Sterbehilfe: Werden Arme zum Tode gedrängt?
Seite 2: Armut allein reicht nicht aus
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Auf der einen Seite mehreren sich weltweit die schockierten Stimmen angesichts der Situation in Kanada. "Warum leistet Kanada Sterbehilfe für die Armen?", fragt der Journalist Yuan Yi Zhi in einem der meistgelesenen Artikel des Spectator. Befürworter der Gesetzgebung widersprechen und warnen davor, dass die Diskussion genutzt würde, um Sterbehilfe insgesamt zu diskreditieren.
Der Jurist Patrick Martin-Ménard betont angesichts des Falles der Frau aus Ontario:
Die Ärzte, die sie untersuchten, kamen zu dem Schluss, dass sie für eine medizinische Sterbehilfe in Frage kam, weil es keine medizinische Lösung gab. Letztendlich ist es falsch und böswillig, aus dieser Geschichte zu schlussfolgern, dass die medizinische Sterbehilfe als Lösung zur Bekämpfung der extremen Armut angeboten wurde.
Chantal Perrot, eine Ärztin, die Sterbehilfe anbietet, unterstreicht:
Unzureichende Wohnverhältnisse sind kein Kriterium für die Gewährung von medizinischer Sterbehilfe. Die Lebensumstände einer Person können zwar zu ihrem Leiden beitragen, sie stellen aber nicht den schweren und unheilbaren medizinischen Zustand dar, der vorliegen muss.
Jocelyn Downie, Juraprofessorin an der Dalhousie University und Expertin für Sterbehilfe, ergänzt:
Man muss strenge Kriterien für die Inanspruchnahme erfüllen. Und wenn man arm ist und kein Haus hat oder ein Haus, das für einen geeignet ist, dann hat man keinen Anspruch.
Befürworter weisen zudem darauf hin, eine Studie – allerdings bereits aus dem Jahr 2020 – belege, dass die unterstützte Sterbehilfe nicht durch Faktoren wie Armut, Isolation oder mangelnden Zugang zu einer angemessenen Palliativversorgung bedingt sei.
Gebot der Moral
In den letzten Wochen kam neue Bewegung in diese hochemotionale Diskussion. Eine Untersuchung ergab, dass rund 70 Prozent der Kanadier für eine Beibehaltung der aktuellen Gesetzgebung seien. Weiterhin wurden die Kanadier befragt, welche Gründe ihrer Meinung nach für eine Genehmigung der Sterbehilfe ausreichen sollten, auch wenn Menschen nicht unheilbar erkrankt seien.
Die Hälfte der Kanadier wäre damit einverstanden, dass Menschen, die nicht in der Lage sind, eine medizinische Behandlung zu erhalten oder eine Behinderung vorliegt, Sterbehilfe erhalten dürfen. Knapp drei von zehn stimmen für die Möglichkeit von Sterbehilfe für Obdachlose beziehungsweise arme Menschen.
In der Gruppe der 18- bis 34-jährigen Befragten lag der Anteil der Menschen sogar bei 41 Prozent, die die Meinung vertraten, man sollte armen Menschen Sterbehilfe erlauben, auch wenn sie nicht unheilbar krank sind.
Ein Essay zweier kanadischer Wissenschaftlerinnen, das im angesehenen British Medical Journal erschien, sorgte vor Kurzem für Wirbel. Kayla Wiebe, Doktorandin der Philosophie, und die Bioethikerin Amy Mullin, Professorin für Philosophie an der Universität von Toronto, gehen zwei zentralen Fragen zur Sterbehilfe angesichts gravierender Armut nach:
Erstens, können Entscheidungen, die im Kontext ungerechter sozialer Umstände getroffen werden, sinnvollerweise autonom sein? (…)
Zweitens: Sollte unterstützte Sterbehilfe unter solchen Umständen für Menschen möglich sein, selbst wenn ein stichhaltiges Argument dafür angeführt werden kann, dass die betreffenden Personen autonom sind?
Wiebe und Mullin kommen zu dem Schluss, dass auch Menschen in großer Armut autonom entscheiden können und diese Entscheidung damit anerkannt werden muss. Auch wenn eine Entscheidung für Sterbehilfe stets tragisch sei, sollte sie auch in diesem Fall angeboten werden:
Es ist inakzeptabel, Menschen, die sich bereits in ungerechten sozialen Verhältnissen befinden, zu zwingen, zu warten, bis sich diese sozialen Verhältnisse verbessern (...) Ein Ansatz zur Schadensbegrenzung erkennt an, dass die empfohlene Lösung notwendigerweise eine unvollkommene ist: ein "kleineres Übel" zwischen zwei oder mehr weniger idealen Optionen.
In einem Interview ergänzt Mullin:
Wir glauben einfach nicht, dass die Tatsache, dass die sozialen Bedingungen dazu beitragen, ihr Leben unerträglich zu machen, bedeutet, dass sie nicht die Mittel haben, diese Entscheidung zu treffen. Die Menschen können selbst entscheiden, ob ihr Leben lebenswert ist, und das sollten wir respektieren.
Yuan Yu Zhu, ein kanadischer Forschungsstipendiat an der Universität Oxford, kommentiert:
Es ist mehr als tragisch: Es ist ein moralischer Schandfleck für unser Land, für den künftige Generationen büßen müssen.
Soziale Frage
Die Situation ist komplex und die vorhandenen Informationen sicher nicht ausreichend, um dem kanadischen Staat den Vorwurf zu machen, gravierende Probleme der Armut durch unterstützte Sterbehilfe zu lösen und dabei Geld einzusparen.
Die Tatsache, dass der parlamentarische Haushaltsbeauftragte im Herbst 2020 eine Kostenkalkulation für die Gesetzesänderung zur unterstützten Sterbehilfe veröffentlichte und eine zu erwartende "Nettokostenreduzierung" von umgerechnet 43 Millionen Euros kalkuliert, hinterlässt in diesem Zusammenhang allerdings einen sehr bitteren Geschmack.
Jeder Mensch, der um eine unterstützte Sterbehilfe anfragt, ist eine Tragödie. Eine Tragödie, hinter der unvorstellbar viel Leid und Schmerzen liegt. Unheilbare Krankheiten und gnadenlose Schicksalsschläge, die nicht zu ändern sind.
Was aber kein Schicksalsschlag ist, den man nicht ändern könnte: Armut, die so extrem ist, dass die Betroffenen sich nicht das Überleben mehr leisten können. Welches – im wahrsten Sinne des Wortes – Armutszeugnis für eine Gesellschaft ist das, wenn keine wirklichen Anstrengungen unternommen werden, um Armut konkret und strukturell zu lindern, damit Menschen nicht mehr den Tod wählen müssen, weil sie sich schlicht das Leben nicht mehr leisten können.
Die soziale Frage muss wieder dorthin, wohin sie gehört: ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte. Nicht nur in Kanada.
Roger Foley gab in seiner Aussage dem kanadischen Ausschuss zu bedenken:
Sterbehilfe ist leichter zugänglich als sichere und angemessene Unterstützung für ein Leben mit Behinderung.