Spirituelle Maschinen
Ray Kurzweil terminiert den Tod des Menschen
Ein Platzwechsel hat stattgefunden. Seitdem in den Geisteswissenschaften die Lichter der Aufklärung verglüht, alle universellen Sinnsysteme entzaubert und Pragmatismus, Skepsis und Zweifel eingezogen sind, feiert das Imaginäre in den Naturwissenschaften fröhliche Urstände. Dies verwundert, weil vor allem dort von den Forschern Distanz und Nüchternheit gegenüber Gegenständen und Phänomenen erwartet wird, die Grenzen zu Transzendentalität, Spiritualität und Metaphysik besonders scharf gezogen werden und Beschreibungen, Aussagen und Urteile selbstredend nur dann Akzeptanz und Anerkennung erfahren, wenn sie empirischer Prüfung und/oder den Argusaugen der Forschergemeinschaft standgehalten haben.
Einen gewichtigen Grund für diese Neuverzauberung der Welt liefert die Computerei. Die Einblicke, die Computertechniken in unbekannte Welten gewähren; die vielfältigen und komplexen Möglichkeiten, die sie eröffnen; die verblüffenden Zahlen, Bilder und Graphiken, die sie erzeugen, beflügeln die Einbildungskraft und Phantasie der Naturforscher. Manch einer vergißt seitdem die gebotene Zurückhaltung und läßt seinen Imaginationen freien Lauf. Er mutiert zum Metaerzähler und Sinnstifter und liefert, was Menschen wollen, aber von den Geisteswissenschaften – derzeit wenigstens – nicht mehr bekommen: Visionen, Zukunftsentwürfe, Heilsversprechen. Wissenschaftler wie Fritjof Capra, Rupert Sheldrike, Frank Tipler, Stephen Jay Gould und andere profitieren von diesem neuen Boom und die Verlage springen schnell und bereitwillig darauf an. Neidvoll blickt die geisteswissenschaftliche Konkurrenz auf deren wachsenden Ruhm. Während die Geisteswissenschaften an den Unis abgewickelt werden und den Verlust von Meinungshoheit und Wortführerschaft in den Massenmedien beklagen, erobern die neuen Pop-Intellektuellen aus Physik und Biologie den öffentlichen Raum.
Ray Kurzweil, Computerwissenschaftler am MIT in Cambridge/Mass und Unternehmer, gehört zu dieser neuen Generation von Wissenschaftlern, die an dieser Zweiseitenform der Technik partizipieren und gekonnt auf der Tastatur der Aufmerksamkeitsökonomie spielen. Ein unerschütterliches Vertrauen in den Fortschritt und die Evolution des Wissens und die Intelligenz zeichnen ihn aus. Auf geschickte Weise verbindet er Forscher- und Unternehmergeist, Erfindungsreichtum und Produktmarketing. Das MIT bietet dafür auch eine hervorragende Umgebung. Anders als hierzulande können Wissenschaftler ihre Erzeugnisse nämlich dort direkt vermarkten. Rodney A. Brooks mit seinen Roboterameisen, Patti Maes mit ihren digitalen Assistenten oder Steve Mann mit seinen Wearcams sind die besten Beispiele dafür.
Von fehlendem Selbstbewußtsein oder gar Selbstzweifel ist bei Kurzweil nichts zu merken. Weder scheut er kühne Behauptungen und waghalsige Prognosen über die Evolution, das Universum und die Zukunft des Menschen. Noch schreckt er davor zurück, einige seiner Erfindungen (Flachbettscanner, Text- und Spracherkennungssysteme) und Produkte wie seine Bücher oder die Erfindung einer Lesemaschine für Blinde auf einer Zeittafel im Anhang, die die wichtigsten Daten der Evolution der Erde und der Technologie zusammenfassen, neben Babbage, Gödel, Turing und den Intel-Gründern Noyce und Moore zu plazieren. Ist es Absicht, Nachlässigkeit oder bloße Schlamperei, daß Bill Gates dort fehlt, dessen überschwengliches Lob den Klappentext ziert?
