Soziale Spaltung als oberste Maxime
Kalkül der Scham: Wie jeder "Tabubruch" als mutig und freiheitlich dargestellt werden kann
Die extreme Rechte hat mit dem Vorwurf der angeblichen political correctness einen derart erfolgreichen Kampfbegriff erfunden, weil das zugehörige Frame so selbstevident ist, dass bereits jede leise Beschämungstendenz seitens der Mehrheitsgesellschaft angesichts einer verbalen Entgleisung über eine Art Gegenbeschämung anprangert werden kann: Der "Tugendterror", nicht nur im Namen einer aktivistischen wokeness, wird nun ihrerseits kommunikativ markiert, und man geriert sich als Opfer der Tyrannei der Mehrheit, dem auch noch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung genommen werden soll.
Zugleich mobilisierender Appell
Die Rede von Sprech- oder Denkverboten ist dabei immer zugleich ein mobilisierender Appell an Gleichgesinnte, der die etwaige Beschämungsanstrengung einer Gegenrede antizipiert und bereits vorab moralisch diskreditiert, um tatsächliche Scham auf der eigenen Seite zu vermeiden; so kann jeder neuerliche Tabubruch, und sei er auch noch so menschenfeindlich oder geschmacklos, als mutig oder sogar freiheitlich dargestellt werden. Diese Strategie ist seit Jahren so erfolgreich, dass die "politische (Über-)Korrektheit" inzwischen bis ins liberale Feuilleton hinein routinemäßig beklagt wird.
Besagte Das-wird-man-doch-noch-sagen-dürfen-Haltung mit ihrer Konnotation von Denk- und Sprechverboten und eben einer bloß defensiven Haltung kennzeichnet alle oppositionellen rechten "Tabubrecher" und politisch Inkorrekten bei ihrem Kampf um diskursive Hegemonie. Dies funktioniert auch, weil Aufklärungsbemühungen und die kommunikative Markierung von rhetorischen diskriminierenden Grenzüberschreitungen zentrale und erwartbare Reaktionen seitens der Zivilgesellschaft sind, mit denen man rechnen kann.
Da auch des kulturlinken Denkens ganz unverdächtige konservative Politiker*innen sich von den gezielten Provokationen der Rechten abgrenzen müssen, entsteht regelmäßig der gewünschte Eindruck "Wir gegen das Establishment", an dem beispielsweise sogar Trump als gewählter US-Präsident festhält, wo immer möglich. Dabei geht von der damit einhergehenden Verrohung der politischen Auseinandersetzung, die für Oliver Nachtwey im Anschluss an Elias sogar den Status einer "Entzivilisierung" hat, eine grundsätzlich entschämende Tendenz in Richtung derer aus, die schon immer so dachten und jetzt in den Nachrichten lesen, sehen und hören, was einst dem Stammtisch zu vorgerückter Stunde oder der anonymen Kommentarspalte im Netz vorbehalten war.1
Der Punkt ist grundsätzlicher Natur: Nicht nur der Rhetorik, auch der zugehörigen Politik eignet das Primat der Exklusion, entweder materiell über Grenzschließungen, Zäune und Mauern oder über sozialpolitische Apartheid (z. B. Trumps "We built a wall!", Orbáns Grenzzäune oder die Forderungen aus der AfD, Rente nicht mehr an die Beitragszahler*innen auszuschütten, sondern nur noch an "Deutsche", besonders an kinderreiche, oder Meuthens ultraneoliberale Variante, die staatliche Alterssicherung gleich ganz abzuschaffen).
Diese die Gesellschaft öffentlich sichtbar spaltende Politik wird im Namen des (r)einen Volkes betrieben, und insofern kann und soll sie seitens der Anhänger*innen, welche die politische Klasse angeblich "vergessen" hat, als Zeichen der Achtung gelesen werden, zumindest insoweit als die "rechtschaffenen kleinen Leute" mit der richtigen Abstammung von all den Grenzziehungen und Repressionen ausgenommen und implizit zu Bürger*innen erster Klasse erklärt werden.
