Sorgen wegen Deindustrialisierung? Warten auf das grüne Wirtschaftswunder!
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- Steuern – aber wohin eigentlich?
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Blüht der deutsche Wirtschaftsstandort doch wieder auf? Die Union will Steuerkürzungen. Regierung kündigt Klima-"Investitionsprämie" an. Worauf es ankommt.
Dass Olaf Scholz (SPD) an ein Wirtschaftswunder glaubt, ist Ihnen als Telepolis-Leser bekannt. Möglicherweise stören Sie sich aber daran, wenn die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts nur eine Glaubensfrage ist. Denn, worauf die Zuversicht des Bundeskanzlers gründet, ist dieser Tage nicht leicht nachzuvollziehen. Dabei schienen die jüngsten Meldungen dem Kanzler noch recht zu geben.
So sind die Auftragseingänge der deutschen Industrie im Mai um satte 6,3 Prozent angestiegen, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) vergangenen Donnerstag vermeldete. Wenn das für den Wunder-Gläubigen mal kein Grund zur Freude war. Dumm nur: Schon am nächsten Tag hat das schwarze Loch der Hiobsbotschaften den vermeintlichen Lichtblick "überraschend" (Reuters) wieder geschluckt.
Den Produktionsrückgang von 0,2 Prozent, den Destatis am vergangenen Freitag meldete, wird mancher vielleicht noch für wenig besorgniserregend halten, den Rückgang um 1,4 Prozent in den energieintensiven Industriezweigen dagegen wohl eher nicht.
Branchenvertreter hatten bereits Ende 2022 vor einem Domino-Effekt gewarnt, der mutmaßlich weitere Unternehmen in Mitleidenschaft ziehen werde.
Zudem ist die Nachricht von den volleren Auftragsbüchern für sich genommen auch deshalb noch kein Grund zur Freude, weil das Wachstum in Relation zum massiven Einbruch von 10,9 Prozent gesetzt werden muss, der sich im März ereignete – nur "der größte Auftragsrückgang aller Zeiten" während Corona hat mehr zu Buche geschlagen.
Insgesamt liegen die Auftragseingänge noch immer niedriger als zu Jahresbeginn. Die "Frühjahrsbelebung in der Industrie ist ausgefallen", meldete die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) kürzlich.
In der Zusammenschau mit der technischen Rezession, in der sich Deutschland befindet und deren Ende nun doch nicht mehr absehbar sein soll, sowie mit den ausländischen Investitionsabflüssen, lässt sich die Deindustrialisierung nicht mehr so leicht als Unkenruf abtun.
"Schweiß und Tränen" statt Wirtschaftswunder
Statt eines Wirtschaftswunders erwarten uns eher "Schweiß und Tränen", ließ der Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo), Clemens Fuest, das Handelsblatt am Freitag wissen – eine Prognose, die er bereits im April gegenüber der FAZ abgegeben hatte.
Fuests Sorge genährt hat der wenige Tage zuvor veröffentlichte Geschäftsklimaindex des ifo-Instituts, wonach sowohl das verarbeitende Gewerbe als auch Dienstleister und Einzelhandel der Zukunft pessimistisch entgegen sehen. Negativer Spitzenreiter war auch hier die chemische Industrie, deren Wert mit minus 31 auf den tiefsten Wert seit Juni 2020 fiel.
Ein ähnliches Bild zeichnete der jüngste Stimmungsbarometer, den das ifo-Institut gemeinsam mit der Entwicklungsbank KfW herausgibt. Demnach machen sich trotz aktuell "zufriedenstellender Geschäftslage" besonders der Einzelhandel und Großkonzerne Sorgen um ihren Fortbestand innerhalb Deutschlands. Der gfk-Konsumklima-Index dümpelt derweil weiter auf einem Tiefstand von minus 25 Prozent herum.
Den Kurs der kontinuierlichen Zinserhöhungen der EZB, für den sich auch Bundesbank-Chef Joachim Nagel kürzlich erneut stark gemacht hat, tut ein Übriges, um manche Unternehmer zu verunsichern oder gar zu vergraulen.
Geopolitischer Zwang, hausgemachte Willkür
Neben der "gefühlten Krise" vermögen noch eine Reihe weiterer Indikatoren die Hoffnung auf eine "schnelle Erholung" der deutschen Wirtschaft zunichtezumachen, die etwa auch die Chefökonomen von ING und LBBW-Bank nicht teilen.
Eine Auswahl aus Meldungen der vergangenen Tage: Der Dax rutscht (aufgrund des starken US-Arbeitsmarkts) deutlich ab (dpa), Insolvenzen befinden sich auf einem Sieben-Jahres-Hoch (dpa), und Die Welt veröffentlicht die nächste Umfrage, derzufolge Unternehmen Pläne schmieden, das Land zu verlassen.
Als ob das nicht genug wäre, leidet die deutsche Wirtschaft auch unter der immer hitziger ausgetragenen Systemrivalität zwischen dem Westen und Fernost.
Während in den USA, aber auch in Russland, die Wirtschaft brummt – und zwar anscheinend mehr als in Deutschland –, trifft der zuletzt erneut eskalierte Handelsstreit mit China ausgerechnet jene Halbleiter-Industrie ins Mark, die Deutschland derzeit so bemüht ist, aufzubauen – zusammen mit US-amerikanischen Herstellern wie Intel und Wolfspeed, und unter Aufbietung von Milliardensummen.
Ob man es dabei angesichts der Effekte auf den Weltmarkt bei einem "Na und?" belassen kann, wird sich noch herausstellen.
Die aktuelle Situation ist allerdings nicht nur äußeren Umständen geschuldet. So bescheinigte das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) der Bundesregierung bereits Mitte Juni einen erheblichen Investitionsstau, der geeignet wäre, Produktivität und damit Konjunktur anzukurbeln.
Derweil beteiligt sich Deutschland als zweitgrößter Geber von Militärhilfe rege an dem Konflikt in der Ukraine (der nun offenbar auch mit völkerrechtlich verurteilenswerter Streumunition bestritten werden soll) und investiert sein Geld in die Rüstungsindustrie – auch der eingangs genannte Auftrags-Anstieg verdankt sich mit +137,1 Prozent im Wesentlichen dem "sonstigen Fahrzeugbau".
Parallel dazu werden attraktive sozialstaatliche Leistungen wie etwa das Elterngeld abgebaut. Eine Schwerpunktsetzung, wie sie sonst eher aus den neoliberalen beziehungsweise neokonservativen Kreisen der USA bekannt ist, die dem sogenannten Military Industrial Complex nahestehen.
Schließlich sorgen Signale wie die des Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck (Grüne), wonach zuerst die deutsche Industrie zu "drosseln" oder "ab[zu]schalten" sei, bevor die Menschen in der Umgebung des Gastransitlands Ukraine frieren müssten, nicht gerade dafür , dass der deutsche Wirtschaftsstandort attraktiver wird, so altruistisch die Parole auch anmutet.