstaatlichen Regeln zur obersten Bundespolizeibehörde also zum Bundeskriminalamt.

Und auf der anderen Seite gibt es die "freie Meinungsäußerung" und die Teilnahme am politischen Diskurs, die vom Grundgesetz im Rahmen der Meinungsfreiheit geschützt wird. Eine Demokratie hat das auszuhalten.

Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes gelten auch für die, die eine andere Republik wollen, und auf die eine oder andere Weise Grundlagen bundesrepublikanischer Politik infrage stellen. Vielleicht gerade für sie.

Darum ist es auch und gerade politisch falsch, den Widerstandshandlungen von Klimaaktivisten mit Verfassungsschutz-Maßnahmen zu begegnen, anstatt mit politischer Argumentation und mit juristischen Klagen, wo sich dazu Anlass ergibt.

Aus dem gleichen Grund ist es ebenfalls gerade politisch falsch, den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig durch das Verfassungsschutz-Etikett "gesichert rechtsextremistisch" ein juristisches Schlupfloch zu geben, um Götz Kubitscheks Antaios-Verlag, dessen Bücher nicht verboten sind, in ihren Hallen den Zugang zu verweigern - im Gegensatz zu einem halben Dutzend anderer Verlage, die dieses Etikett genauso verdienten, denen aber ähnliche Prominenz fehlt. In der Praxis wird es deren Produkte sowieso nur noch interessanter machen.

Der Grundsatz "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit" sollte aus guten Gründen weiterhin gelten. Aber im Rahmen des Rechtsstaats und seiner Güterabwägungen, wo er auch nach dessen Maßstäben kontrolliert werden muss. Der Willkür einer Bundesbehörde, erst recht einer politischen, die durch die Natur ihrer Arbeit nicht öffentlich agieren kann, darf er nicht unterliegen.

Wer sich ein Verbotsverfahren gegen die AfD aus juristischen oder politischen Gründen nicht zutraut, darf dies nicht indirekt an beteiligten Dritten auslassen oder zu Ersatzhandlungen greifen.

Darum sollten Verteidiger der geltenden Ordnung sich keine Blöße geben, und auch deren Feinden gestatten, die Freiheiten dieser Ordnung voll auszukosten, solange dies im Rahmen der Gesetze geschieht. Nur für kriminelles Tun sind Polizei und Staatsanwaltschaft zuständig, für legales Tun niemand.