Sputnik und die Ökologisierung des Weltbildes

Wie der Sputnik-Schock eine nachhaltige Veränderung des menschlichen Wahrnehmungs- und Informationsraumes bewirkte, die Vorstellungskraft in Richtung Umweltbewusstsein drängte und die elektronische Vernetzung förderte

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Einhellig wird in den Medien derzeit 50 Jahre Space Race gefeiert – spätestens mit dem am 4. Oktober 1957 gestarteten russischen Satelliten Sputnik wurde die Eroberung des Weltalls zu einer pathetischen Obsession der Techno-Zivilisation.

Am 4. Oktober 1957 startete der russische Sputnik und löste den Wettlauf zum Mond aus. Bild: ESA

At the moment of Sputnik, the planet became a global theater in which there are no spectators but only actors.

Marshall McLuhan

Doch mit der Satelliten-Technologie begann vor allem eine neue Phase der Wahrnehmung unseres Planeten und eine Reorganisation der Wissenskultur: Mikrochips, elektronische Datenvernetzung, Schulfernsehen, Medientheorie, aber auch Gegenkultur und ökologisches Denken – all dies steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Sputnik-Schock.

Mit dem Start des Sputnik wurde der Planet zu einem Welttheater, in dem es keine Zuschauer, sondern nur Akteure gibt. Das 'Spaceship Earth' befördert keine Passagiere, jeder gehört hier zur Besatzung.

Marshall McLuhan

Indem die Funksignale des Satelliten ihr technisches Gespinst um den Globus webten, wurde eine neue Ganzheit geschaffen, was von ähnlicher Bedeutung war wie ein Jahrhundert zuvor die Telegrafie für die Einheit der Nation. Dieser epochale Kunstgriff bedeutete nichts weniger als die Abschaffung der Natur zugunsten von Ökologie, einem Denken in Umweltzusammen­hängen:

Ökologisches Denken wurde unabdingbar, sobald dem Planeten so der Status eines Kunstwerks verliehen wurde.

Marshall McLuhan
Das Bild der hinter dem Mond aufgehenden Erde, von Lunar Orbiter am 23. August 1966 aufgenommen, wurde zum Bild des Jahrhunderts erklärt. Bild: Nasa

Overview-Effekt

Von der Natur zur Ökologie - dies bedeutet einen Wechsel nicht allein der ästhetisch-visuellen, sondern der epistemischen Ordnung; ein Perspektivenwechsel von der Bearbeitung zur Beobachtung, von der Wirklichkeit zur Resonanz, von der Industrie zur Information. So wurde Sputnik zum zum medienphilosophischen Effekt. Sprach man bereits im Telegrafenzeitalter von einer weltumspannenden Kommunikation, konnte sie trotz Transatlantikverkabelung erst mit der Satellitentechnologie (Transistoren und Mikrowellenfunk) tatsächlich überzeugen. Man kann die Satellitenanzahl derzeit auf ca. 8.600 schätzen und viele davon auch live beobachten.

Quelle: NASA History Division

Auch die Umkehrung des Blicks, Hauptzweck der meisten Satelliten, ist interessant. Von künstlichen Trabanten aus imaginiert, mutierte die Erdoberfläche zum Footprint der Satelliten. Die enthobene Position des Satellitenblicks sollte bald auch die globale Ikone des Medienzeitalters produzieren. 1948 ahnte der britische Astrophysiker Sir Fred Hoyle, dass erst die Fotografie von außen einen wirkungs­mächtigen Effekt auf die menschliche Wahrnehmung der Erde haben würde.

Dieser später so genannte "Overview-Effekt" (Frank White) war zuerst von Kameras und danach die nur von wenigen, aber nach Yuri Gagarin (Wostok 1, 1961) von immerhin noch ca. 200 Menschen persönlich gemachte Wahrnehmung des Planeten aus extraterrestrischer Perspektive. Sputnik sandte zunächst nur weltweit Funksignale, die ein paar Tage lang auch für Funkamateure regional hörbar waren.

