Starkes Statement für die sexuelle Selbstbestimmung
Der Film "Nur eine Frau" thematisiert den Ehrenmord an Hatun Sürücü - und ist dennoch eine Hommage an das selbstbestimmte Leben
Alles in allem lässt sich der Film "Nur eine Frau" mit nur einem Adjektiv zusammenfassen: Gnadenlos. Gnadenlos wird das Publikum mit dem Mord an Hatun Sürücü konfrontiert; bis hin zur Einspielung von Originalfotos des Tatorts - inklusive Blick auf die mit weißem Tuch bedeckte Leiche der jungen Frau. Gnadenlos wird die dahinterstehende Motivation - in dem Fall religiöse Verblendung - aufgezeigt und das Ganze wird gnadenlos durch eine Riege mehr oder weniger bekannter Schauspielerinnen und Schauspieler brillant in Szene gesetzt.
Genau deswegen ist der Film gnadenlos gut; er hat eine hohe künstlerische Qualität, weshalb ihm, den Darstellern und der Protagonistin alle Filmpreise zu wünschen währen. Vor allem aber hat er einen aufklärerischen Charakter und sollte zum Pflichtprogramm an allen Schulen, im Grunde für uns alle werden. Völlig unaufgeregt, ohne erhobenen Zeigefinger, dafür aber umso eindrücklicher, wird eine Lebenswelt geschildert, die der Mehrheit der Menschen in unserem Land verschlossen ist, die aber zunehmend und ganz subtil mehr und mehr an Einfluss gewinnt. Ein Umstand, dessen Tragweite für Frauen und Mädchen in muslimischen Communities, aber auch für Jungen und Männer, die aus der Reihe tanzen, aber letztlich für unsere gesamte Gesellschaft, die wenigsten erfassen.
Das Problem ist heute aktueller denn je
Hatun Sürücü, von allen Aynur genannt, wurde von ihrem Bruder Ayhan (im Film Nuri) erschossen, weil sie sich aus dem engen Korsett ihrer streng religiösen Familie befreite und sich ein eigenständiges Leben erkämpft hatte: Sie lebte, sie lachte, sie liebte, sie ging tanzen, hatte einen großen Freundeskreis, eine feste Beziehung, machte eine Ausbildung in einer Männerdomäne, sie wollte Elektro-Installateurin werden, und erzog ihren Sohn Can zu einem offenen, fröhlichen kleinen Kerl.
Nur eine Frau (8 Bilder)
Ihr "westlicher" Lebensstil sowie die fixe Idee ihrer Brüder, den Sohn vor dieser "verwahrlosten" Mutter, der "Hure", retten zu müssen, führten schließlich zu der Tat. Drei Wochen, bevor sie Berlin verlassen hätte. Ausgeführt wurde der Ehrenmord - entsprechend der Tradition - von dem jüngsten Bruder. Es ließ sich vor Gericht nicht beweisen, vielleicht konnten die Richter sich das auch einfach nur nicht vorstellen, aber die Ermordung Hatun Sürücüs wurde vermutlich von ihrer gesamten Familie beschlossen; in jedem Fall wurde er von der gesamten Familie getragen und der Täter und seine Hintermänner geschützt.
Genau das ist der Unterschied zwischen einem Ehrenmord und einem Mord an Frau und/oder Kind/er in der Mehrheitsgesellschaft: Mord ist gesellschaftlich geächtet, Mörder werden verfolgt, juristisch belangt und verurteilt. Zumindest in aller Regel. Ehrenmorde finden statt in zutiefst patriarchal strukturierten Gesellschaften, in denen nicht individuelle Lebensentwürfe , sondern die strengen Regeln des Kollektivs, der Familie, der Sippe, des Clans, der Community, des jeweiligen Landes gelten, gegen die nicht verstoßen werden darf. Diese Strukturen sind nicht nur - aber auch - in der islamischen Welt zu finden.
In islamischen Ländern ersetzt die Scharia ein weltliches Justizwesen. Die Scharia ist ein umfassende Normen-, Werte- und Rechtssystem, dessen Kernstück die Ehre ist. Unter dem Stichwort "Ehre" wird Recht privatisiert, Männer werden zum Richter - und im Zweifelsfall auch zum Henker - aller Frauen und Mädchen, aber auch aller Jungen und Männer, die sich dem Diktat der Scharia nicht unterwerfen. Männer MÜSSEN die Ehre der Familie beschützen. Diese liegt zwischen den Beinen der Frauen und Mädchen. Verletzen diese die Ehre der Familie, bleibt den männlichen Mitgliedern nichts anderes übrig, als die Familienehre wieder herzustellen.
