Spaltet die Wikipedia
Die freie Enzyklopädie wächst und wächst - jetzt ist die Zeit zu handeln
Vor einem halben Jahr habe ich die Frage gestellt, ob die Wikipedia eine Einbahnstraße ins Weltwissen ist . Die Frage lässt sich mittlerweile mit "Nein" beantworten: Es ist eine Straße mit vielen Abzweigungen - und nicht wenige davon führen geradewegs ins Chaos. Nun ist die Zeit, die richtige Ausfahrt zu finden.
Die Wikipedia wächst: Zehntausend, hunderttausend, eine Million Artikel - es scheint nur eine Zeitfrage zu sein, bis die freie Enzyklopädie fast jede beliebige weitere Grenze bricht. Kaum eine Woche, in der nicht ein neues Projekt, eine neue Initiative, eine neue Plattform das Licht der Welt erblickt. Immer wieder kann das freie Projekt die kommerzielle Konkurrenz ausstechen, althergebrachte Methoden in ihre Schranken verweisen. Das Wikifieber greift um sich: Immer öfter sind Wikipedia-Artikel auch in Massenmedien zu finden, selbst in Unternehmen sind Wikis auf dem Vormarsch. Die Wissensalmende scheint nahe.
Die Wikipedia wuchert: Lehrbücher, Zitate, Nachrichten - alles soll auf der universalen Plattform einen Platz finden. Was im Einzelnen vorgeht, wissen nicht einmal die engagiertesten Aktivisten. Ein bunter Mischmasch aus Anarchie, Demokratie, Aristokratie und Monarchie ist für die Entscheidungen verantwortlich. Wer diese anschließend nachvollziehen will, wird oft in Transparenz erstickt: Zu viele Mailinglisten, Diskussionsseiten und unverbindliche Abstimmungen sind nachzuschlagen.
Die Phase des Ordnens muss erst noch beginnen
Der Konsens über das Weltwissen ist sehr schmal: Der "neutral point of view" soll alles richten - doch was jetzt neutral oder schlicht Konvention ist, ist nicht einfach zu trennen. Fachleute beklagen sich, dass die Artikel in ihrem Fachgebiet nur unzureichend sind und eine nachhaltige Verbesserung schwer gegen die Masse der Benutzer durchzusetzen sei. Unterdessen ächzen die Server unter der Last der vielen Abfragen. Die Projektverantwortlichen haben alle Hände voll zu tun, um die Plattform am Laufen zu halten, Spenden zu aquirieren und die ersten ambitionierten Printfassungen in die Gänge zu bringen.
Die freie Enzyklopädie ist heute immer noch so etwas wie ein weltweites Brainstorming, das unverbindliche, unmoderierte und weitgehend regelfreie Zusammentragen von Ideen. Auch in der Wirtschaft hat sich diese Methode bewährt - durch den freien Gedankenfluss kommen oft die brillantesten Ideen zu Tage. Doch die Phase zum Ordnen der Gedanken wurde noch nicht nachdrücklich eingeleitet. Es gibt schon lange Zeit Initiativen, die Qualität der Wikipedia durchgehend zu erhöhen. Es werden Qualitätsoffensiven ausgerufen, um bestimmte Themenbereiche besser auszuleuchten, über relativ formlose Peer Reviews werden Artikel zu "Exzellenten Artikeln" ausgerufen. Ein umfassende Bewertungssystem für Artikel ist angedacht, wurde aber noch nicht umgesetzt.
Drei Punkte haben die Initiativen gemeinsam: Zum einen sind sie viel zu langsam, um wesentliche Anteile der Wikipedia zu erfassen. Sie dienen als Leuchttürme und als positive Beispiele, können aber nicht für die gesamte Plattform Wirkung entfalten. Es existieren in der deutschen Wikipedia erst gut 300 exzellente Artikel - genug, um zu beeindrucken, aber zu wenig, um den Durchschnitt der Artikel wesentlich anzuheben. Zum zweiten setzen die etablierten Mechanismen sehr auf die besonders aktiven Wikipedianer und bieten für Außenstehende aber zu wenig Anreiz zur Teilnahme. Was Weltwissen ist und wie es aufbereitet werden muss, wird im besten Fall unter einigen Dutzend Beteiligten ausgekungelt. Bisher oft mit vorzeigbaren Ergebnissen - feste Bewertungsmaßstäbe gibt es aber nach wie vor nicht. Zum dritten hat die einmal geschaffene Qualität keinerlei Bestandsgarantie. Ein exzellenter Artikel kann durch unsachgemäße Erweiterungen, Flamewars und Umsortierungen sehr schnell wieder unübersichtlich und sachlich inkorrekt werden. Ständige Überarbeitungen setzen eigentlich ständige Überwachungen voraus, doch dezidierte Strukturen hierzu existieren noch nicht.