Zudem können die ausgegrenzten Gruppen rhetorisch über die oben mit Sartre angesprochene schamabwehrende Objektifizierung zum Problem deklariert werden oder am Ende gar schlicht "Illegale" sein etc.; damit aber werden sie zum Objekt einer nun auch obrigkeitlich gebilligten Verachtung all derer, die ansonsten wenig haben, worauf sie stolz sein können. Insofern hat dezidiert rechte Politik bereits strukturell im Hinblick auf das (r)eine Volk eine entschämende Tendenz, oder anders gesagt, sie meint strukturell eine einzige große Entschämung im Sinne einer gemeinschaftlichen Entledigung von Surplus-Scham.
Rechtspopulistische Parteien sind nie nur eine weitere, eben dezidiert rechte Partei im demokratischen Spektrum, sie sind auch nicht nur organisierter Protest, sie streben ernsthaft nach der Macht und zumindest ein beträchtlicher Teil ihrer Mitglieder auch nach der autoritären Zurichtung oder Beseitigung der Demokratie, eine Tendenz, die man von der Machtübernahme Putins in Russland über Ungarn und Orbán bis hin zu Erdogans AKP und der polnischen PIS gut beobachten kann.
Spaltung und womöglich gar Gewalt
Ein subtileres Beispiel dieser Politik, subtiler wenigstens als die notorischen Grenzschließungen und Abschiebungsforderungen usw. und der damit einhergehenden Tendenz öffentlich inszenierter Verachtung, ist das von der österreichischen Regierung zum Schuljahr 2018/19 eingeführte Bußgeld fürs Schulschwänzen in Höhe von einmalig 110 Euro, das im Wiederholungsfall auf mehrere hundert Euro anwachsen kann. Nicht nur meint dies eine im Hinblick auf die "streng" eingestellte Anhängerschaft gewiss populäre Maßnahme in Richtung der Wiederherstellung der überkommenen Disziplinierungsmaschinerie Schule, nicht nur verwandelt es eine Bildungseinrichtung in eine die Einhaltung von Normen kontrollierende und ganze Familien öffentlich beschämende Behörde, vor allem wirkt die Maßnahme treffsicher in Richtung der sozial schwächeren Familien, denn nicht nur sind die "Unterschichten" mutmaßlich weit häufiger von schulschwänzenden Bildungsverlierern in spe betroffen, so das offensichtliche Kalkül dieser Politik, sondern prekär lebende Familien trifft die Buße auch materiell viel härter, oft in ihrer Existenz - und meint so nicht nur eine Beschämung, sondern trägt vielmehr weitere Spaltung und womöglich gar Gewalt in diese Familien hinein -, während Mittelschichtsfamilien die Buße schlicht mit dem Taschengeld verrechnen werden.
Im Hinblick auf die große Mehrheit der z.B. nicht-betroffenen Rentner*innen, die sich an ihre Schulzeit - ohne Fehlzeiten! - erinnern, aber ist die entschämende und zugleich schamabwehrende Verachtung triggernde Tendenz dieser Politik, die soziale Spaltung zur obersten Maxime macht, recht offensichtlich.
Grundsätzlich entschämend wirkt auch, dass an die Stelle durch die NS-Zeit und die alte Rechte vorbelasteter Begriffe diverse Neologismen treten, welche exakt dasselbe meinen, aber eben auf eine gewissermaßen sanftere Weise: Statt der alten NPD-Parole "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" wird so eben von "Remigration" gesprochen, und einige dieser Sprachschöpfungen sind so erfolgreich, dass sie in den bürgerlich-medialen Diskurs einsickern wie etwa die "Islamisierung" oder der "Gutmensch". Ständig kommen neue Kreationen hinzu: "Kulturbereicherer", "Umvolkung", "Demokratur", "Rapefugee" u.v.a.m. Der Vorteil "unverbrauchter" rechtsextremer Vokabeln ist dabei auch, dass sie im Sinne des Volksverhetzungsparagrafen kaum zu beanstanden sind und im Lichte der angesprochenen Entschämungstendenz auch problemlos von denen aufgegriffen werden können, die "nicht in die rechte Ecke gestellt" werden wollen.
