Steilvorlage für den Kreml: Werden Russen an der EU-Grenze enteignet?
Auskunft der EU-Kommission befeuert in Russland Empörung. Es geht um Konfiszierungen durch den Zoll. Wer betroffen ist und wie Moskau den Fall ausnutzt.
Die mediale Strategie des Kreml in Bezug auf Sanktionen und Strafmaßnahmen des Westens aufgrund des Ukraine-Krieges ist einfach: All diese Restriktionen würden nicht etwa wegen eines russischen Angriffskrieges verhängt, sondern weil der Westen russophob sei. Demzufolge träfen viele Beschränkungen auch mehr die gesamte russische Bevölkerung und nicht deren Führung, die Krieg führt.
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Tatsächlich sind Maßnahmen wie etwa die westlichen Markenboykotte in Russland Wasser auf die Mühlen dieser Form von Propaganda. Denn kaum jemand vor Ort in Moskau oder Sankt Petersburg glaubt, dass das eigene Establishment keine Möglichkeiten hätte, solche Boykotte zu umgehen, während dem russischen Normalbürger viele westliche Produkte tatsächlich nicht mehr oder nur noch wesentlich teurer zur Verfügung stehen.
Empörte, aber nicht betroffene Polit-Prominente
In den letzten Tagen erlebte diese Form der rituellen Empörung russischer Funktionäre über Russophobie in der Europäischen Union und insbesondere in Deutschland einen Höhepunkt.
Der stets sehr rabiate russische Ex-Premier Dmitri Medwedew sprach bei Telegram von "einem kollektiven Schlag ins Gesicht jeden Bürgers Russlands", Leonid Slutsky, Vorsitzender der kremlnahen Schirinowski-Partei LDPR, empörte sich über einen "widerlichen Geruch von Diskriminierung aufgrund der Nationalität". Die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa sprach in ihrer gewohnt kämpferischen Art gegenüber der Nachrichtenagentur Tass von "Rassismus".
Hintergrund ist tatsächlich ein aktuelles Papier der Europäischen Kommission, das solche Spitzenfunktionäre aus dem Kreml-Umfeld gar nicht trifft - dafür aber umso mehr russische Reisende in die EU. Gerade unter ihnen gibt es viele Kritiker der russischen Invasion in der Ukraine. Denn wer diese aktiv unterstützt, vermeidet Reisen in den "unfreundlichen" Westen, soweit es geht und wer an der Invasion aktiv beteiligt ist, ist wegen der Sanktionen ohnehin für Europa-Reisen gesperrt.
Sanktionsregeln ermöglichen Konfiszierungen an der Grenze
Alles begann damit, dass Ende Juni der Deutsche Zoll die Autos einiger russischer Reisender beschlagnahmte, da deren Einfuhr ein Verstoß gegen die EU-Sanktionen sei. Diese Auslegung einer Ratsverordnung über Einfuhrverbote aus Russland in die EU begegnete zunächst rechtlichen Zweifeln, da die betreffenden Autos nicht in Deutschland verkauft werden sollten, sondern den Reisenden als Verkehrsmittel dienten.
Umso größer war die Überraschung, als am 9. September eine Auskunft der Europäischen Kommission veröffentlicht wurde, in der nicht nur die Beschlagnahmung der Kraftfahrzeuge als rechtmäßig erachtet wurde.
Die Kommission stellte ausdrücklich fest, dass auch die vorübergehende Einfuhr einer ganzen Reihe von anderen Gegenständen durch Russen aus Russland in die EU nicht erlaubt sei. Die zugrunde liegende Liste enthält auch viele Alltagsgegenstände, die Reisende oft dabei haben – vom Laptop über das Smartphone bis hin zu Koffern und Shampoo. Grund für die Verordnung war ein Einfuhrverbot für Dinge, die dem russischen Staat Einnahmen verschaffen.
