Sprechende Zeichen
Otto Neuraths revolutionäre Methode der Bildpädagogik
Text oder Bild? Web-Publishing gilt als Hoffnung einer unproblematischen Kommunikation auf der Basis kultur- und sprachüberschreitender Ikonizität im visuell geeinten Global Village. Ein neues, über die Technik konzeptioniertes Wissensdesign revolutioniert die Sprachkultur, wobei Gestalterkennung die lineare Codierung tendenziell ersetzt. Nichtalphabetisches Lesen oder die Rückkehr zum Ikonischen haben eine längere Geschichte als innerhalb des durch elektronische Medien beeinflußten Wandels der Wahrnehmungsgewohnheiten. Im Sinne optischer Leitsysteme unter Verwendung stilisierter Icons ist dieses 'andere Lesen' längst unverzichtbarer Teil unseres Alltags. Das neue Wissens- und Kommunikationsdesign geht wesentlich auf die Pionierleistung wissenschaftlicher Visualisierung durch Otto Neurath (1882-1945) zurück.
Neue Wissenschaft, neue Gesellschaft
Otto Neurath war ein Pionier in vielerlei Hinsicht: in seinen Schriften finden sich Beiträge zu Nationalökonomie, Soziologie, Wissenschaftstheorie und Sozialphilosophie. Beachtlich ist jedoch vor allem sein revolutionärer kommunikationstheoretischer Ansatz, der die Rolle der Kommunikation in der Entstehung des modernen Menschenbildes reflektiert. Im weiteren Kontext einer "wissenschaftlichen Weltauffassung" artikulierte er eine Frühform der Medienpädagogik, die er als Fortsetzung des Aufklärungsprogramms verstanden hat: der durchaus politische Kampf gegen die Abstraktionen der Metaphysik sollte durch eine kommunikationstechnische Rückkehr zum Ikonischen (in Form einer 'International Picture Language', bzw. von ISOTYPE) ausgetragen werden. Ausgangspunkt dazu war das 1924 in Wien gegründete Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, einem "Volksbildungsinstitut für soziale Aufklärung" (Neurath), das darüber hinaus mit der Frage, wie soziale Verhältnisse sichtbar gemacht werden können, ein Konzept für die "Museen der Zukunft" lieferte.
Eine gegenwärtige Annäherung an die Überlegungen Neuraths ist von Ambivalenz getragen, haben sich doch gesellschaftliche Bedürfnisse sowie das politische Umfeld seit den zwanziger/dreißiger Jahren gravierend geändert, und die technische Medienrealität ist mit ihrer elektronischen Revolutionierung inzwischen ebenfalls eine grundlegend andere. Von der sozialistischen Hoffnung auf eine neue Gesellschaft - für Neurath noch mit sehr konkreten Erwartungen verbunden - ist praktisch nichts geblieben, und das Wahrnehmungsfeld gesellschaftlicher Zustände und Ereignisse hat sich durch die Medienentwicklung eminent verschoben. Heute zeigen die Texte Neuraths überraschend deutlich, wie sehr die Wurzeln des "Wiener Kreises" (wie der wissenschaftliche Verein Ernst Mach von ihm genannt wurde) aus der gesellschaftlichen Krise um die Zeit des ersten Weltkrieges und danach zu verstehen sind. Im Gegensatz zur künstlichen Purifizierung des philosophischen Gedankens in der selbstgenügsamen analytischen Philosophie zeichnet sich bei ihm ein deutlicher Zug zu einer Wissenschaftstheorie ab, die vor radikaler Gesellschaftskritik nicht zurückschreckt.