Das wird von ihnen erwartet, sonst fällt die gesamte Familie in der Community in Ungnade. Im schlimmsten Falle durch den Mord an der Person, die meistens weiblich ist, die die Familienehre beschmutzt hat. In aller Regel obliegt die Durchführung des Mordes dem jüngsten männlichen Mitglied der Familie. So werden die männlichen Mitglieder schon in jungen Jahren auf Gedeih und Verderb - und nicht selten buchstäblich mit einer Leiche im Keller - in die Community eingebunden. Dort haben sie sich dadurch zwar Ansehen verschafft, üblich ist z. B. zur Belohnung eine Uhr geschenkt zu bekommen, aber sie können nicht mehr ausbrechen. Sonst droht ihnen dasselbe Schicksal wie vorher ihrem Opfer.
Dass Jungen oder auch Männer Opfer von Ehrenmorden werden, ist gar nicht so selten. Einer Studie des BKA von 2011 zufolge sind rund ein Drittel der Opfer von Ehrenmorden in Deutschland Männer. Sie wurden umgebracht, weil sie schwul waren, fremd gingen oder sich weigerten, einen Ehrenmord an einem Familienmitglied zu begehen.
In einer von der damaligen LINKEN Europa-Abgeordneten Feleknas Uca in Auftrag gegebenen Studie, kommt die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes (TdF) zu dem Schluss:
Verbrechen, die im Namen der Ehre verübt werden, sind im hohen Maße gesellschaftlich legitimiert. Die Ehre der Familie wiederherzustellen wird als "Familiensache" angesehen, in die sich kein Außenstehender einzumischen hat. Nachbarn, Freunde und Bekannte schauen weg, die Polizei greift oft nicht ein.
Terre des Femmes
TdF sieht einen Zusammenhang mit Zwangsehen, die wiederum mit dem Phänomen Kinderehen eng verknüpft sind. Auch das kein Alleinstellungsmerkmal des Islams, das offizielle Heiratsalter der katholischen Kirche liegt bei 14 Jahren. Allerdings hält die katholische Kirche sich in Deutschland an die Gesetze, Kinder-Ehen, sprich Verheiratung vor Vollendung des 18. Lebensjahres, sind hierzulande außer aus den islamischen Communities bei Jesiden und Sinti und Roma bekannt.
Fabian Goldmann schreibt in einer Publikation der Heinrich-Böll-Stiftung:
Dennoch ist "Ehrenmord" nicht nur ein medialer Kampfbegriff, um Migranten zu stigmatisieren. Er bezeichnet ein reales Phänomen, das sich klar von "Eifersuchtsdramen" oder der "Blutrache" abgrenzen lässt. Die wichtigste Unterscheidung: Anders als bei den meisten "Familiendramen" resultiert die Tat nicht aus dem individuellen gekränkten Stolz des Täters, sondern zielt auf die Wiederherstellung der "Ehre" einer ganzen Gemeinschaft, meistens seiner Familie. Nicht nur das Motiv zielt auf ein Kollektiv, auch Legitimation und Beauftragung geschieht im Familienkreis. Die Hamburger Kultursoziologin Ursula Mihçiyazgan definiert Ehrenmorde als "Tötungsdelikte, die als Tatmotiv die Wiederherstellung der Familienehre haben, die infolge des als unehrenhaft beurteilten Verhaltens des Opfers verletzt wurde." Der Täter kann, aber muss aber nicht einen besonderen Bezug zum Opfer haben. Dass Brüder, Väter oder Ehemänner morden, ist zwar die Regel, aber auch entfernte Cousins oder bezahlte Mörder sind üblich. Eines hat der Ehrenmord aber dennoch mit "Familiendramen" gemein: Die Opfer sind meistens Frauen. (…) Fast alle "Ehrenmorde" in Deutschland gehen auf das Konto von Migranten.
Fabian Goldmann, Fünf Fakten über Ehrenmorde
In erster Linie gehen sie auf das Konto - und zu Lasten - türkischer Migranten und Migrantinnen, bzw. kurdischer, auch Hatun Sürücü war Kurdin.