Entsorgung von Altlasten zur Qualitätssteigerung
Zwar hat die Wikipedia mittlerweile auch ohne diese Mechanismen ein beachtliches Niveau erreicht, doch zeichnet sich ab, dass dieser Trend sich nicht ohne weiteres fortsetzen wird. Die Wikpedianer haben viel Spaß an einer ständige Ausweitung des Projekts, so dass es schwer fällt, innezuhalten, eine Bilanz zu ziehen und über die nächsten Schritte nachzudenken.
Verbindliche Vorgaben erhielt die deutsch Wikipedia in letzter Zeit durch eine Distribution: Der Verlag Directmedia Publishing gab eine CD mit den Inhalten der Wikipedia heraus und war deshalb gezwungen, aus den teilweise chaotisch formatierten Inhalten ein Nachschlagewerk zu machen. Dafür musste einige Altlasten entsorgt werden. Für die nächste Ausgabe arbeiten die Wikipedianer bereits an weiteren Formalisierungen: So wird zu jedem Personenartikel eine Auflistung der Personendaten angefügt. Nicht nur die geplante DVD-Distribution profitiert davon, auch der Wikipedia-Nutzer erhält so schneller Auskunft über die grundlegenden Daten.
Was bei den formalen Aspekten funktioniert hat, könnte auch bei den anderen Fragen funktionieren. Die hochkomplexe Qualitätsfrage kann wahrscheinlich nur außerhalb der Community verbindlich geklärt werden. So wäre es an der Zeit, das Vorgängerprojekt Nupedia wiederzubeleben. Unter diesem Namen hatte Jim Wales zusammen mit Larry Sanger bereits ihre erste freie Online-Enzyklopädie begonnen, die auf einen ausgefeilten Redaktionsmechanismus aufbaute und daran scheiterte: Die Schwelle zur Mitnahme war so hoch, dass niemals eine kritische Masse an Artikeln zusammenkam, die neue Mitarbeiter motivieren konnte. Diese kritische Masse ist nun vorhanden, das Projekt Nupedia ist jedoch verschwunden.
Dabei ist ein fester Redaktionsprozess gefragter als zuvor. Er könnte die Bewegung in dem Wissensschatz auf ein vernünftiges Maß reduzieren und gleichzeitig dafür garantieren, dass wirklich jeder Artikel die gleiche Behandlung erfährt und einen durchgängigen Standard erhält. Durch eine abgeschlossene und produktive Arbeitsplattform kann die notwendige Meta-Kommunikation auf ein notwendiges Maß beschränkt werden: die selben Themen müssen nicht wieder und wieder durchgekaut werden. Eingeschränkte Bearbeitungsmöglichkeiten erleichtern das ausliefern statischer Seiten und entlasten die Wikipedia von dem ganz normalen Ansturm der Nur-Leser. Zudem könnte eine namentlich bekannte Redaktion und eine transparentere Quellenpolitik dem Leser zusätzliche Orientierung und Vertrauen geben.
Bei OpenSource-Projekten fällt es sehr leicht, so genannte Forks zu produzieren: Abspaltungen des eigentlichen Hauptprojekt, die auf der Basis der bisher geleisteten Arbeit weitermachen. Solange die Bedingungen der Lizenz genügt wird, kann jeder seine eigene Wikipedia aufmachen. Nur eine Einschränkung gibt es: Die Namensrechte an "Wikipedia" liegen bei der Wikimedia Foundation.
Das Mozilla-Projekt hat es vorgemacht: nach langem Zögern hatten sich die Entwickler endlich entschlossen, den sperrigen Mozilla in mehrere Einzelanwendungen aufzuspalten und schufen so unter anderem den Webbrowser Firefox, der das schaffte, was Mozilla nicht vergönnt war: Endlich konnten ein freier Browser dem Platzhirsch Microsoft tatsächlich Marktanteile abnehmen.
Eine Spaltung der Wikipedia hieße nicht ihr Ende - ein neues Qualitätsprojekt könnte sogar unter dem Dach der selben Foundation stattfinden. Ein solche Neuanfang wäre schwer und müsste gut bedacht werden. Doch durch das Abstoßen von Altlasten könnte die Wikipedia so neuen Schwung bekommen.