Sterbehilfe: Werden Arme zum Tode gedrängt?
- Sterbehilfe: Werden Arme zum Tode gedrängt?
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Beihilfe zum Suizid für unheilbar Erkrankte ist ein extrem sensibles Thema. In Kanada entbrennt eine Debatte, welche Rolle Armut bei der Entscheidung über Leben oder Tod hat.
Im Jahr 2015 hatte Kanadas oberster Gerichtshof das Verbot von Sterbehilfe gelockert. Erwachsene, die an "schweren und unheilbaren Krankheiten" litten, sollten über ihr Leben und Sterben selbst entscheiden dürfen.
In Einzelfällen sei es Ärzten nach Prüfung erlaubt, Beihilfe zum Suizid leisten. Voraussetzung hierfür, dass die Patienten unheilbar krank seien und ihre Entscheidung eindeutig geäußert hätten.
Fünf Jahre später verabschiedete der kanadische Senat einen Gesetzentwurf, der den Zugang zu medizinischer Sterbehilfe ausweiten soll, auch auf Menschen, die ausschließlich an psychischen Krankheiten leiden.
Jetzt darf eine Person, die an einer Krankheit oder Behinderung leidet, die "nicht unter Bedingungen gelindert werden kann, die sie für akzeptabel hält", kostenlos die "medizinische Sterbehilfe" (kurz: MAID) in Anspruch nehmen. Es kann kaum überraschen, dass diese Entscheidung von sehr emotionalen Diskussionen begleitet wird.
Zum Tode gedrängt
Im November 2020 sagte Roger Foley vor dem ständigem Ausschuss für Justiz und Menschenrechte des kanadischen Parlaments aus. Der 45-Jährige, der seit seiner Geburt an einer neurodegenerativen Erkrankung leidet, arbeite als e-Business-Manager der Royal Bank of Canada, bis er aufgrund seiner Krankheit komplett bettlägerig geworden ist. Er investierte seine Ersparnisse, um seine Wohnung barrierefrei zu gestalten.
Das kanadische Gesundheitssystem verweigerte ihm jedoch die direkte Finanzierung der häuslichen Pflege. Hier ein längerer Ausschnitt seiner Aussage:
Durch die Regelung der Sterbehilfe in Kanada habe ich erfahren, dass mir die Pflege und Unterstützung fehlt, die ich zum Leben brauche. Man hat mir Nahrung und Wasser verweigert. Man hat mir nicht geholfen, mich umzudrehen, meine Medikamente einzunehmen und auf die Toilette zu gehen. Ich wurde missbraucht und beschimpft, weil ich eine Behinderung habe, und mir wurde gesagt, dass mein Pflegebedarf zu viel Arbeit ist. Mein Leben wurde abgewertet.
Ich wurde durch Missbrauch, Vernachlässigung, mangelnde Pflege und Drohungen zur Sterbehilfe gezwungen. Zu einer Zeit, als ich mich für Lebenshilfe und selbstbestimmte häusliche Pflege eingesetzt habe, haben der Krankenhausethiker und die Krankenschwestern versucht, mich zu einem unterstützten Tod zu zwingen, indem sie mir gedroht haben, mir 1.800 Dollar pro Tag in Rechnung zu stellen oder mich ohne die Pflege, die ich zum Leben brauche, zwangszuentlassen. Ich habe mich von diesem Personal unter Druck gesetzt gefühlt, das mir Sterbehilfe angeboten hat, anstatt mein Leiden durch eine würdevolle und mitfühlende Pflege zu lindern.
Das Krankenhauspersonal hat es versäumt, mich mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Ich wurde ausgehungert und erhielt bis zu 20 Tage lang kein Wasser. Ich wurde schwer azidotisch (Störung des Säure-Basen-Haushalts, Einf. d. A.). Ein Sachverständiger, der den Fall untersucht hat, kam zu dem Schluss, dass die Versorgung mit lebensnotwendigen Dingen nicht gewährleistet war und grobe Fahrlässigkeit vorlag.
Falls die anwesenden Politiker das Gesetz nicht rückgängig machen, warnt Foley:
Ich werde nicht überleben, und es wird Tausende von unrechtmäßigen Todesfällen geben.
"Überflüssiger Abschaum"
In den Covid-Jahren war in Kanada die staatliche Unterstützung für Menschen mit Behinderungen sehr zurückhaltend. Sie erhielten eine Einmalzahlung von umgerechnet 416 Euro. (Studenten hingegen erhielten beispielsweise zur gleichen Zeit umgerechnet 3.471 Euro.)
Leider ist es wenig überraschend, dass der Faktor Armut in diesen Jahren vermehrt eine Rolle bei dem Wunsch nach Sterbehilfe spielt.
Eine Frau in Ontario, die an Multiple Chemikaliensensitivität litt, sah sich zur Sterbehilfe gezwungen, weil ihr Wohngeld nicht ausreichte, um eine Wohnung zu finden, in der ihr Körper nicht mit extremem Schmerz und Lähmungen reagieren würde. Acht Tage vor ihrem Tod sagte sie in einer Videobotschaft:
Die Regierung sieht mich als überflüssigen Abschaum, als Nörgler, als nutzlos und als Nervensäge an.
Eine junge Frau aus Toronto, die ebenfalls an Multiple Chemikaliensensitivität litt, scheiterte bei ihrem Versuch eine Wohnung zu finden, die ihre Krankheit nicht verschlimmerte. Auch sie stellte einen Antrag auf Sterbehilfe, der genehmigt wurde.
Eine Frau aus Vancouver bat um Sterbehilfe, weil sie nach 25 Jahren, die sie mit kaum erträglichen Schmerzen durchlebt hatte, nun kein Geld mehr hatte, um ihre Schmerzmittel zu bezahlen.
Ein Mann, der mit seinem 65. Geburtstag seinen Anspruch auf Beihilfe für Menschen mit Behinderungen verlor, erklärte:
Ich habe sehr deutlich gemacht, dass ich eine "medizinische Sterbehilfe" beantrage, weil ich es mir einfach nicht leisten kann, zu leben. Ich kann es mir nicht leisten, meine Behinderung aufrechtzuerhalten.
Eine Frau, die mehrere Behinderungen hat, aber nicht unheilbar krank ist, beantragte Sterbehilfe. Aufgrund ihrer massiven Ernährungseinschränkungen, an denen sie unter anderem litt, hat sie keinen Zugang zu Lebensmitteltafeln. Sie betont:
Eine Erhöhung (der Sozialhilfe) ist das Einzige, was mein Leben retten könnte. Ich habe keinen anderen Grund, Sterbehilfe zu beantragen, außer dass ich es mir einfach nicht mehr leisten kann, weiterzuleben.
Bevor sie die Giftspritze erhält, bittet sie das Krankenhauspersonal, den kanadischen Premierminister Justin Trudeau anzurufen. Seine Antwort solle darüber entscheiden, ob sie an diesem Tag stirbt. Sie bezweifelt, dass sie jemals mit dem Premierminister sprechen wird. Falls sie aber tatsächlich die Gelegenheit haben sollte, würde sie ihn fragen:
Ist es für Ihren Haushalt wirklich notwendig, dass ich mein Leben aufgebe, damit Sie Ihre finanziellen Ziele erreichen können? Gab es wirklich keinen anderen Weg als den auf Kosten des Lebens von Behinderten, einschließlich meines eigenen?