Ehrenmorde sind nicht nur, aber eben auch ein Merkmal fundamental-islamischer Communities und Gesellschaften. Wie z. B. in der Familie Sürücü, und auch in dem Falle führte der jüngste Bruder die Tat aus, Bruder Mutlu (im Film Tarek) besorgte die Waffe und Bruder Alpaslan (im Film Sinan) stand Schmiere. Aynurs Schwester Arzu (im Film Şirin) trat vor Gericht als Nebenklägerin auf, so bekam die Familie über ihre Anwälte Akteneinsicht. Das bedeutet u.a. Zugang zu den Adressen der Zeuginnen und Zeugen der Anklage.
Der Film indes klagt nicht an, sondern schildert, mit schlichten Worten, gesprochen von Hauptdarstellerin Almila Bağrıaçık z. T. mit Schautafeln untermalt, z. T. eben mit besagtem Blick auf die Leiche der Hatun Sürücü, eindrucksvoll den Alltag von Musliminnen in streng religiösen Familien in Deutschland.
Um authentisch zu wirken, ließ sich Hauptdarstellerin Almila Bağrıaçık von ihrem Film-Bruder Aram Arami (Tarek) tatsächlich ohrfeigen, um, wie sie sagte, den Schmerz der Hatun Sürücü fühlen zu können.
Im wahren Leben sind die Darstellerinnen und Darsteller der gelebte Gegenentwurf zu den im Film geschilderten Verhältnissen. Der - auch das ist ein Qualitätsmerkmal - nicht nur eine, die streng orthodoxe, islamische Lebenswelt darstellt, sondern verschiedene Facetten islamischen Lebens aufscheinen lässt, in denen Religiosität allerdings keine Rolle spielt.
Für den Film wurde das Leben der Hatun Sürücü so weit als möglich rekonstruiert. Beratend tätig war dabei die Soziologin Necla Kelek, die den Prozess gegen Ayhan Sürücü, der damals 18jährig seine Schwester erschoss, beobachtete. Auch das Spiel Rauand Talebs, der im Film den Ayhan (Nuri)Sürücü darstellt, ist nicht anders als gnadenlos zu bezeichnen. Aram Arami und Rauand Taleb verkörpern die Rollen der verblendeten Familientyrannen im Film so überzeugend, dass bei der Premiere in Hamburg dem erst einmal in sozialen Netzwerken gepostete Hundefotos gezeigt wurden, um zu demonstrieren, dass sie "eigentlich ganz lieb" seien. In Natura kommen die beiden, ebenso wie Hauptdarstellerin Almila Bağrıaçık, so erfrischend rüber, dass das unbesehen geglaubt und mit großem Applaus bedacht wurde.
Der Film lief am 11. Mai in verschiedenen Kinos an, in vier Lichtspielhäusern unter - leider sehr kurzer - Anwesenheit von Sandra Maischberger, Almila Bağrıaçık, Aram Arami und Rauand Taleb. Die junge Schauspielerin stellte sich als Türkin und Muslimin vor. Das veranlasste eine Zuschauerin, bei den beiden Filmbrüdern nachzufragen, welcher Nationalität diese denn seien. Die stutzten zunächst, ganz offensichtlich konnten sie mit der Frage nichts anfangen.
"Deutsch" sagte dann Rauand Taleb und Aram Arami nickt zustimmend. Aus dem Publikum gab es Beifall für diese Antwort, die Fragerin indes war damit nicht zufrieden gestellt: "Ja, aber Eure Wurzeln?" Wie jetzt, Wurzeln? Dachten die beiden. Sagten es zwar nicht, aber es war ihnen anzusehen. Sie seien Deutsche, wiedeholten sie, aber die Familien seien in Kurdistan verwurzelt. "Und meine Religion ist die Kunst", stellte Rauand Taleb klar; wieder zustimmendes Nicken von Aram Arami.
Bei der Entwicklung des Drehbuchs standen zudem u.a. die Anwältin Seyran Ateş und der Psychologe Ahamd Mansour beratend zur Seite. Regie führte Sherry Hormann, die mit "Wüstenblume" das Leben von Waris Dirie auf die Leinwand brachte - und somit das Thema Genitalverstümmelung. Produziert wurde der Film von Sandra Maischberger, die sich für das Thema "Ehrenmord" entschied, weil es ihrer Ansicht nach "heute gegenwärtiger ist" als zu dem Zeitpunkt des Mords an Hatun Sürücü.