Nicht nur als politischer Visionär erweist sich Neurath dabei als erstaunlich modern, sondern auch im wissenschaftlichen Ansatz selbst: sein Programm zu einer "Einheitswissenschaft" bedeutet nicht oberflächliche Nivellierung - der Vorwurf des Positivismus wäre hier voreilig - sondern das, was gegenwärtig als 'Transdisziplinarität' Fragestellungen quer durch alle Disziplinen verfolgt. Außerdem hat Neurath sich über die Fragen nicht nur der Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse, sondern auch des Wissenstransfers unter Einbeziehung der wissenschaftlichen Akteure und der Adressaten gründlich Gedanken gemacht. Eine gewisse Nonchalance im Umgang mit geschichtphilosophischem Ballast, der die Wissenschaftsgeneration seiner Zeit besonders zu drücken schien, kam seiner zentralen Forderung geradezu entgegen: Wissenschaft in den Dienst von Gesellschaftsveränderung zu stellen. Otto Neuraths wissenschaftslogische Skepsis auch gegenüber jeder disziplinären Verpflichtung erinnert entfernt an diejenige des amerikanischen Pragmatismus im Sinne Richard Rortys: das Votum lautet, es mit den Antwortversuchen der metaphysischen Tradition gut sein zu lassen, weil wir inzwischen einfach ganz andere Fragen zu lösen haben.
Geschichtlicher Kontext
Neurath verhielt sich stets subversiv zum akademischen Bildungs- und Wissenschaftsideal; er engagierte sich in der Münchner Räterepublik und war für kurze Zeit Präsident des Bayrischen Zentralwirtschaftsamtes - seine Venia legendi am soziologischen Institut von Max Weber in Heidelberg hat er allerdings aufgrund der politischen Aktivität verloren. Wenn man akzeptiert, daß es in der Philosophie nicht um "wissenschaftliche Tatsachen" allein geht, sondern um die Differenz von Erscheinung und Realität (bzw. deren Konstruktion), dann war Neurath sicher auch Philosoph. Er thematisierte diese Differenz als eine zwischen Anspruch und Wirklichkeit der gesellschaftlichen Moderne, als Widerspruch zwischen den Idealen der bürgerlichen Aufklärung und den lebensweltlichen Kosten der Modernisierung.
Seine Frage lautet: wie kann der Wissenschaftler als "Gesellschaftstechniker" zur Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Konstruktion beitragen? Die Antwort war auf eine einfache Prämisse gebaut: Die Verbesserung der menschlichen Lebenslage läuft über konkrete Maßnahmen - betreffend Wohnung, Nahrung, Kleidung, Arbeitszeit - auf wissenschaftlich-methodischer Grundlage von empirischer Beobachtung und logischer Analyse. Wissenschaft für eine schöne neue Welt? Für Neurath waren es die harten Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, die ihn von der Machbarkeit einer wissenschaftlich fundierten Gesellschaftstechnik überzeugt haben. In Organisationsfragen des österreichischen Kriegsministeriums engagierte er sich zuerst; in der zentral verwalteten Naturalwirtschaft sah er im weiteren die Möglichkeit eines radikalen Bruchs mit abstrakten Einheiten (Geld) als dem Regulativ der Gesellschaft.
Der durch die Kriegsverhältnisse erzwungene Eingriff in ökonomische Zusammenhänge signalisiert politische Machbarkeit; Neurath sagt an einer Stelle, daß es die Erfahrungen des Krieges seien, welche die Utopie gesellschaftsfähig machten, da in ihm tiefgreifende Änderungen sozusagen "über Nacht" (d.h. aber auch ebenso unerwartet wie unfreiwillig) realisiert würden: Die Wirtschaft ist keine Ordnung "an sich", sondern enthüllt sich genau hier als eine äußerst manipulierbare Maschinerie. Den wissenschaftlichen Fortschritt mochte er sich ganz ähnlich vorstellen: aus Diskontinuitäten stammend und nicht aus kognitiver Weiter- oder Höherentwicklung. Später nannte man das "Paradigmenwechsel" (Thomas S. Kuhn).
Entwurf einer Universalsprache
Für die Sozialtheorie bedeutet das auf der einen Seite eine Rekonstruktion der Wissenssysteme, auf der anderen Seite aber das Sich-Einlassen auf konkrete Gesellschaftsorganisation. Neuraths Anspruch auf eine Einheit von Wissenschaft und Gesellschaft kennt als treibendes Motiv nicht nur die Frage, wie Einheit in die theoretische Ordnung zu bringen ist, sondern vor allem, wie jene soziale Verbindlichkeit zu erreichen wäre, um die Sozialwissenschaften für eine vernünftige Gesellschaftsordnung fruchtbar zu machen.