"Weiter so" von Scham befreit
Am offensichtlichsten aber ist die entschämende Tendenz hinsichtlich der Leugnung der menschengemachten Erderwärmung, was praktischerweise mit den Interessen diverser Lobbygruppen und der Bequemlichkeit der Anhängerschaft in eins geht, die ihr Leben nicht umzustellen brauchen. Von daher dürfte gerade hinsichtlich einer internationalen Vernetzung der diversen Rechtspopulismen dem Thema des "Clexit" (für climate exit, der Ausstieg aus den Weltklimaverträgen) hinsichtlich ihrer Mobilisierung die Zukunft gehören.
Denn während die von der Zivilgesellschaft aufgegriffene Botschaft der Wissenschaft klar ist und zu Verzicht und Umdenken sowohl im persönlichen als auch im volkswirtschaftlichen Bereich drängt, lautet die Botschaft der Rechten, die von marktfundamentalistischen Kommentatoren und Politiker*innen und Teilen der Konservativen bereitwillig unterstützt wird: Weiter so!
Ein weiterer zentraler Punkt hinsichtlich der entschämenden Tendenz des rechten Populismus bezieht sich auf die männliche Kernklientel und setzt direkt an der im Zuge der Bedeutungserosion erschütterten Männlichkeit an, wie sie sich innerhalb der "Manosphere" im Netz im weiten Feld zwischen Technik- oder Pornoseiten und Selbsthilfeforen von "Scheidungsopfern" laufend und oft massiv misogyn Ausdruck verschafft, am offensichtlichsten ist dies im Falle Trumps und seiner Anhängerschaft. Der kokettiert in Berlusconi-Tradition mit seinen Affären mit Pornostars, ist sich nicht zu schade, im Wahlkampf in Reden vor seiner Anhängerschaft in Bezug auf seine Penisgröße zu versichern: "Ich garantiere euch: Da gibt’s keine Probleme", und umgekehrt werden die (männlichen) politischen Gegner seitens der rechten Aktivisten notorisch als "cucks" beschimpft, was sich auf den eigentlich nur noch im Pornobereich gebräuchlichen Begriff "cuckold" (ehemals für gehörnten Ehemann) zurückführen lässt und dann so etwas wie "Weichei" bedeutet.
Dieses vulgär-phallistische Element ist integraler Teil einer tiefgreifenden und kaum verbale Artikulation benötigenden Entschämung, die recht unvermittelt neben dem republikanischen Bund mit Lebensschützern, Evangelikalen und Frömmlern aller Art steht. Der Popjournalist Klaus Walter merkt dazu an2:
In linksliberalen Kreisen wird über Pornografie kaum gesprochen, und wenn, dann höchstens als Problem. Anders bei der […] Rechten. Da dient Pornografie als Resonanzraum, als Folie. Männer wie Trump oder Bannon tun nicht verschämt so, als wüssten sie von nichts. Sie wissen um Porn und teilen dieses Wissen mit ihrer Klientel […]. Der Politisierung von Sexualität durch Feminismus und antiautoritäre, antipatriarchale Emanzipations-bewegungen setzt die Neue Rechte eine Sexualisierung der Politik entgegen, die wir aus faschistischen und autoritären Regimes kennen.
Eine entschämende Tendenz geht auch von den zugehörigen Verschwörungstheorien im Online-Umfeld der rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen aus, bei denen beinahe jeder Unsinn gehört wird und man sich, siehe Pizza-Gate-Affäre, auch nicht zu schämen braucht, wenn man derlei glaubt. In diesem Zusammenhang ist auf die prinzipiell verschwörungstheoretische Kommunikationsstruktur des rechten Populismus hinzuweisen, die gar keine konkreten Verschwörungstheorien mehr benötigt, weil gefühlt alles eine große Verschwörung der Eliten gegen das Volk ist, ein einziger Betrug. Der latente Subtext lautet immer: Wenn alles mit rechten Dingen zuginge … Dann, so die Suggestion, stünde der oder die Einzelne wie auch das gesamte (r)eine Volk anders da, es wäre wieder an dem Platz in der Welt, der ihm gebührt.
Die über selektive Wahrnehmung, Fake News und die systematische Verdrehung von Tatsachen gleichermaßen angetriggerten populären Frames reichen dabei von den Fremden, die im Rahmen einer staatlich betriebenen Überfremdung/Umvolkung großzügig alimentiert würden, während man selbst …, über die Gefahr der "Islamisierung" bis zu den die eigene Zielgruppe radikal entschämenden Add-ons wie dem erfundenen Klimawandel oder dem "Gender-Wahn" usw., und als Argumente dienen tatsächliche Ereignisse aus der ganzen Welt, aber auch vollständig paranoide Szenarien (z. B. die alte jüdische Weltverschwörung, Chemtrails, Q …).
