Stadt in Angst

Istanbul vor dem Nato-Gipfel und die türkisch-amerikanische Interessenlage

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Eine multinationale Offensive des Lächelns haben Zeitungen in den USA den Besuch des US-Präsidenten Bush in Europa genannt. Doch zumindest in der Türkei, wo Bush an dem am Montag beginnenden Nato-Gipfel teilnehmen wird, ist davon wenig zu spüren. Schon seit Tagen herrscht in Istanbul der Ausnahmezustand. Ganze Stadtteile sind mit Betonbarrieren abgesperrt. Sogar der Schiffsverkehr auf dem Bosporus wurde massiv eingeschränkt. Die Angst vor Bombenanschlägen um den Nato-Gipfel beherrscht seit Tagen die türkischen Medien.

Anti-Bush-Demonstation am Samstag in Istanbul. Foto: Indymedia Istanbul

Die Angst nahm noch zu, als vor wenigen Tagen tatsächlich einige Bomben explodierten. Ausgerechnet vor dem Hilton-Hotel, in dem Bush absteigen soll, detonierte eine Bombe und verursachte Sachschaden. Vier Personen wurden durch einen Anschlag in einem öffentlichen Bus getötet. Unter den Toten befand sich auch die Attentäterin Semiran Polat. Mittlerweile übernahm die Revolutionäre Volksbefreiungsfront die Verantwortung für den Anschlag. In einer Erklärung sprach sie davon, dass die Bombe vorzeitig explodierte. Die DHKP/C hält als eine der wenigen Gruppen der militanten Linken in der Türkei noch am bewaffneten Kampf fest (Dehnbarer Terrorbegriff).

Mittlerweile schüren auch zahlreiche Trittbrettfahrer die Terrorangst. Ständig gehen Terrorwarnungen bei der Polizei ein, die abgelegte Pakete zur Explosion bringen. Bisher erwiesen sich die Pakete regelmäßig als Attrappen. Damit wird allerdings die Angst noch geschürt. Viele Bewohner Istanbuls, die es sich leisten können, verlassen die Stadt für einige Tage.

Angst haben auch die zahlreichen Menschenrechtler, die ihre Gegnerschaft gegen die Politik des US-Präsidenten und der Nato auf der Straße ausdrücken wollen. Im allgemeinen Klima der Angst befürchteten sie Repressalien. Massive Polizeieinsätze bei Anti-Bush-Demonstrationen am Samstag in Ankara scheinen ihre Befürchtungen zu bestätigen. In zahlreichen europäischen Ländern haben sich türkische Exilorganisationen zum Bündnis Resistanbul2004 zusammengeschlossen. Am vergangen Samstag kam es in Paris, Wien, London, Berlin, Köln und Stuttgart zu Demonstrationen gegen den Nato-Gipfel. In den nächsten Tagen sollen die Ereignisse auf den Straßen der Türkei beobachtet werden. Kommt es zu Repression gegen Bush-Gegner, soll vor türkischen Konsulaten und Botschaften protestiert werden.

Im Vorfeld des Nato-Gipfels konnte die türkische Regierung einige außenpolitischen Erfolge vorweisen. So hat die Europäische Kommission die Türkei von der Liste der wegen Menschenrechtsverletzungen zu beobachtenden Staaten gestrichen, weil sich die Situation im Lande verbessert habe. Ein besonderer Erfolg der türkischen Regierung ist das eindeutige Bekenntnis des US-Präsidenten für eine schnelle Aufnahme der Türkei in die EU während des EU-Gipfels in Dublin. Der US-Präsident verfolgt dabei zwei Ziele. Er will innerhalb der EU die amerika-freundliche Seite stärken. Unabhängig von der Regierung gelten die türkischen Militärs als traditionell US-freundlich. Außerdem will Bush die gemäßigt islamische türkische Regierung der arabischen Welt als gelungene Symbiose von islamischer Orientierung und westlichen Werten präsentieren. Diese Botschaft ist im Vorfeld eines Nato-Gipfels von Bedeutung, der weitgehend von der Einbindung der Militärorganisation in den Irakkrieg bestimmt wird. Damit soll auch die wachsende Kritik an den personellen und finanziellen Lasten des Irakengagements in den USA besänftigt werden.

Die USA haben auch noch einige Trümpfe, um sich das Wohlwollen der türkischen Regierung zu sichern. Dazu zählt die Bekräftigung von Bush, verstärkt gegen den kurdischen Separatismus zu kämpfen. Für die demobilisierten kurdischen Guerillagruppen, die nach dem einseitigen Waffenstillstand der PKK in den Nordirak gebracht wurden, könnte jetzt die Schonzeit vorbei sein, die ihnen die Besatzungstruppen bisher gewährten. Damit ist ein erneuter Konflikt vorprogrammiert. Vor einigen Wochen kündigten die PKK-Nachfolger ihren einseitigen Waffenstillstand auf. Seitdem haben bewaffnete Zusammenstöße in den kurdischen Gebieten zugenommen.