Staaten, Völker, Nationalitäten

Seite 4: Enttäuschte "kleine Völker"

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Solange das Manko aufrecht ist, dass die "kleinen Völker" respektive "kleinen Nationen", in jenen Staaten, in denen sie daheim sind, der kollektiven Schutzrechte entbehren, so lange werden sie für diese ein nicht zu unterschätzender Unruhefaktor sein.

Enttäuscht sind sie von der EU, von der sie sich in gewisser Weise "Erlösung" erhoff(t)en. Denn abgesehen von dem vom Europäischen Parlament 1991 deklaratorisch zugestandenen "Recht auf demokratische Selbstverwaltung", womit "kommunale und regionale Selbstverwaltung bzw. Selbstverwaltung einzelner Gruppen" zu verstehen ist, und abgesehen vom 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon, mithilfe dessen erstmals die "Rechte der Angehörigen von Minderheiten" (als Teil der Menschenrechte) in den EU-Wertekanon aufgenommen worden sind (Artikel 2 EU-Vertrag), hat sich just das supranationale Gebilde als solches den im Zentrum der Bedürfnisse aller nationalen Minderheiten stehenden überindividuellen, also kollektiv einklagbaren Schutzrechten weithin entzogen.

Dabei hätten die nationalen Minderheiten - über die (nach dem Brexit verbleibenden) EU-Mitgliedstaaten hinaus einen Platz und kollektivrechtlichen Rang verdient, der ihnen allein schon wegen ihrer quantitativen Bedeutung eigentlich zustünde.

Dies führt ein soeben in überarbeiteter und aktualisierter Auflage erschienenes "Volksgruppen-Handbuch" deutlich vor Augen.1 Die umfassende Bestandsaufnahme fußt auf der Auswertung aller relevanten Volkszählungsergebnisse der Jahre 2009 bis 2014 und ruht analytisch auf jahrzehntelanger Arbeit des in Bozen ansässigen Südtiroler Volksgruppen-Instituts. Weil die quantitative Dimension der Ethnizität kaum bekannt ist und daher wenig Augenmerk auf sich lenkt, empfehlen sich insbesondere die übersichtlichen Karten, zahlreichen Tabellen und aussagekräftigen Grafiken, welche die Übersicht über die Vielfalt der in Europa lebenden Völker - großen wie kleinen - sowie ihrer Sprachen darbietet.

Demnach leben zwischen Atlantik und Ural 768 Millionen Menschen in 47 Staaten und 100 größeren oder kleineren Völkern. Jeder siebte Bewohner Europas fühlt sich einer Minderheit zugehörig, denn ein Siebtel aller Europäer, nämlich gut 107 Millionen Menschen, sind Angehörige größerer respektive kleinerer Minderheiten. Dabei sind ausweislich der klaren und präzisen Zu- sowie Einordnung die meisten der "38 minderheitenrelevanten Staaten Europas als Nationalstaaten konzipiert", wenngleich sie tatsächlich "ethnisch inhomogen und in Wirklichkeit multinationale Staaten mit traditionellen Volksgruppen bzw. nationalen oder ethnischen Minderheiten sind, deren Bevölkerungsanteil von einigen wenigen Prozent bis zu 48 % (z.B. Montenegro) reicht."

Daher auch wird im Einführungskapitel zurecht festgestellt: "Ethnische Homogenität in einem Staat, wie z.B. in Island oder San Marino, ist also die auf einige Zwergstaaten beschränkte Ausnahme und keinesfalls die Regel. Das hieraus sich ergebende Spannungsverhältnis zwischen nationalstaatlichem Organisationsmodell und dem soziologischen Phänomen Ethnizität markiert einen wichtigen Gesichtspunkt dessen, was unter dem herkömmlichen Begriff Nationalitätenkonflikt die europäische Entwicklung bis zur Gegenwart nachhaltig beeinflusst."

Gemengelage

Was Inguschen sind oder Tschetschenen, Tataren oder Gagausen, Georgier (Grusinier) oder Abchasen, Osseten respektive Tscherkessen/Adygen unter den mehr als 100 kaukasischen und transkaukasischen Völkerschaften, das ist aufmerksamen Medien-"Konsumenten" und politisch interessierten Zeitgenossen in den letzten 25 Jahren immer wieder durch Nationalitätenkonflikte bis hin zu kriegerische Handlungen bekannt geworden.

Doch viele der zahlreichen europäischen Minderheiten - wie beispielsweise in Russland Agulier, Awaren, Balkaren, Baschkiren, Bessermenen, Darginer, Ingrier/Ischoren, Kabardiner, Karatschaier, Karaimer, Kalmücken, Karelier, Lakken, Lesgier, Lipowenr, Mordwinen, Nogaier, Permjaken, Rutuler, Udmurten, Syrjänen, Tabasaraner, Taten, Tscheremissen, Tschurier, Tschuwaschen und Wepsen ; und auf dem Balkan beispielsweise Aromunen/Wlachen , Arvaniten, Bunjawatzen, Goranen und Lasen - sind dem Namen nach oder der Zugehörigkeit zu Staaten oder Sprach(familie)n nach allenfalls Spezialisten bekannt.

Europa ist überaus reich an Kulturen und Sprachen; sie sind sozusagen konstitutives Element des Kontinents. Zu deren Erhaltung bedarf es, einer Ergänzung der durch die Menschenrechte verbürgten Gleichberechtigung der Individuen durch das - im habsburgischen Österreich seit Mitte des 19. Jahrhunderts wohlbekannte - Prinzip der Gleichberechtigung der Völker und Ethnien.

Die geeigneten Instrumente zur Verwirklichung gleichberechtigter "nationaler Partnerschaften" aus Mehrheit(sstaatsvolk) und nationaler/nationalen Minderheit/en müssten heutzutage eigentlich sein: übernational geltende Volksgruppen(schutz)rechte, nationale Rechtsinstrumentarien für Minderheiten und das Zugestehen von (Territorial-, Kultur- bzw. Personal- und/oder Lokal-)Autonomie, gebunden an statutarisch geregelte Formen der Selbstverwaltung. Würden sich politische Entscheidungsträger auf supranationaler Ebene wie in den von Minderheitenkonflikten berührten Nationalstaaten - das sind die meisten in Europa - ernsthaft um derartige Rechtsinstrumentarien bemühen, so wäre die noch immer virulente "Volksgruppenfrage" als "altes Problem im neuen Europa" durchaus für viele Beteiligte zufriedenstellend zu beantworten, womit just die in der EU zunehmenden Separationsbestrebungen erheblich eingedämmt werden könnten.

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