Bei strenger Auslegung dieser Vorschriften vor Ort stellte sich in der Tat die Frage, ob Russen nur noch in die EU einreisen können, wenn sie zuvor in einem Drittstaat Kleidung kaufen und alles zurücklassen, was sie ursprünglich aus Russland mitgebracht haben. Denn Ausnahmen gibt es nach einer Auskunft des Deutschen Zolls, die Telepolis vorliegt, nur für Mitarbeiter westlicher diplomatischer Vertretungen.
Ist nur das Auto gefährdet oder auch das Smartphone?
Das alles klingt fast wie eine Satire. Doch dass es sich um keine handelt, zeigte sich schnell an der Tatsache, dass sich EU-Kommissionssprecher Daniel Farry gegenüber der russischen Ausgabe der Deutschen Welle zu einer Stellungnahme genötigt sah, dass die eigenen Grenzbehörden bei anderen Waren nicht so streng vorzugehen beabsichtigen, wie bei Autos. "Es ist unwahrscheinlich, dass die Kleidung, die eine Person beim Grenzübertritt trägt, dazu dient, EU-Sanktionen zu umgehen. Ich denke, das ist gesunder Menschenverstand und das ist eine ganz andere Situation als bei einem teuren Auto".
Es liegt also offensichtlich in der Verantwortung der nationalen Grenzbehörden vor Ort, wie streng sie die Sanktionsvorschriften auslegt und was sie beschlagnahmt. Tatsächlich schaffte es auch einer der Russen, von denen ein Auto konfisziert wurde, dieses auf gerichtlichem Weg wiederzubekommen – doch wer würde um ein beschlagnahmtes "teures" Handy oder einen Laptop einen solchen Rechtsstreit führen?
Auch ist nach der Erläuterung durch den Kommissionssprecher weiter unklar, wo zwischen der Kleidung auf der Haut und dem Auto, in dem der Reisende sitzt, eigentlich die Grenze dessen liegt, was schon als Verstoß gegen Sanktionsregelungen geahndet wird.
Russland rät als Reaktion auf das Papier seinen Bürgern generell von der Einreise in die EU mit dem eigenen Kraftfahrzeug ab, berichtet die Moskauer Zeitung Kommersant. Das Dokument der Europäischen Kommission, das praktisch jede Beschlagnahmung legalisiert, habe allerdings nur beratenden Charakter, meinen von der Zeitung befragte Juristen.
Touristisch beliebte Staaten würden nach ihrer Meinung die Regelung nicht in voller Härte auslegen. Jedoch würde "den Zollbeamten freie Hand für örtlichen Missbrauch gegeben, insbesondere in den Ländern, die der Russischen Föderation am feindlichsten gegenüberstehen".
Litauen sperrt Grenze für Autos – EU entschärft Regel, ohne Klarheit zu schaffen
Wie als Antwort erklärte Litauen gegenüber der BBC, in Russland zugelassene Autos generell nicht mehr ins Land zu lassen. Zurückhaltender äußerte sich als Transitstaat Finnland. Das dortige Außenministerium stellte fest, dass keine Beschlagnahmung von einreisenden Kraftfahrzeugen mit russischer Nummer erfolgt. Sollte sich das ändern, werde man das vorab bekannt geben.
Die Europäische Kommission hat als Reaktion auf die Diskussion ihre online verfügbare Rechtsauskunft überarbeitet. In einer Klarstellung wird empfohlen, dass sich die Zollbehörden auf importierte Autos konzentrieren sollen.
Bei anderen Warengruppen, die "im Hinblick auf die Umgehung von Sanktionen geringfügige Bedenken aufwerfen" – persönliche Hygieneartikel oder Kleidung – wird empfohlen, das Verbot in "verhältnismäßiger und angemessener Weise" anzuwenden. Auch die Klarstellung sagt dabei jedoch nichts über das potenzielle Einfuhrverbot für Laptops und Handys aus.