Er war zuversichtlich, damit den Dualismus der europäischen Philosophie - das Auseinanderstreben von Vernunftperspektive und Handlungspotential bzw. von Theorie und Praxis - als dräuenden Überhang des 19. Jahrhunderts programmatisch überwinden zu können. Aber er wußte, daß nur eine historisch vergleichende Betrachtung und nicht axiomatische Setzung zur Einheitswissenschaft führen kann. Nur so ließe sich ein utopisches Kollektiv der wissenschaftlichen Forscher begründen, welches freilich nicht als autarke Gelehrtenrepublik intendiert war, sondern mit volkpädagogischer Intention: Neurath entwickelt dazu die bereits in Ansätzen bestehende "bildstatistische Methode" weiter und propagiert flexible Präsentationsformen wissenschaftlicher Ergebnisse.
Der Aufklärungsimpuls sollte zu einer Neuauflage der Enzyklopädie als einer aufklärenden Weltübersicht in Theorien und Bildern führen - nicht jedoch als verbindlicher Standard, sondern als gedankliches Rahmenmodell der sich stets verändernden Bedingungen gesellschaftlicher Wissensproduktion. Denn Neurath war sich wohl der Gefahr bewußt, die darin liegt, "ein System von absoluter Geltung errichten zu wollen". Die Enzyklopädie war gedacht als eine provisorische Ansammlung von Wissensbeständen, abhängig vom Gebrauch und künftiger Systematisierung und Präzisierung. Neurath geht es um ein neues Beziehungsmuster zum Wissen, und diese Haltung ist das vielleicht Bestechendste an seiner Theoriebildung: das Angebot ergeht an das Kollektiv auch im Sinne der künftigen Anwender - und genau hieraus erklärt sich seine Konzentration auf die kommunikativen Aspekte und auf Fragen der Darstellung.
Systematisierung bildlicher Darstellung
Wie ist es nun um diesen kommunikationspraktischen Aspekt der Theoriebildung bestellt? Auf einer ersten Ebene sollte die Verständigung innerhalb der Forschergemeinschaft verbessert werden, auf einer zweiten Ebene dann der allgemeine Zugang zum Wissen. Auf der ersten Ebene hilft die wissenschaftliche Einheitssprache, auf der zweiten die Schaffung einer neuen Bildsprache. Denn wenn man sich schon darüber einig ist, daß das Wissensreservoir ständig wächst, dann benötigt man im nächsten Schritt eine Beantwortung der Frage des Zugangs zum Informationspool der modernen Gesellschaft. Und hier hat Neurath etwas kommunikationstheoretisch ganz Wesentliches erkannt: da, wie Gestalt- und die Wahrnehmungspsychologie im ausgehenden 19. Jahrhundert zu zeigen vermocht hat - ein Großteil der Informationen, denen ein Individuum augesetzt ist, optisch verarbeitet wird, kann man daraus den Schluß ziehen, daß Informationen visualisiert bzw. Daten in Bilder verwandelt werden müssen, um überhaupt entsprechend wahrgenommen zu werden.
Metaphysische Termini trennen - wissenschaftliche Termini verbinden. Die Wissenschaftler, geeint durch die Einheitssprache, bilden eine Art Gelehrtenrepublik der Arbeit, möge sonst noch so vieles die Menschen trennen.
Otto Neurath, Einheitswissenschaft und Psychologie, 1933
Weiters werde die Systematisierung der bildlichen Darstellung zu einer neuen Bildsprache dabei helfen, allgemein zugängliche Übersichten zu verschaffen und Zusammenhänge zu sehen, die durch den abstrakten Ausdruck, ja sogar durch Worte und Ziffern, verstellt werden. In mehreren Aufsätzen - beispielsweise in 'Bildliche Darstellung sozialer Tatbestände' (1926) und natürlich in 'Bildstatistik nach der Wiener Methode' (1931) - hat Neurath eine suggestive Maxime dazu geprägt: "Worte trennen, Bilder verbinden". Wie ist das vorzustellen - können Bilder verbinden, was Worte angeblich trennen?