Doch Sputnik war eine Art blinde Drohne, das erste Weltraumbild unseres Planeten konnte erst vom US-Forschungssatelliten Lunar Orbiter gemacht werden: die 1966 von der Mondumlaufbahn zur Erde gefunkte Aufnahme der über dem Mond aufgehenden Erde ging als "Foto des Jahrhunderts" in die Geschichte ein, das am 8. August 1967 entstandene Bild von der "Whole Earth" ebenfalls.

Bild von der "Whole Earth". Quelle: NASA History Division

Die Aufnahmen wurden später mit hochwertigen Hasselblad-Kameras von Astronauten der Apollo-Missionen in Farbe wiederholt. Besonders die Abbildung vom November 1967 brannte sich als "Blue Planet" ins kollektive Bewusstsein ein. Die Symbolik dieser technischen Verbildlichung ist nicht zu unterschätzen, und sie sollte in den Folgejahren unermesslich steigen, zur visuellen Metapher für Nachhaltigkeit mutieren, aber auch zum Devotionalienmotiv des ökologischen Sentiments erhoben werden, wie an der Bibel der amerikanischen Gegenkultur ersichtlich wird, dem Whole Earth Catalog.

Globale Ikone

Im Sputnik-Jahr 1957 mischte sich eine Faszination des Technischen mit der Angst vor dem Unbekannten des technischen Fortschritts, wie es mit allem der Fall ist, was sich der menschlichen Imagination entzieht. Nun ging es um das Ganze, womit immer auch gemeint ist, dieses Ganze signifikativ in den Griff zu bekommen. Nichts schien dazu besser geeignet als die Ikone vom Blue Planet, die der technische Blick vom Weltraum aus erzeugte. Sie steht für jenes geänderte Verhältnis der Menschen zu ihrem Planeten, das Visionäre wie der amerikanische Architekt Buckminster Fuller im Sinne einer anstelle blinden Fortschritts zu setzenden bewussten Gestaltung eingefordert hatten.

Die Lunar-Mission sandte die ersten Bilder; doch weil die NASA ihre Daten nicht veröffentlichte und zunächst nur Teilbilder vom Blue Planet freigab, startete Computeringenieur und LSD-Versuchskaninchen Steward Brand eine Kampagne zur Freigabe des mythischen Bildes, von dem er annahm, dass es eine einschlagend bewusstseinsverändernde Wirkung haben würde. 1969 war es dann soweit: Das Bild von der ganzen Erde zierte das Cover des von ihm herausgegebenen Whole Earth Catalog und symbolisierte damit mehrschichtig den in diesem Druckwerk manifestierten Ganzheitseffekt:

Bucky [Buckminster Fuller] led me to this notion. He said people still think the earth is flat because they act as if its resources are infinite. But that photograph showed otherwise… This is all we’ve got and we’ve got to make it work. There’s no backup.

Steward Brand in Massive Change Radio
Titel des Whole Earth Catalog von 1969. Bild: Wikipedia

Jener Katalog entsprach nach dem Selbstverständnis seiner Macher einem Werkzeug, das frühere, etwa in Form von Enzyklopädien realisierte Weltprojekte überbieten und eine Verstärkerfunktion für das ökologische Bewusstsein und Umweltaktivismus bilden sollte – organisiert durch einen Postversand für brauchbare Dinge. Denn dies war sein Inhalt: Hinweise auf brauchbare Produkte, Bücher, Zitate, Produkte, Hinweise auf Bezugsquellen, auf Kurse usw., kurz alles, was ein bewusstes und selbstbestimmtes Leben ermöglichen sollte.

Der Katalog bot umfassende Handreichung für Gutmenschen, Marihuana-Pflanzer, Öko-Bauern, Informatiker, Kulturarbeiter, Medienleute, aber auch Gesellschaftskritiker. Die dahinter stehende medienphilosophische Idee war ganz einfach die Navigierbarkeit durch vorhandenes Wissen, dieser Katalog – dessen Selbstbezeichnung lautete "an evaluation and access device" – war so etwas wie ein Browser und eine Suchmaschine zugleich. Steve Jobs (Apple Inc.) jedenfalls bezeichnete ihn in einer unlängst gehaltenen Rede als das Google seiner Generation:

It was idealistic, and overflowing with neat tools and great notions.