Im Pressekrieg zwischen Russland und dem Westen kommen alle unklaren Dementis jedoch ohnehin zu spät. Denn hier ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Der Kreml und sein Umfeld hatten endlich ihr Paradebeispiel einer Sanktion gefunden, die ausschließlich einfache Russen trifft und verunsichert, ob sie Hab und Gut bei der Einreise in die EU verlieren.
Alle staatsnahen russischen Medien werden mit der Angelegenheit bespielt, wobei diese verschweigen, dass mit Ausnahme der Autos in Deutschland reale, verbürgte Geschichten für Konfiszierungen gar nicht existieren.
Liberale russische Exilmedien sind verunsichert
In Schadensbegrenzung üben sich bei der Affäre noch am glaubwürdigsten exilrussische, liberale Medien. Gerade ihre Leser und ihr näheres Umfeld ist noch häufiger zwischen Russland und der Europäischen Union unterwegs. Doch auch sie wirken angesichts des geltenden Rechts der EU ratlos.
Die Onlinezeitung Meduza schreibt in einem FAQ zu Thema auf die ängstliche Nachfrage von Lesern "wird der Zoll wirklich meine Zahnpasta beschlagnahmen und mich ausziehen" nur "Wir hoffen natürlich, dass es nicht so weit kommt.
Aber wir wissen nicht, was in der Realität passieren wird." Meduza verweist darauf, dass bei der bisherigen Rechtsauslegung an der Grenze Gegenstände "nur für persönliche Zwecke" ohne Absicht sie zu verkaufen, verschont wurden.
Meduza zitiert auch eine unbestätigte Horrorstory des russischen Tourismusportals Tourdom vom Juli, nach der angeblich estnische Grenzbeamte Russen den Transport von Gegenständen in Privatfahrzeugen untersagt hätten und diesen angeboten worden sei, sie zu verbrennen. Darunter seien Kleidung, Schuhe und Taschen gewesen.
Ob es sich hier um nur ein Gerücht aus Sozialen Medien handelt, der Ursprung dieser Meldung war das Netzwerk Telegram, lässt Meduza offen. Die Zeitung rät ihren Lesern jede Beschlagnahme zu dokumentieren, sich schriftlich bestätigen zu lassen und anzufechten.
In Deutschland überwiegend Thema bei potenziell Betroffenen
Während Russlands Medien und Offizielle wegen der Angelegenheit mehr oder weniger Kopf stehen, ist das Echo auf die harte Sanktionsauskunft der Europäischen Kommission eher gering. Nur die Berliner Zeitung und das Wochenmagazin Der Freitag berichteten zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels über die Angelegenheit.
Deutsche Journalisten verfügen hier oft über wenig Einfühlungsvermögen, was aktuell bei russischen Reisenden beim Übertritt der EU-Außengrenze vorgeht, unabhängig von ihrer eigenen Einstellung zum Ukraine-Krieg.
Mehr Empörung herrscht bei Ostexperten, die oft noch über zahlreiche, aber immer schwerer zu pflegende Kontakte nach Russland verfügen. So bezeichnet der österreichische Russland-Fachmann Gerhardt Mangott die aktuellen Maßnahmen und Auskünfte der EU gegenüber Telepolis als kontraproduktiv, da sie den Russen im Ausland zeige, dass sie nicht willkommen seien. Den Russen im Inland zeige sie, dass "die EU nicht nur gegen Putin ist, sondern auch gegen die russische Bevölkerung".
Unmut gibt es auch beim deutschen Europaparlamentsabgeordneten Sergei Lagodisky von den Grünen über die Regelung. In einem Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, über den Meduza berichtet, bezeichnet er die restriktiven Maßnahmen "nutzlos im Hinblick auf die Eindämmung der russischen Aggression".
Beschränkungen für die Einfuhr persönlicher Gegenstände und Fahrzeuge sind nach Ansicht des Abgeordneten "rechtlich und politisch fehlerhaft". Vor allem persönliche Gegenstände von Russen, die als Gegner des Putin-Systems dauerhaft in der EU leben sollten keinesfalls beschlagnahmt werden, meint er.
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