Das Jahrhundert des Auges
Die neue Methode der Darstellung ist auf Regeln einer ikonischen Kommunikation gebaut, weil Neurath gesehen hat, daß allgemeine Zugänglichkeit mit visuellen Mitteln leichter zu erreichen ist als über den Umweg von Alphabetisierungskampagnen. Damit hat er ganz gut erkannt, daß längst neue Kommunikationsmittel und -techniken im Entstehen waren. Es sind die technischen Medien um 1900, die für wesentliche Aspekte einer neuen Ordnung der Dinge sorgen. Neurath hat das seinerzeit genau regisitriert, wie sein Text über 'Statistische Hieroglyphen' von 1926 belegt:
Die modernen Menschen empfangen einen großen Teil ihres Wissens und ihrer allgemeinen Bildung durch bildhafte Eindrücke, Illustrationen, Lichtbilder, Filme. Die Tageszeitungen bringen von Jahr zu Jahr mehr Bilder. Dazu kommt das gesamte Reklamewesen, das einerseits mit optischen Signalen, andererseits auch wieder mit Darstellungen arbeitet. Ausstellungen, Museen sind durchaus Kinder dieses Schaugetriebes.
Otto Neurath
Das Jahrhundert des Auges nennt er deshalb unser Zeitalter:
Häufige Änderungen der visuellen Umgebung gehören heute zu den Kennzeichen des modernen städtischen Lebens, das allmählich auch in die ländlichen Gebiete vordringt. Plakate rufen uns von den Wänden auf Straßen und in Korridoren zu; Ausstellungen laden uns ein; Millionen Menschen schauen Abend für Abend auf die Kinoleinwand; eine wachsende Zahl von Zeitschriften und Broschüren bringt neue Bilder ...
Otto Neurath
Nein, keine Klage über die Informationsexplosion schließt sich hier an - Neurath verfällt ob dieser Diagnose auch nicht in ein konservatives Lamento über den allgemeinen Kulturzerfall, sondern propagiert gleichsam eine Flucht nach vorn: das Mittel dazu ist eine praktische Anwendungsform der ikonischen Kommunikation, die er Bildstatistik nach Wiener Methode nennt. Sie wird prägnant definiert:
Ein Bild, das nach den Regeln der Wiener Methode hergestellt ist, zeigt auf den ersten Blick das Wichtigste am Gegenstand; offensichtliche Unterschiede müssen sofort ins Auge fallen. Auf den zweiten Blick sollte es möglich sein, die wichtigeren Einzelheiten zu sehen und auf den dritten Blick, was es an Einzelheiten sonst noch geben mag. Ein Bild, das beim vierten und fünften Blick noch weitere Informationen gibt, ist, vom Standpunkt der Wiener Schule, als pädagogisch ungeeignet zu verwerfen.
Otto Neurath
Die Methode, einfach ausgedrückt, war die, nicht einfach Zahlen und Daten zu illustrieren, sondern einen gänzlich neuen Typus von Zeichen zu kreieren, der so direkt wie möglich zum Bezeichneten steht (der also, semiotisch ausgedrückt, das Objekt mit höchstmöglicher Ikonizität repräsentiert). Dieser neue Typus von Zeichen sollte dann mit höchstmöglicher Konsequenz verwendet werden: unmittelbare, selbsterklärende Zeichen mußten gesetzt werden, dieselben Zeichen für dieselben Dinge, mehr Zeichen (nicht etwa größere) für eine höhere Quantität, und die Zeichen sollten nicht stellvertretend sein, sondern ikonisch. Die Regeln für ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education, 1934), die neue Bildsprache, waren einfach und streng.
