Stadtstaaten im Meer
Die utopische Vision, aus der Welt auszubrechen und sich auf hoher See in einer neuen und autonomen Gemeinschaft anzusiedeln, ist ungebrochen
Irgendwie haben Utopien, wenn sie sich nicht gleich irgendwo im Weltraum ansiedeln, meist mit dem Meer zu tun. Die klassischen Utopien, angefangen von Platons Atlantis, wurden gerne auf Inseln verlegt. Sie waren weit entfernt vom Rest der Welt, um eigenständig eine Kultur bilden zu können, und sie waren klein genug, um eine Gesellschaft als Gemeinschaft vorzustellen. Neureiche wie Red-Bull Dietrich Mateschitz oder Virgin-Gründer Richard Branson haben längst ihre Insel. Das gehört zum Status. Wenn man nicht Milliardär ist, mietet man sich halt eine Insel, dann ist man wenigstens ein bisschen dabei.
Ins Meer zieht es auch manche der zeitgemäßen Utopisten, die nicht mehr nur von neuen Lebensformen träumen, sondern sie auch verwirklichen wollen. Dazu braucht es Geld und Geldgeber. Das mag ein Grund sein, warum Projekte wie der Inselstadtstaat New Utopia (Die soziale Utopie des Neoliberalismus) oder, noch besser, Freedom Ship, eine mobile Insel auf einem riesigen Schiff für reiche Investoren, die ständig um die Erde fahren, in aller Regel einen neoliberalen oder libertären Touch haben und sich von sozialen Verpflichtungen gegenüber den Losern abgrenzen.
Der PayPal-Gründer und Finanzmanager Peter Thiel, der auch die Forschung des Langlebigkeitsforchers oder –gurus Audrey de Grey unterstützt, hat nun als Anschubfinanzierung eine halbe Million Dollar in das Seasteading Institute investiert. Gründer des natürlich in Kalifornien ansässigen Instituts sind Patri Friedman und Wayne Gramlich, die seit 2002 der Idee nachhängen und sich vorstellen, die künstlichen Inseln im Meer treiben zu lassen und sie beispielsweise nach dem Vorbild von Bohr- oder Ölplattformen zu bauen. Direktor der Organisation ist übrigens Joe Lonsdale, der ansonsten beim milliardenschweren Hedgefonds Clarium Capital Management arbeitet.
Die Organisation will die Entwicklung von unterschiedlichen "sozialen, politischen und rechtlichen Systemen" fördern, die sich auf künstlichen Inseln im Meer ansiedeln sollen. Im Unterschied zu anderen utopischen Modellen werden hier keine Vorgaben gemacht, sondern sollen, gut kapitalistisch oder darwinistisch, die experimentellen Gemeinschaften sich selbständig organisieren, um dann in der freien Konkurrenz untereinander die effizientesten Gesellschaftsformen zu finden. Letztlich sollen Hunderte oder Tausende der künstlichen Inseln oder Seasteads in den Meeren treiben, lauter kleine, irgendwie autonome Einheiten, ein Archipel an unabhängigen Stadtstaaten, die sich von den bestehenden Gesellschaften lösen, aber möglicherweise unter der Flagge eines willigen Staates wie Panama fahren. Sonderlich ausgeführt ist die Umsetzung weder technisch noch politisch, macht aber nichts, in der Google-Web 2.0-Welt überlässt man dies eben den willigen Usern.
The world needs a new model of politics where a diverse ecosystem of providers offers a variety of institutions that evolve to serve their citizens. The open oceans, Earth's last frontier, are the ideal place to nurture this vision of a better world. By making it safe and affordable to settle this frontier, we will give people the freedom to choose the government they want instead of being stuck with the government they get.
Parti Freedman
Angeboten werden aber soll für die selbstorganisierenden sozialen Systeme, deren Mitglieder sich mitten auf dem Meer ansiedeln wollen, ein Modell für eine mögliche Plattform für die Stadtstaaten (seasteads). Dazu will man eine ausrangierte Ölplattform für ein paar Millionen Dollar umbauen, um die Durchführbarkeit der Vision zu veranschaulichen. Festlegen will man sich noch nicht ganz, welche Form der Prototyp haben soll, gewünscht wird eine "langsame Alternative zu Yachten", mit der sich die Küste bis nach Kanada fahren lässt und mit der man überall ankern kann. Stabilisiert werden dürfte sie von Ballasttanks, mit denen sich auch die Höhe der Plattform regulieren lässt. Innerhalb des Turms sollen die Wohnräume sein, auf der Plattform soll es, wie Wired berichtet, Gebäude, Gärten, Solaranlagen, Windturbinen und Satellitenschüsseln geben, schließlich muss Energie und Anbindung ans Internet gewährleistet sein. Atomenergie sei noch ein bisschen teuer.
Immerhin scheint man realistisch genug zu sein, dass eine völlige Selbstversorgung nicht ganz erreichen sein wird, wenn nicht alle immer Algen und Fische essen wollen. Aber Früchte und Gemüse sollen doch auf den Plattformen von den libertären Gartenstadtträumern angebaut werden, sofern genügend Süßwasser gewonnen werden kann. Hühner und Kühe soll es auch geben. Ansonsten hat man nichts prinzipiell gegen den Import von Lebensmitteln, was die Reinheit des Ansatzes allerdings schon empfindlich durch Abhängigkeiten stören könnte. Auch an Verteidigung gegenüber Piraten oder die Marine von Staaten wird gedacht. Vielleicht, so träumen die Autoren, werden die Meeresstadtstaaten einmal so groß und reich, dass sie zu den "gefährlichen Staaten" gehören werden. Das würde allerdings noch eine Weile dauern.
Das dürfte auch das Schicksal der sehr unternehmerisch gedachten Vision sein. Wenn einmal genug Menschen investiert haben, wird man mit Seastead I beginnen. Das wird dann wachsen und wachsen und alles wird gut werden. Ganz im Gegensatz zur wirklichen Welt zeichnet die libertäre Utopie aus, dass der Geschäftsplan erst am Ende steht.
As seacities develop, the seaconomy will grow, and seasteading can become a full-time way of life for an increasing number of people. Different political and legal systems will be experimented with, and the most succesful emulated. Seasteads will have become, not a utopia (which is impossible), but an incremental improvement, a freer and more adaptable form of life. That is our goal. But while we must keep it in the back of our mind, our focus should be on the next couple steps. Thus we proceed to your contribution and then a more detailed business plan.
Ceterum censeo, ist man fast genötigt am Schluss zu sagen: Besonders attraktiv scheint es nicht zu sein, auf dem Mars oder auf einer schwimmenden Plattform im öden Meer in Zukunft zu leben. Vielleicht sollten wir doch ein wenig mehr aus dem machen, wo wir jetzt leben und wahrscheinlich auch in Zukunft leben müssen.