Zitiert nach Whole Earth Catalog

Natürlich wurde nicht nur dadurch, dass Steward Brand mit The Well die erste virtuelle Online-Community gründete, eine Brücke "von der Gegenkultur zur Cyberkultur" (Fred Turner) geschlagen. Die Verbindung ist grundsätzlicher Art – schon der amerikanische "Weinberg-Report" (1963) dokumentierte das Bewusstsein einer Krise des Informationswesens. Sein Vorschlag ging dahin, die Etablierung von Fach-Informationszentren mit elektronischen Datenbanken zu forcieren und die Wissenskultur in Richtung einer Vernetzung auszubauen.

Sputnik als Medium war tatsächlich die Botschaft

War eine medienphilosophische Konsequenz des Sputnik-Schocks die Erzeugung eines technischen Bildes von unserem Planeten, so bestand eine weitere in der veränderten Wahrnehmung von Information. Seit Beginn des Jahrhunderts gab es Bestrebungen, die Technik der Informationsselektion (information retrieval) zu revolutionieren und über die Grenze der Buchkultur, über das bibliothekarische Denken hinauszutreiben. Nun aber wurde damit Ernst gemacht – im weiteren Ausbau technologische Überlegenheit, deren symbolische Demonstration der Wettlauf ins All sein würde.

Dazu wurde in den USA unter der Präsidentschaft Eisenhowers die Ingenieursausbildung forciert, die Forschungspolitik neu gewichtet und dazu noch das damalige Bildungsbudget vervierfacht. Ein wesentlicher Aspekt war die Förderung des Zugangs zum Wissen, was zwei Medieninnovationen mit sich brachte: erstens die Einführung von Schulfernsehen und Bildungsprogrammen (ca. 1960) und zweitens die Vernetzung von Bildungseinrichtungen und von Bibliotheken. Was den papierenen Wissensspeichern nicht mehr gelingen konnte, wurde nach dem Sputnik-Schock durch die Elektronisierung des Informationswesens neue Medienwirklichkeit: die umfassende Katalogisierung von Publikationen und die dadurch erreichte Effizienzsteigerung in Bildungs- und Forschungs­prozessen.

Dies hatte unmittelbare Folgen in Form einer Medientheoriebildung, denn McLuhans Hauptwerk war nichts anderes als eine Auftragsarbeit in genau diesem Zusammenhang. Auch wer nichts von McLuhan weiß, hat schon einmal den Slogan gehört: "The medium is the message". Nun äußerte er diesen erstmals 1958 auf einer Tagung vor der Jahresversammlung der National Association of Educational Broadcasters (NAEB), in deren Folge er seine berühmte Medientheorie von den "Magischen Kanälen" entwickelte, nicht als akademische Theorie, sondern als medienpädagogisches Projekt im Auftrag der NAEB! The medium is the message – Sputnik selbst hatte ja auch keine vom Medium "russischer Satellit" erst noch abzulösende Botschaft, die Funksignale hatten keine verschlüsselte Bedeutung, eine Hundertschaft von CIA-Kryptographen gab sich hier vergebliche Mühe.

Der Wettlauf zum Mond förderte die Entwicklung von Mikroelektronik. Damit markiert der Sputnik-Schock den medienhistorisch bislang wenig beachteten Übergang zwischen mechanischer Informationsverarbeitung und elektronischer Informationsvernetzung, die Geburtsstunde einer neuen Technokultur. Aus der amerikanischen Bildungs- und Forschungsoffensive entstand die computergestützten Technologie der 1960er-Jahre, bei der auch DARPA federführend war, jene militärisch finanzierte Forschungsorganisation, die wegweisend für die Computervernetzung und – auf Umwegen – auch für das heutige Internet sein sollte. Somit strahlt etwas von Sputniks Wirkung auch unter die Haut der Welt, gemäß einem Technoimaginären, für das es eigentlich kein die Sinne ansprechendes Bild mehr gibt.