Steilvorlage für den Kreml: Werden Russen an der EU-Grenze enteignet?

Der Grenzübergang Nuijamaa an der Grenze zwischen Russland und Finnland. Bild: Tuomas Vitikainen, CC BY-SA 4.0

Auskunft der EU-Kommission befeuert in Russland Empörung. Es geht um Konfiszierungen durch den Zoll. Wer betroffen ist und wie Moskau den Fall ausnutzt.

Die mediale Strategie des Kreml in Bezug auf Sanktionen und Strafmaßnahmen des Westens aufgrund des Ukraine-Krieges ist einfach: All diese Restriktionen würden nicht etwa wegen eines russischen Angriffskrieges verhängt, sondern weil der Westen russophob sei. Demzufolge träfen viele Beschränkungen auch mehr die gesamte russische Bevölkerung und nicht deren Führung, die Krieg führt.

Tatsächlich sind Maßnahmen wie etwa die westlichen Markenboykotte in Russland Wasser auf die Mühlen dieser Form von Propaganda. Denn kaum jemand vor Ort in Moskau oder Sankt Petersburg glaubt, dass das eigene Establishment keine Möglichkeiten hätte, solche Boykotte zu umgehen, während dem russischen Normalbürger viele westliche Produkte tatsächlich nicht mehr oder nur noch wesentlich teurer zur Verfügung stehen.

Empörte, aber nicht betroffene Polit-Prominente

In den letzten Tagen erlebte diese Form der rituellen Empörung russischer Funktionäre über Russophobie in der Europäischen Union und insbesondere in Deutschland einen Höhepunkt.

Der stets sehr rabiate russische Ex-Premier Dmitri Medwedew sprach bei Telegram von "einem kollektiven Schlag ins Gesicht jeden Bürgers Russlands", Leonid Slutsky, Vorsitzender der kremlnahen Schirinowski-Partei LDPR, empörte sich über einen "widerlichen Geruch von Diskriminierung aufgrund der Nationalität". Die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa sprach in ihrer gewohnt kämpferischen Art gegenüber der Nachrichtenagentur Tass von "Rassismus".

Hintergrund ist tatsächlich ein aktuelles Papier der Europäischen Kommission, das solche Spitzenfunktionäre aus dem Kreml-Umfeld gar nicht trifft - dafür aber umso mehr russische Reisende in die EU. Gerade unter ihnen gibt es viele Kritiker der russischen Invasion in der Ukraine. Denn wer diese aktiv unterstützt, vermeidet Reisen in den "unfreundlichen" Westen, soweit es geht und wer an der Invasion aktiv beteiligt ist, ist wegen der Sanktionen ohnehin für Europa-Reisen gesperrt.

Sanktionsregeln ermöglichen Konfiszierungen an der Grenze

Alles begann damit, dass Ende Juni der Deutsche Zoll die Autos einiger russischer Reisender beschlagnahmte, da deren Einfuhr ein Verstoß gegen die EU-Sanktionen sei. Diese Auslegung einer Ratsverordnung über Einfuhrverbote aus Russland in die EU begegnete zunächst rechtlichen Zweifeln, da die betreffenden Autos nicht in Deutschland verkauft werden sollten, sondern den Reisenden als Verkehrsmittel dienten.

Umso größer war die Überraschung, als am 9. September eine Auskunft der Europäischen Kommission veröffentlicht wurde, in der nicht nur die Beschlagnahmung der Kraftfahrzeuge als rechtmäßig erachtet wurde.

Die Kommission stellte ausdrücklich fest, dass auch die vorübergehende Einfuhr einer ganzen Reihe von anderen Gegenständen durch Russen aus Russland in die EU nicht erlaubt sei. Die zugrunde liegende Liste enthält auch viele Alltagsgegenstände, die Reisende oft dabei haben – vom Laptop über das Smartphone bis hin zu Koffern und Shampoo. Grund für die Verordnung war ein Einfuhrverbot für Dinge, die dem russischen Staat Einnahmen verschaffen.

Bei strenger Auslegung dieser Vorschriften vor Ort stellte sich in der Tat die Frage, ob Russen nur noch in die EU einreisen können, wenn sie zuvor in einem Drittstaat Kleidung kaufen und alles zurücklassen, was sie ursprünglich aus Russland mitgebracht haben. Denn Ausnahmen gibt es nach einer Auskunft des Deutschen Zolls, die Telepolis vorliegt, nur für Mitarbeiter westlicher diplomatischer Vertretungen.

Ist nur das Auto gefährdet oder auch das Smartphone?

Das alles klingt fast wie eine Satire. Doch dass es sich um keine handelt, zeigte sich schnell an der Tatsache, dass sich EU-Kommissionssprecher Daniel Farry gegenüber der russischen Ausgabe der Deutschen Welle zu einer Stellungnahme genötigt sah, dass die eigenen Grenzbehörden bei anderen Waren nicht so streng vorzugehen beabsichtigen, wie bei Autos. "Es ist unwahrscheinlich, dass die Kleidung, die eine Person beim Grenzübertritt trägt, dazu dient, EU-Sanktionen zu umgehen. Ich denke, das ist gesunder Menschenverstand und das ist eine ganz andere Situation als bei einem teuren Auto".

Es liegt also offensichtlich in der Verantwortung der nationalen Grenzbehörden vor Ort, wie streng sie die Sanktionsvorschriften auslegt und was sie beschlagnahmt. Tatsächlich schaffte es auch einer der Russen, von denen ein Auto konfisziert wurde, dieses auf gerichtlichem Weg wiederzubekommen – doch wer würde um ein beschlagnahmtes "teures" Handy oder einen Laptop einen solchen Rechtsstreit führen?

Auch ist nach der Erläuterung durch den Kommissionssprecher weiter unklar, wo zwischen der Kleidung auf der Haut und dem Auto, in dem der Reisende sitzt, eigentlich die Grenze dessen liegt, was schon als Verstoß gegen Sanktionsregelungen geahndet wird.

Russland rät als Reaktion auf das Papier seinen Bürgern generell von der Einreise in die EU mit dem eigenen Kraftfahrzeug ab, berichtet die Moskauer Zeitung Kommersant. Das Dokument der Europäischen Kommission, das praktisch jede Beschlagnahmung legalisiert, habe allerdings nur beratenden Charakter, meinen von der Zeitung befragte Juristen.

Touristisch beliebte Staaten würden nach ihrer Meinung die Regelung nicht in voller Härte auslegen. Jedoch würde "den Zollbeamten freie Hand für örtlichen Missbrauch gegeben, insbesondere in den Ländern, die der Russischen Föderation am feindlichsten gegenüberstehen".

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