"Soziale Ungleichheit wird als Gesellschaftselixier gepriesen"
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- "Reiche und Superreiche müssen endlich angemessen an der Finanzierung dieses Sozialstaates beteiligt werden"
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Um Armut zu bekämpfen, muss man den Eliten auf die Füße treten - Interview mit Ulrich Schneider
Es fehlt an Empathie für die Armen in Deutschland, sagt der Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes im Interview mit Telepolis. Ende Februar veröffentlichte der Verband den jährlichen Armutsbericht (Pssst, nicht über die Armut in Deutschland reden, bitte!) und verdeutlichte einmal mehr, unter welchen schlimmen Bedingungen Menschen in Deutschland leben (s.a.: Neoliberale missbrauchen die gegenwärtige Zuwanderung").
Wie in jedem Jahr, so kritisierte auch dieses Mal wieder mancher Vertreter der Medien den Bericht. Tenor: In Deutschland gibt es keine "steigende Armut", vielmehr könne man "allenfalls von einer wachsenden Ungleichheit" reden. Dem hält Schneider entgegen, dass es in Deutschland eine Armut gibt, die viele Facetten hat - man muss nur die Augen aufmachen.
Herr Schneider: Sind Sie unter die Blues-Sänger gegangen? Laut einem Spiegel-Redakteur, der Ihren Armutsbericht kommentiert hat, singen Sie den "Blues vom armen Deutschland".
Ulrich Schneider: Oh ja, ich habe es gelesen … armer Kerl …
So mancher Medienvertreter scheint zu glauben, dass es in Deutschland keine Armut gibt. Was meinen Sie: Woran liegt das?
Ulrich Schneider: Wie sagt der Volksmund: Wenn das Aug' nicht sehen will, so helfen weder Licht noch Brill'.
Fehlt es an einem Gespür dafür, dass es auch bei uns viele Menschen gibt, die arm sind?
Ulrich Schneider: Richtig. Der Unwille, Armut zur Kenntnis zu nehmen, paart sich bei nicht wenigen mit der Unfähigkeit, Armut überhaupt zu erkennen. Bei so manchem muss man offenbar erst unter Brücken schlafen oder Pfandflaschen sammeln müssen, um als arm angesehen zu werden. Für die ganz subtilen Prozesse der Ausgrenzung, die mit mangelndem Einkommen einhergehen, fehlt jegliche Beobachtungsgabe, für das Leid und die Härten, die mit dieser Ausgrenzung verbunden sind, ganz offensichtlich jegliche Empathie.
Sie schreiben in Ihrem Buch "Kampf um die Armut" (Vorwort), dass Ihnen der Umgang mit den Armen in unserem Land bereits in der Sprache auffällt. Was meinen Sie damit?
Ulrich Schneider: Der Neoliberalismus und seine Apologeten sind Meister des Orwellschen Neusprech: Gute Menschen werden als Gutmenschen der Lächerlichkeit preisgegeben, nachdenkliche Menschen werden als notorische Bedenkenträger diskreditiert und der Ruf nach Gerechtigkeit als schäbige Neiddebatte diffamiert. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die neoliberalen Wortverdreher auch den Armutsbegriff vorknöpfen würden, der nun kleingeraspelt und auf pures Elend reduziert werden soll.
Ulrich Schneider hat kürzlich das Buch Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen mit Beiträgen u.a. von Christoph Butterwegge und Friedhelm Hengsbach SJ im Westend-Verlag herausgegeben.
Welche Antriebe verbergen sich hinter dem Neoliberalismus?
Ulrich Schneider: Der Neoliberalismus ist ideell vor allem durch Geiz gekennzeichnet, auch wenn er theoretisch hochverschwurbelt daherkommt. In seinem Menschenbild geht es vor allem um den eigenen Vorteil. Es geht immer um den Schutz von Gütern, seien es individuelle Ressourcen oder aber nationales Eigentum, das es etwa vor Flüchtlingen zu schützen gelte, wie es aus neoliberaler Ecke neuerdings heißt.
Soziale Ungleichheit wird geradezu als Gesellschaftselixier gepriesen. Wer dagegen von Güte spricht, über soziale Gerechtigkeit nachdenkt oder Armut anprangert, stellt sich der neoliberalen Ideologie geradezu konfrontativ entgegen, denn die aktuelle logische und menschliche Konsequenz daraus heißt mehr Umverteilung, mehr Gleichheit, mehr Solidarität.
Wie äußert sich denn Armut in unserer Gesellschaft?
Ulrich Schneider: Armut ist nicht sehr öffentlich, drängt sich nicht auf. Gerade deshalb braucht es ja eines gewissen Maßes an Empathie und menschlicher Zuwendung, um sie jenseits von öffentlichem Elend zu erkennen. Für uns beginnt Armut in dieser reichen Gesellschaft bereits dann, wenn Menschen mitten unter uns an ganz alltäglichen Lebensvollzügen nicht mehr teilhaben können, wenn sie schlicht abgehängt werden, sei es als Kind, wenn der Klassenausflug nicht mehr bezahlt werden kann, oder als alter Mensch, wenn die kleine Rente mit Sozialhilfe aufstockt werden muss, die nicht mal mehr zum gelegentlichen Stückchen Kuchen im Café reicht.
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