In den rechten Netzwerken und Internetblogs, auch in den vermeintlich seröseren wie journalistenwatch.com oder philosophiaperennis.com und ohnehin in den Echokammern der sozialen Medien, wird auch derlei immer wieder in Anspielungen oder "aufklärenden" Beiträgen z. B. zur "Klimalüge" aufgegriffen und zirkuliert so unentwegt.
Seriosität suggeriert
Zugleich, und auch das mag entschämend wirken, werden zwar innerhalb gewisser Segmente der rechten Filterblasen immer neue und wildere Verschwörungstheorien gehört und weitergetragen. Dennoch finden sich an der Parteispitze der Rechtspopulisten und in den Wahllisten Bürger*innen, deren Berufsstand allein Seriosität suggeriert und deren Habitus in deutlichem Kontrast zu den Schmuddelecken des Netzes steht, wo die verachtende Sprache der Pornografie und der Verschwörungstheorien dominieren: Professor*innen, Lehrer*innen, Handwerker*innen und Unternehmer*innen, Ärzt*innen, Richter*innen, Staatsanwält*innen und Polizeibeamt*innen, eben "die Mitte der Gesellschaft". So wird selbst die krudeste Klimaskeptiker-Argumentation salonfähig, z. B. führt die AfD unter anderem seit Jahren einen Kreuzzug "gegen die verheerenden Auswirkungen der Windkraft", und in ihrem Grundsatzprogramm kann Kurioses nachgelesen werden wie etwa, dass CO2 eine "positive Wirkung […] auf das Pflanzenwachstum und damit auf die Welternährung" habe.3
Der Anhängerkreis insgesamt ist dabei nahezu maximal heterogen und bleibt größtenteils anonym; im Grunde versteht man sich vor allem über das gemeinschaftliche Dagegensein. Hierzulande wurde bei AfD-Parteitagen anfangs sogar die Öffentlichkeit ausgeschlossen, sodass nicht einmal diejenigen, die sich engagieren, ihr Gesicht zeigen mussten. Gelegenheit zur Peinlichkeit gibt es für die diffuse und eben größtenteils anonyme Gruppe Wütender oder "Politikverdrossener", welche den lautesten Teil der Anhängerschaft ausmacht, jedenfalls kaum, zumal das souveräne und oft kalkulierte Hinwegsetzen über die Grenzen dessen, was in der Mehrheitsgesellschaft und im Rahmen der herrschenden politischen Kultur als beinahe schon peinlich gilt, traditionell zum Tabubrecherimage des Führungspersonals aller rechten Parteien bis hin zu den diversen Neofaschisten von Italien bis Brasilien gehört und nahezu überall gewissermaßen Standard der rechtspopulistischen Kommunikationsstrategie ist: das oft hemdsärmelig-rüpelhafte, gelegentlich auch bloß unbeholfen wirkende Auftreten der rechtspopulistischen Führer, man denke hierzulande z. B. an die Rede, die André Poggenburgs Rücktritt als AfD-Vorsitzender Sachsen-Anhalts nach sich zog.
Sogar noch der Hang zum Beschimpfen und Beleidigen, das ostentative Machogebaren bereits Berlusconis und die Peinlichkeit der Auftritte Trumps oder Erdogans "auf internationalem Parkett", überhaupt das ständige Porzellan-Zerschlagen und interne und externe Sich-Zerstreiten (und Wieder-Versöhnen) ist Teil des zugehörigen "männlichen" Politikstils, der in allem das Gegenteil dessen ist, was man diplomatisch nennt. Was regelmäßig die liberale Öffentlichkeit und langjährige politische Beobachter*innen irritiert, gehört insofern ein Stück weit zum Kalkül und erfreut die Anhängerschaft, die derlei dann "erfrischend anders" finden mag.
Der Artikel ist ein Auszug aus Jürgen Riethmüllers Buch "Kalkül der Scham", erschienen bei Kulturverlag Kadmos, Berlin 2020.