"Ich bin ein Ehrenmord"
Dieser Satz steht wie ein Damoklesschwert über dem gesamten Film. Obwohl darin eine lebensbejahende junge Frau portraitiert wird, u.a. mit Originalaufnahmen mit der echten Hatun Surücü. Diese Sequenzen lassen erahnen, dass die Lebenslust, die Almila Bağrıaçık auf die Leinwand bringt, die echte Aynur sehr gut beschreibt.
Der Film beginnt mit Aynur, wie sie mit Hijab und Kopfhörern durch die Straßen Kreuzbergs geht. Gedreht wurde größtenteils an Originalschauplätzen, auch das verleiht dem Film Authentizität. Es sind ihre vorerst letzten Tage in Berlin, denn ihre Familie hatte beschlossen, dass sie einen Cousin in der Türkei heiraten soll. "Im Zeugnis steht: Sie wurde von den Eltern abgemeldet", so die Stimme Almila Bağrıaçıks aus dem Off. "Das klingt besser als: Sie wurde in die Türkei verheiratet", fährt sie trocken fort.
Die junge Frau fügte sich in ihr Schicksal, die Hochzeit fand in Istanbul statt, wo sie fortan mit ihrem Ehemann lebte. Als sie seine Gewaltexzesse nicht mehr ertrug und das Kind, das sie mittlerweile unter dem Herzen trug, schützen wollte, floh sie und kehrte zurück nach Berlin. Die Familie war schockiert und wollte sie zur Rückkehr bewegen. Schließlich durfte sie bleiben. Das hatte aber seinen Preis, schließlich war sie nun eine ehrlose Frau und hatte Schande über die Familie gebracht. Das bedeutete, sie musste im Büßerhemd, sprich in gedeckten Farben total verhüllt gehen, durfte alleine das Haus nicht verlassen und wenn, dann nur aus triftigen Gründen, z. B. um der Mutter beim Einkauf zu helfen.
Die Familie wohnte sehr beengt, die acht Kinder, vier Töchter und vier Söhne, lebten jeweils in einem Raum. Als der kleine Can geboren wurde, waren es im Mädchenzimmer eben fünf Personen. Die Schwestern mussten sehen, wie sie damit zurechtkamen. Das funktionierte nicht. Der Kleine schrie, wenn die Tanten tobten, die Tanten konnten nicht lernen, wenn der Kleine schrie. Schließlich wurden Mutter und Sohn in die Abstellkammer verbannt.
Dort war sie den sexuellen Übergriffen ihres Bruders Sinan ausgesetzt. Überraschenderweise stellte sich der Vater hinter seine Tochter und gegen den Sohn. Damit zog sie sich den Hass nicht nur des betreffenden Bruders, sondern ihrer drei Brüder zu. Jedenfalls der drei Brüder, die in der elterlichen Wohnung lebten. Ihr einzig Vertrauter war ihr ältester Bruder, der nach Köln ging, um dort zu studieren - und um möglichst viel Abstand zwischen sich und seine Familie zu bringen.
Allen Widrigkeiten zum Trotz schaffte Aynur es, sich an die Behörden zu wenden und eine eigene Wohnung für sich und das Kind zu bekommen. Sehr bald legte sie den Hijab ab, machte Bekanntschaften, schloss enge Freundschaft mit einer anderen jungen alleinstehenden Mutter. Die beiden unterstützen sich gegenseitig, wo sie nur konnten.
Dass sie den Hijab ablegte, war die absolute Katastrophe für ihre Familie. Die nächste große Schande. "Meine Haare und ich waren Terror", sagt Almila Bağrıaçıks Stimme aus dem Off. Für ihre Familie die Provokation schlechthin.
Sie galt als völlig verdorben, als "Hure". Die Brüder fingen an, sie regelrecht zu terrorisieren. Ihr ältester Bruder bekniete sie, zu ihm nach Köln zu kommen. Aber das wollte sie nicht. Weil sie ihre Familie liebte "egal, wie bescheuert die sind" und weil sie Can die Familie erhalten wollte. Denn der war das Bindeglied zu ihrer Familie, er wurde von allen geliebt. Je unerbittlicher und aggressiver sich die Brüder ihr gegenüber verhielten, desto verzweifelter kämpfte sich um die Anerkennung durch ihre Familie.