Neue symbolische Werkzeuge
Die alte Forderung des bürgerlichen Aufklärungszeitalters nach Publizität galt es unter Berücksichtigung der sich revolutionierenden Kommunikationsverhältnisse neu einzulösen. "Eine neue Bilderschrift ist im Entstehen . . . ein Bilderlexikon mit einer Bildgrammatik." Das heißt nichts anderes, als daß jede ikonische - d.h. synthetisch-zeichenhafte statt linear-decodierende - Kommunikation der Erweiterung meiner sprachlichen Umgebung dient; oder, um Wittgenstein zu paraphrasieren: dem Sprengen der sprachlichen Begrenzung meiner Welt.
In der Vergangenheit der Schriftkulturen war die Bilderschrift ein Mittel der Unterprivilegierten, und wer sie propagiert, unterwandert das verbalzentristische Dogma der neuzeitlichen Intellektualität. Philosophisch gesehen hatte dieses Dogma im zwanzigsten Jahrhundert Konjunktur. Neurath hat mit den Borniertheiten der später so genannten sprachanalytischen Philosophie nichts gemein. Er war vom Werkzeugcharakter der Sprache fest überzeugt; die Sprache als Kommunikationsmittel galt es aktiv zu gestalten und notfalls radikal zu ersetzen - immer unter der Einschränkung, daß die absichtliche Erstellung von Konventionen im größeren Ausmaß nicht möglich ist. "Sprache machen", das heißt als Aufgabe für den Philosophen die adäquate Übersetzung der Realität in Metaphern oder in "sprechende Zeichen" mit dem möglichen Resultat eines im Sinne des Pragmatismus für jegliche Veränderung offenen "Thesaurus von symbolischen Werkzeugen" .
Damit erweist sich Neurath als in einer erfolgversprechenden Richtung entsprechend sensibilisiert: optische Methoden sollen die liegengebliebenen Aufgaben der Aufklärung lösen und diese von ihrem restriktiven, dem religiösen Bilderverbot verpflichteten Bildungsideal befreien. Die Humanisierung des Wissens, so die Programmatik, ist durch visuelle Mittel wie ISOTYPE zu realisieren.
Der gewöhnliche Bürger sollte in der Lage sein, uneingeschränkt Informationen über alle Gegenstände zu erhalten, die ihn interessieren, wie er geographisches Wissen von Karten und Atlanten erhalten kann.
Otto Neurath
Dem argwöhnischen Leser kündigt sich hier zwar ein Widerspruch an: so wie das Lesen einer Straßenkarte die Erfahrung der Reise niemals ersetzen kann, ist direkte Weltwahrnehmung durch ein symbolisches System nicht zu ersetzen. Bei genauerer Überlegung vermag Neurath aber wiederum zu überraschen. Wenn wir nämlich bedenken, daß es im Medienzeitalter auf diese Direkterfahrung letztlich nicht mehr sosehr ankommt, weil das Mediale und das Außermediale sich in der sozialen Realität nicht mehr einfach trennen läßt, dann hat Neurath recht behalten: schließlich sind es die symbolischen Werkzeuge, die uns die Orientierung in jenem Konstrukt erlauben, das wir aus Gewohnheit 'unsere Welt' nennen - ob wir uns physisch in ihr bewegen oder nicht, das wird (trotzt Handke) zur Nebensächlichkeit. Neurath zieht unausgesprochen den richtigen Schluß aus der Tatsache, daß die Wahrnehmung nie eine reine ist, sondern immer schon Interpretation, und konzentriert sich deshalb auf den Aspekt des Kommunikationsmediums.
Universalcode?
Sollte es gelingen, den durch die Druckerpresse gesetzten kommunikativen Vereinheitlichungsprozeß mit anderen Mitteln, in einem anderen Kontext, zu wiederholen? Wenn Neurath versucht, mittels Konfigurationen den cartesisch/kantianischen Erkenntnisraum zu durchbrechen, dann schließt er damit an die zahlreichen Versuche an, eine Idealsprache zu finden bzw. neu zu konstruieren. "Da der Hauptzweck der Sprache beim Kommunizieren der ist, daß man verstanden wird", schrieb John Locke Ende des siebzehnten Jahrhunderts, "eignen sich die Wörter für diesen Zweck nicht gut." In der Suche nach einem geeigneteren Medium sollte noch bei Neurath eine die bürgerliche Emanzipation begleitende kommunikative Herrschaftsphantasie sich fortsetzen, die ihren Ausdruck in den Schriften fast aller Aufklärer fand - von Leibniz' Characteristica Universalis bis zum aufgeklärten Empirismus in d'Alemberts und Diderots Encyclopédie.
