Dehnbarer Terrorbegriff

War die europaweite Razzia ein Schlag gegen eine militante Gruppe oder ein Angriff auf marxistische Opposition?

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In den frühen Morgenstunden des 1.April wurden fast zeitgleich zahlreiche Büros, Wohnungen, Kulturhäuser und Zeitungsredaktionen in der Türkei, Italien, Deutschland, Belgien und den Niederlanden von der Polizei gestürmt. Insgesamt 61 Personen sollen im Anschluss daran festgenommen worden sein. Sie befinden sich noch in Polizeigewahrsam. Einer der Verhafteten war nach Polizeiangaben in Düsseldorf gemeldet.

Die Aktion richtete sich gegen die marxistische türkische Gruppierung DHKP-C. Das Kürzel steht für Revolutionäre Volksbefreiungsparteifront, eine Organisation, die sich auf die Neue Linke der Türkei beruft und hauptsächlich in den Elendsvierteln der türkischen Großstädte Unterstützung gefunden hatte. In den letzten Jahren hat die DHKP/C federführend den schon mehr als 3 Jahre andauernden Hungerstreik von politischen Gefangenen in der Türkei getragen, bei dem mittlerweile 110 Menschen gestorben sind (Der Kampf gegen den stillen Tod). Ideologisch stützt sich die Organisation auf Marx, Lenin und Che Guevara.

Die DHKP/C gehörte in den 90er Jahren neben der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu der zweitgrößten Organisation in der Türkei, die auch mit ihrem militärischen Arm bewaffnete Aktionen durchführte. Neben der Arbeit in Gewerkschaften und in Stadtteilorganisationen unterhielt sie eigene Guerillaeinheiten. Im letzten Jahr bekannte sich die DHKP/C zu zwei Bombenanschlägen gegen eine McDonald's-Fikliale und ein staatliches Hotel in Istanbul, bei denen mehrere Menschen ums Leben kamen. In Bekennerschreiben wurden die Aktionen als Teil des antiimperialistischen Widerstands gegen den Irakkrieg bezeichnet. In den 90er Jahren war die Organisation für zahlreiche Attentate und Bombenanschläge verantwortlich, bei den Menschen gestorben oder schwer verletzt wurden.

Die DHKP/C wurde nach dem 11.September 2002 auf die Terrorlisten der USA und der EU gesetzt. Die europaweite Polizeiaktion vom 1.April wurde daher in den Medien als Schlag gegen den internationalen Terrorismus bezeichnet. Erst später wurde dementiert, dass die DHKP/C Kontakte zu Islamisten hat. Natürlich ist es verständlich, dass die Türkei wie jeder Staat gegen Organisationen und Personen vorgeht, die den bewaffneten Kampf auf ihre Fahnen geschrieben haben. Allerdings muss man sich fragen, ob dabei nicht gleich jede Fundamentalopposition mit ins Visier gerät.

Zumindest einige Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Festnahmen als Schlag gegen linke Oppositionelle. Nach Angaben der türkischen Gefangenenhilfsorganisation Tayad haben die Festgenommenen seit Jahren legale politische Arbeit gemacht und hatten nichts mit bewaffneten Aktion zu tun. So befinden sich unter den Verhafteten Journalisten, Mitarbeiter eines Istanbuler Radiosenders und Musiker der bekannten linken Band Grup Yorum.

In Amsterdam wurde das Büro des Pressebüros Özgürlük durchsucht. Dabei wurden zahlreiche Computer beschlagnahmt sowie eine Person festgenommen. Noch vor drei Jahren hatten sich belgische und holländische Behörden geweigert, gegen tatsächliche und vermeintliche Exilgruppen der DHKP/C vorzugehen. Begründet hatte man dies mit der mangelnden Rechstaatlichkeit in der Türkei. In konservativen türkischen Medien bezeichnete man die beiden Beneluxstaaten daraufhin als Rückzugsbasen des Terrorismus. Im Gegensatz dazu wurde Deutschland gelobt, die ebenso wie die Türkei die DHKP/C verboten hat und immer wieder Prozesse gegen vermeintliche Aktivisten führte.

Spätestens seit den Anschlägen von Madrid hat sich die harte Haltung auch in den übrigen Ländern durchgesetzt. Im europaweiten Antiterrorkampf ist die Türkei den übrigen EU-Staaten gleichgestellt. Für viele in den europäischen Ländern lebende kurdische und türkische Exilanten, die bisher wegen möglicher Verfolgungen ihrem Heimatland nicht ausgeliefert werden konnten, ist das eine dunkle Perspektive.

Wie dehnbar der Kampf gegen den Terror ist, zeigte sich bei der Polizeiaktion im italienischen Perugia. Dort sind neben 2 vermeintlichen DHKP/C-Aktivisten auch drei italienische Aktivisten der linken Antiimperialistischen Koordination (AIK) festgenommen worden. Auch ihnen wird Unterstützung der DHKP/C vorgeworfen. Die AIK spricht in einer Pressemittelung von einer "Repression gegen aktive Kritiker des Irakkrieges". In den letzten Monaten war die AIK mit der auch unter Kriegsgegnern sehr umstrittenen Kampagne "10 Euro für den irakischen Widerstand" ("Spenden für den Terror") bekannt geworden.