Schließlich begriff sie doch, dass sie in Gefahr schwebte. Es blieben ihr noch drei Wochen, dann hätte sie ihre Ausbildung beendet und wäre nach Freiburg gezogen. Dort hatte sie einen Job und eine Wohnung, die Verträge waren unterzeichnet. Unterstützt wurde sie dabei von ihrem Ausbilder, ebenfalls ein Migrant aus dem muslimischen Kulturkreis, der aber entweder kein Muslim war, oder seinen Glauben völlig anders lebte als ihre Familie.
Unterdessen hatte ihre Familie Zuwachs bekommen: Sevin, eine Klassenkameradin ihrer Schwester Şirin verliebte sich in ihren jüngsten Bruder Nuri. Die beiden waren eine Woche liiert, schon ging Şirin verschleiert. Deren Mutter, eine resolute Unternehmerin, wunderbar authentisch dargestellt von Idil Üner, staunte nicht schlecht, ihre Tochter so vor sich zu sehen. Nicht nur an dieser Stelle im Film wird deutlich, welche Bedeutung der Hijab in fundamentalistischen Communities hat. Er ist kein x-beliebiges Kleidungsstück, schon gar kein modisches Accessoire, sondern Markenzeichen und Trophäe gleichermaßen. Ab dem Moment, in dem sie verschleiert wurde, war Sevin von der Familie Sürücü vereinnahmt.
Nuri war unterdessen zum Familienoberhaupt avanciert. Der Vater hielt sich mehr in Istanbul auf als in Berlin, Sinan und Tarek hatten die elterliche Wohnung verlassen, also war Nuri der Herr im Haus. Er besuchte die Elternabende in der Schule seiner Schwestern, er entschied, wann sie das Haus verlassen durften und wann nicht. Ab eines gewissen alters sind muslimische Söhne auch ihren Müttern gegenüber weisungsbefugt, jedenfalls, wenn sie aufgrund dauerhafter oder temporärer Abwesenheit des Vaters oder älterer Brüder zum Familienoberhaupt werden.
Sevins Mutter waren Şirin und ihre Familie schon vorher suspekt gewesen, nachdem ihre Tochter mit Nuri angebandelt hatte, bekam sie es mit der Angst zu tun. Doch noch ahnten beide Frauen nicht, dass diese kurze Liaison bedeuten würde, dass sie alles verlieren würden, was die Mutter aufgebaut hatte, ihre ökonomische Existenz, ihre Namen, ihre Wohnung, kurzum, ihr Leben. Denn es war Sevin, unterstützt von ihrer Mutter, die dafür sorgte, dass Nuri überführt und angeklagt wurde. Die beiden realen Frauen leben seither im Zeugenschutzprogramm.
Die Brüder holten sich Rat in der Moschee, was zu tun sei. Ob Steinigungen im Sündenfalle gerechtfertigt seien, fragten sie den Imam. Selbstverständlich würde in Deutschland niemand gesteinigt, so der Prediger, aber "wenn wir in einem Kalifat leben würden, dann" wären zweifelsohne entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die Brüder verstanden das als Aufforderung zum Handeln. Etwa zehn Jahre später würde der Journalist Constantin Schreiber sich wundern, was in deutschen Moscheen so gepredigt wird …
Der Mord wurde vermutlich von den drei Brüdern geplant und ausgeführt: Tarek besorgte eine Waffe, Sinan stand Schmiere und Nuri wurde in die Wohnung geschickt, um seine Schwester herauszulocken. Er besuchte sie und nachdem sie sich gestritten hatten, bat er sie, ob sie ihn zur Bushaltestelle begleite. Dort zog er die Pistole und schoss ihr ins Gesicht. "So will es die Tradition" ertönt Almila Bağrıaçıks Stimme aus dem Off. Vermutlich hat er sie vorher gefragt, ob sie ihre Sünden bereue, denn auch so will es die Tradition.
Die Brüder wurden jedoch mindestens von ihrer Familie gedeckt. Nuri bekam von seinem Vater eine goldene Uhr geschenkt. Auch so will es die Tradition.
Am Tag nach dem Mord besuchte Sevin die Sürücüs. In Erwartung, eine tief trauernde Familie vorzufinden. Stattdessen öffnete Nuri ihr siegesgewiss die Uhr. "Ich wusste, dass er der Mörder war. Ich wusste es in dem Moment, als er mir die Tür aufmachte. Ich wusste es beim Blick in seine Augen", sagte sie später vor Gericht aus. In der Wohnung wurde ihr sofort klar, dass die gesamte Familie für den Mord verantwortlich war. Und ihr war sofort klar, dass sie mit drin hing. Dass sie aus der Nummer nicht mehr rauskommen würde, dass sie funktionieren musste, sonst wäre sie genauso tot wie Aynur. Nuris Mutter, wunderbar gespielt von Meral Perin, checkte ab, ob sie zur Schwiegertochter der Sürücüs taugt. Mit abschätzendem Blick taxierte sie Sevin, danach wird diese instruiert, Nuri ein Alibi zu geben.