Wie auch immer, Kurzweils Flug durch das nächste Jahrhundert bewegt sich auf einer Linie, die vor Jahren Marvin Minsky, Nicholas Negroponte, Hans Moravec oder die Verkünder der Magna Carta für den Cyberspace vorgegeben haben: er prophezeit den Auszug des Geistes aus seiner angestammten Hülle, den (End)Sieg der Software über die Materie. Im kurzweiligen Ton und leicht verständlichen Sätzen, führt Kurzweil den Leser bis an jenen Fluchtpunkt, wo Programmatiken des 19. Jahrhunderts: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß" (Nietzsche) wahr, wo rätselhafte Weissagungen des 20. Jahrhunderts über das Verschwinden des Menschen (Foucault) computerbautechnisch möglich werden und das „Zeitalter der spirituellen Maschinen", so der bessere, weil weit genauere Titel der amerikanischen Ausgabe, beginnt.
Nun ist dieses Versprechen einer „postbiologischen Intelligenz" alles andere als neu. Monumente, Bücher, Bilder, Archive und Bibliotheken zeugen von diesem jahrtausendealten Wunsch der Menschen nach Unsterblichkeit. Schon häufig ist dieses Verlangen in den letzten Jahren geäußert, der Tod des menschlichen Körpers prognostiziert worden. Zuletzt von den Programmierern des künstlichen Lebens. Aufregend an Kurzweils Buch ist, daß er sich traut, das Ende des Menschen exakt zu datieren. Seiner Ansicht nach passiert das in genau hundert Jahren. Im Jahr 2099 verschmelzen menschliche und maschinelle Intelligenz. Der Mensch verliert seine zentrale „Stellung als das intelligenteste und das leistungsfähigste Wesen auf Erden."
Diese Botschaft Kurzweils wissenschaftlich abzuklären, fällt schwer. Nicht nur, weil alle Prognosen, die über drei Jahre hinausgehen, unseriös sind. Der Tod des Menschen ist von Kurzweil auch so terminiert, daß keiner der aktuell Lebenden dies je erfahren oder noch bei Lebzeiten überprüfen kann. Deswegen sollte man die Dekadierungen (1999, 2009, 2019, 2029, 2099), die der Autor vornimmt und auf die er so viel Wert legt, nicht allzu ernst nehmen. Stattdessen sollte man das Buch wie einen Science-Fiction-Thriller lesen. Spannend, informativ und unterhaltsam ist die Mischung aus Trekkie-Kultur, Hollywood und Computertechnik allemal.
Wer hingegen mehr sucht als das, den wird die einfache These, die für das Take-over der Maschinen herhalten muß, enttäuschen. Kurzweil beobachtet ein „Gesetz des steigenden Ertragszuwachses", das dem entropischen Verlauf des Kosmos zuwiderläuft. Man findet es, wenn man die Evolution als offenes System betrachtet. Die Entwicklung vollzieht sich innerhalb einer chaotischen Umgebung. Dieser Unordnung entnimmt sie die nötige Information zum Aufbau differenzierter und komplexer Arten und Formen. Und weil Chaos und Ordnung zugleich und in Fülle vorhanden sind, halten selbst Unfälle, Katastrophen oder Kometeneinschläge die Evolution nicht auf. Im Gegenteil: Techniken und Innovationen, zu denen Menschen fähig sind, beschleunigen und steigern sie geradezu. Das Moore'sche Gesetz, wonach sich alle zwei Jahre Rechenleistung und Arbeitsgeschwindigkeit der Chips verdoppeln, ist nur ein besonders prominentes Beispiel für Kurzweils Art zu denken.