Bei der Menschheitsbeglückung durch ein rationales Kommunikationsinstrument wurden potentielle Anwender nämlich gar nicht erst gefragt, die Eliminierung der Bedeutungsprobleme in wissenschaftstherapeutischer Absicht aber dennoch immer wieder auf die Sozialverhältnisse zu übertragen versucht. In diesem Sinn war denn auch Neurath typisch modern. Gerade unter dem Eindruck der gesellschaftlichen Krise nach der Jahrhundertwende schien die Gesellschaftsutopie sich bestens beleben zu lassen, indem man die Symbolsprache durch Vereinheitlichung erneuerte und so die Realisation des transzendentalen Geschichtsziels politisch vorantrieb - worin sich bekanntlich Nationalismen und Sozialismen stark konkurrenziert haben.
Die weiterführende Frage aber ist die, ob der gegen die Arbitrarität des Verbalen angestrebte Universalcode denn nun funktioniert oder nicht. Bilder sprechen, und Neurath verlangt nach sprechenden Zeichen zur Herstellung geeigneter Bilder:
Die Bildstatistik operiert von vornherein mit räumlich-zeitlichen Gebilden, während in der Wortsprache die Möglichkeit besteht, sinnleere Verknüpfungen zu verwenden, deren Beseitigung oft mühevoll ist. Worte tragen mehr emotionelle Elemente in sich als Mengenbilder, die von Menschen verschiedener Länder, verschiedener Parteien ohne Widerspruch aufgenommen werden können; Worte trennen, Bilder verbinden.
Otto Neurath
Dies entspricht ganz der philosophisch-therapeutischen Programmatik einer wissenschaftlichen Weltauffassung, welche die Welt von den hinderlichen 'Sprachschlacken' der Tradition befreien wollte. Die Ästhetik des Surrealismus und die moderne Computertechnologie hat Neurath in diesem Punkt allerdings widerlegt, indem sie sehr wohl via Photo-Composing und Morphing, also mit digitaler Bildbearbeitung, surreale Scheinwelten unter der Brechung physikalischer Gesetze erzeugen kann: optische Montagetechniken erlauben ebenso sinnleere Verknüpfungen wie die Wortsprache - angefangen mit den Bildparadoxien von René Margritte bis hin zu den digital erzeugten Videosynthesen. Eine visuelle Sprache - und das gilt besonders für den Substitutionscode der Piktogramme - wird aber auch als noch so elaboriertes semiotisches System immer parasitär von den Inhalten der natürlichen Sprache abhängen.
Soziales Interface-Design
Piktogramme - besonders solche, die soziale Prozesse im raum/zeitlichen Sinn betreffen - bedürfen der kontextuellen Erklärung. Ihr Einsatz ist nicht nur historisch, sondern auch ethnisch-kulturell beschränkt. Die Grenze der Piktogramme als Bauelemente eines Universalcodes liegt eben darin, daß "Bilder zwar die Form oder Funktion einer Sache ausdrücken können, sich aber schwer tun, wenn sie Handlungen, verbale Tempi, Adverbien oder Präpositionen ausdrücken sollen." (Umberto Eco) Ein ausschließlich ikonisch aufgebauter Universalcode scheint daher unmöglich; ein Bild vermag Eigenschaften darzustellen, es funktioniert aber nicht als Substitutionscode für Sachverhalte, denen immer mehr als bloß die visuell darstellbaren Züge eigen sind. Ein Bild sagt mehr als tausende Worte; tausend Worte sagen wiederum oft genug mehr als ein bloßes Bild. Das Problem mit einer perfektionierten Universalsprache, deren Vollkommenheit auf logisch-mathematisches Kalkül gebaut sein soll, lag darin, daß auch ihre Inhalte letztlich ideal werden müssen: ihre Probleme liegen dann ausschließlich auf der Ebene des Syntaktischen. In dem Bestreben nach einer endgültigen "Entbabylonisierung" (Neurath) hat eine Bildzeichensprache deshalb ihre Bedeutung in den pragmatischen Aspekten. Wird es nun also Sprechende Zeichen geben, die unsere Kommunikation verbessern? Ich fürchte, diese Vorstellung ist insgesamt doch etwas problematischer als es zunächst scheint. Neurath vermischte die Dimensionen von 'Zeichen' im semiotischen und 'Bild' im kommunikationspraktischen Sinn (Achim Eschbach hat dies genauestens analysiert). Ein 'Zeichen' eines 'Objektes' ist mehr als sein bloßes 'Bildzeichen' - es hat eine syntaktische, eine semantische und eine pragmatische Dimension. Künftige Interpretationen beispielsweise, aber auch 'Dialekte', wie sie sich in jeder lebendigen Sprache aus ihrem sozialen Gebrauch heraus entwickeln, beschränken die Optimierungsmöglichkeiten von Sprache im sozialtechnischen Sinn. Das betrifft auch die bildsprachliche Ebene, deren Bedeutung konventioneller Natur ist und daher stets neu erlernt werden muß, statt einfach vorausgesetzt werden zu können.
Moderne Kommunikation jedoch, in der viel über Logos und Icons läuft, ist auch voller funktionierender Sprechender Zeichen. Interface-Designer arbeiten selbstverständlich mit ihnen, und im Zusammenhang mit interaktiven Medien scheint dies auch ganz prächtig zu funktionieren. Neurath und sein Team (vor allem der Graphiker Gert Arntz) haben hier nicht nur Standards zur Präsentation statistischer Daten gesetzt, sondern auch Generationen von Graphikern beeinflußt.
Eine weitere Überlegung ergibt sich aus der Pespektive des World Wide Web, dem innovativsten Kommunikationswerkzeug unserer Zeit. Wie bereits zitiert, plante Neurath uneingeschränkten Informationszugangs für jedermann; der Bürger sollte beliebig Wissen erwerben können, so wie er geographische Kenntnisse aus Landkarten und Atlanten gewinnen kann. Nun trägt dies der Tatsache Rechnung, daß die direkte Erfahrung im Medienzeitalter keine höhere epistemische Glaubwürdigkeit mehr hat als der indirekte Wissenserwerb. Vor allem, da wir uns mittels symbolischer Werkzeuge in der Welt bewegen, ist es keine leere Forderung, daß Intellektuelle ihre Werkzeuge in einem breiteren als dem bloß verbalsprachlichen Kontext zu entwickeln hätten. Hier läßt sich von Neurath lernen, daß (Kommunikations-)Design auf die Entwicklung von sozialen Interfaces hinausläuft.
"We return to the inclusive form of the icon", konstatierte Marshall McLuhan in 'Understanding Media'. Seine Diagnose stützt sich auf das Medium Fernsehen, an dem erkennbar wurde, daß mediale Repräsentation, Information und Unterhaltung in neuen Formen jenseits der typographischen Ordnung des Alphabets stattfinden. So hat sich langsam die Einsicht durchgesetzt, daß es auch andere Formen des Lesens gibt als bloß solche, die vom alphabetischen Code unterstützt werden. Es gibt Formen ikonischer Kommunikation (und unsere Lebenswelt ist nachgerade gesättigt damit), die sich in der kommunikativen Praxis überzeugender und angemessener einsetzen lassen als die lineare wissenschaftliche Argumentation. Wie das Beispiel Otto Neuraths zeigt, bedurfte es nicht erst der Einführung des Fernsehens, damit sich diese Erkenntnis gewinnen läßt. Beeindruckend gerade heute ist seine Überzeugung, daß wir dem medialen Wandel keineswegs hilflos ausgesetzt sind, sondern daß wir selbst es sind, die ihn aktiv gestalten können.
Frank Hartmann ist Lektor für Publizistik und Geschichte an der Universität Wien und Geschäftsführer des Forum Sozialforschung in Wien.