Sevin war außer sich vor Angst. Als sie auf dem Kommissariat vernommen wurde, hatte sie keine Stimme und keine Worte mehr. Die Mutter wurde geholt, diese sprach beruhigend auf die Tochter ein. Vermutlich in vollem Bewusstsein der Konsequenzen sorgte sie dafür, dass Sevin aussagte. Vernommen wurden auch Bekannte von Aynur, die schilderten, wie die Brüder ihre Schwester terrorisiert hatten, diese sich davon nicht hatte klein kriegen lassen. Dass sie sich nicht unterworfen habe, was ihr letztlich das Leben kostete.
Selbst im Tod triumphierte Aynur über ihre Familie: Diese beantragte das Sorgerecht für den kleinen Can. Schließlich war ein Grund für den Mord, dass der Kleine vor seiner Mutter gerettet wird. Doch Aynur hatte vorgesorgt und bei der Polizei hinterlegt, dass sie nicht möchte, dass ihr Kind in der Familie aufwächst. Das bestätigten auch enge Freundinnen. Can kam in eine Pflegefamilie, was aus ihm wurde, ist nicht bekannt.
Am 13. April 2006 verurteilte das Berliner Landgericht den jüngsten Angeklagten Ayhan Sürücü zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten und sprach die beiden mitangeklagten älteren Brüder, Alpaslan und Mutlu Sürücü, aus Mangel an Beweisen frei. Der Film fängt sehr schön ein, unter welchen Bedingungen Sevin ihre Aussage machen musste, sie war streng bewacht und trug während des Prozesses eine kugelsichere Weste.
Das Berliner Urteil wurde später vom Bundesgerichtshof (BGH) in Leipzig kassiert und zur erneuten Verhandlung nach Berlin verweisen. Begründung: Das Berliner Gericht habe bei der Urteilsfindung den Umstand missachtet, dass der angeklagte jüngste Bruder die Aussage seiner ehemaligen Freundin im Grunde vollumfänglich bestätigt habe und außerdem eine SMS von Ayhan/Nuri an Mutlu/Tarek die Schilderung stütze.
Zu dem Zeitpunkt hatten die beiden älteren Brüder sich allerdings schon in die Türkei abgesetzt. Deshalb wurde gegen Mutlu Sürücü ein internationaler Haftbefehl ausgestellt. Alpaslan Sürücü besaß keine deutsche Staatsbürgerschaft, deshalb konnte gegen ihn kein Haftbefehl erlassen werden. 2016 wurden die in Istanbul das Verfahren gegen die beiden Brüder eröffnet und sie 2017 aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Im Februar 2018 wurde bekannt, dass die türkische Justiz das Verfahren erneut eröffnen will. Nach türkischem Gesetz hätte ein Vertreter des Familienministeriums an dem Prozess teilnehmen müssen, dieses war aber nicht informiert, schon gar nicht eingeladen worden. Ein Termin für das Verfahren steht noch nicht fest.
Das wäre die letzte Chance, dass die beiden Brüder sich für den Mord an ihrer Schwester verantworten müssen und eventuell sogar dafür verurteilt werden könnten - mittlerweile 14 Jahre nach der Tat.
"Ich war ein Ehrenmord", sagt Almila Bağrıaçıks Stimme aus dem Off. "Der erste, der so richtig fett Presse hatte." Die Reaktionen darauf waren sehr unterschiedlich. Einerseits wurden Deradikalisierungsprogramme initiiert, z. T. unter Mitwirkung türkischer Akteure, z. T. gab es heftige Debatten z. B. in Schulen, weil nicht türkische Schüler mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hielten, dass sie den Mord richtig fanden, weil Hatun Sürücü sich benommen habe wie "eine Deutsche". Ein wichtiger, aber nicht der einzige Grund, warum der Film landauf, landab in allen Schulen vorgeführt werden sollte. Und zwar am besten in Gegenwart der Hauptdarstellerin und ihrer Filmbrüder.