Traut man diesem Gesetz exponentiellen Wachstums und setzt die Evolution auf den „leeren Platz" des Königs, dann fallen allerdings alle weiteren Ausführungen wie reife Früchte vom Baum der Erkenntnis. Technologien ersetzen, entlasten oder erweitern den physischen Wirkungskreis des Menschen. Ist Technik erst einmal auf seine Funktion der Dienlichkeit gestutzt, und von Arnold Gehlen über Marshall McLuhan bis zu Jürgen Habermas und Norbert Bolz ist dieses Bild in der westlichen Welt konserviert worden, sind weiteren Extensionen, Supplementierungen und Hybridisierungen des Menschen keine Grenzen gesetzt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es gelingt, mithilfe des Mix aus schnellen Chips, Gehirnscanning, neuronalen Netzen, Künstlichem Leben, virtuellen Realitäten, Knowbots, Gehirnimplantaten und Nanotechnologien das Bewußtsein auf neuen Datenträgern zu speichern.
Die Unbefangenheit und der Mut Kurzweils wird denjenigen überraschen, der sich mit der aktuellen Forschung etwas näher beschäftigt. Die Hirnforschung beispielsweise ist noch Lichtjahre davon entfernt, zu klären, was Bewußtsein überhaupt ist. Ob ihr das jemals gelingen wird, steht in den Sternen. Materialforschungen wiederum zeigen, daß die Kopplung organischer Nervenbahnen mit künstlichen Bauteilen bislang unmöglich scheint. Deshalb kann von einem baldigen Einbau irgendwelcher Gehirnchips, die Wörterbücher speichern, Lustzentren stimulieren und Gottesphantasien in uns auslösen, vorerst überhaupt keine Rede sein. Das Gehirn hat keine Steckdose. Möglich ist höchstens, daß in naher Zukunft hitzebeständigere Datenträger als Silizium gefunden werden. Wann dies allerdings passieren wird, weiß heute noch niemand zu sagen.
Bislang hat sich der menschliche Körper als Wirt und Datenträger trotz seiner Sterblichkeit als überaus beständig und resistent erwiesen. Noch ist es einfacher, den Körper mit Schminke, Silikon und Plasmochirurgie upzudaten. Setzt man nämlich das Gesetz exponentiellen Wachstums dazu in Beziehung, so ist abzusehen, daß ein Großteil dieses Lebens der permanenten Suche nach leistungsfähigeren Designs und dem Auf- und Verwahren von Sicherungsdateien gilt. Schon heute gibt es Leute, die alte Maschinen und Programme in den Kellern stapeln. Die neuesten Versionen werden aber kaum auf den freien Markt erhältlich sein. Und wenn, dann entweder nur als Beta-Versionen für das gemeine Volk und/oder zu Kampf- oder Höchstpreisen für die maschinellen Eliten.
Von diesen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Kriegen der Zukunft erfahren wir nichts. Auch nichts von den schwarzen Löchern, die die Technik der Weltgesellschaft zufügen wird. Ein Gibson light, den Kurzweil uns da anbietet. Der künftige Homo S@piens hingegen wird ein free lancer sein. Getreu der amerikanischen Maxime vom freien Markt und von dynamischer Konkurrenz, wird er zugleich Individualist und Unternehmer sein, dessen Leidenschaften, Körperkonfigurationen und Liebesaffären von einem persönlichen digitalen Sklaven produziert, gesteuert und kontrolliert werden.
In hundert Jahren, verkündet Kurzweil vollmundig, wird der Geist „eine einzige, glückliche und große Gesellschaft" sein. „Schwer zu sagen, wo eine Person anfängt und die andere aufhört." Tröstlich für uns Zurückgebliebene, daß die Sorgen des Alltags den „spirituellen Maschinen" erhalten bleiben. „Das Leben", sagt Molly, Kurzweils Idoru, die statt des Autors in die Zukunft reist und zwischendurch immer wieder Zwiesprache mit ihm hält, „ist alles andere als einfach. Dazu muß ich viel zu vielen Erwartungen und Verpflichtungen gerecht werden."
Wenn das so ist, bin und bleibe ich, Marius Müller-Westernhagen im Hintergrund trällern hörend, doch lieber hier.
Ray Kurzweil: Homo S@piens. Leben 21. Jahrhundert – Was bleibt vom Menschen? Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm, Enrico Heinemann, Ute Mihr, Thomas Pfeiffer und Reiner Pfleiderer. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1999, 508 Seiten, 49.80 Mark.