Stille Nacht, heilige Nacht
Der neue UN-Entwicklungsbericht über den Stand der Wissensgesellschaft in arabischen Ländern
"Die wichtigste Veröffentlichung des Jahres" nannte das Time-Magazin den ersten Teil des UN-Entwicklungsbericht über 22 arabische Staaten, der im letzten Jahr publiziert wurde (vgl. dazu Stillstand und Aussichtslosigkeit). Gestern wurde der zweite von anvisierten vier Teilen veröffentlicht: Der Aufbau einer Wissensgesellschaft "arab style" steht diesmal im Zentrum des UN-Entwicklungsberichts, der von namhaften arabischen Intellektuellen und Wissenschaftlern verfasst worden ist und mit seinen kühnen Analysen (Arabic News) eine lebhafte Debatte provozieren soll.
Auf mehreren hundert Seiten legte der letztjährige Bericht detailliert dar, wie weit die arabischen Staaten in Sachen Technologie, Wirtschaftskraft, Sozial- und Bildungspolitik ins Hintertreffen gegenüber westlichen Ländern gelangt sind.
Kein Wunder, dass angesichts dieses kritischen Spiegels, der vor allem den (ungenannten) Machthabern diverser autoritärer Regime vorgehalten wurde, keiner so recht an der Debatte teilnehmen wollte, die das Projekt doch vor allem auslösen sollte: Die Ergebnisse wurden vor allem in den westlichen Medien "diskutiert", oft genug mit der klammheimlichen Freude, die eigenen Vorbehalte und Besserwisserei schwarz auf weiß bestätigt zu sehen. Die arabische Welt schwieg dazu, bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Al Ahram oder Arab News). Kein offenes Wort über die Analyse der weit verbreiteten Stagnation in den arabischen Ländern seitens verantwortlicher Politiker. Ob es beim neuen Bericht anders sein wird, ist wenig wahrscheinlich.
Denn auch der zweite Teil, der sich detailliert mit Erziehung, Medien, Kultur, Forschung und Wissen in der arabischen Welt befasst, wartet mit wenig gefälligen Statistiken auf, die den Zustand der gegenwärtigen Wissensgesellschaft in den arabischen Ländern auf deprimierende Zahlen bringen. Hier eine Auswahl:
- Die Anzahl der Wissenschaftler und Ingenieure, die in der Forschung und Entwicklung arbeiten, liegt in den 22 arabischen Ländern bei 371 aus einer Million Menschen. Die weltweite Rate beträgt demgegenüber 979.
- Die öffentlichen Ausgaben für Bildung und Erziehung in den arabischen Ländern sinken seit 1985; die Zahl derer, die höhere Schulen und Universitäten besuchen, ging ebenfalls zurück. An der hohen Analphabetenrate unter Frauen hat sich in den letzten Jahren nichts geändert.
- Versorgung mit Medien: weniger als 53 Zeitungen pro 1000 Arabern; der globale Durchschnitt liegt bei 285 in den entwickelten Ländern. Nur 1,6 % der Bevölkerung in den arabischen Staaten verfügen über einen Internet-Zugang.
- Die Produktion literarischer und künstlerischer Bücher lag 1996 bei 1.945 Büchern und repräsentiert damit 0,8 Prozent der Weltbevölkerung. Religiöse Bücher dagegen halten 17% des weltweiten Anteils.
Nötig wären "Offenheit, Interaktion, Assimilation, Aufnahme, Revision, Kritik und genaue Untersuchungen, damit sich eine kreative Wissensproduktion in den arabischen Gesellschaften entwickeln kann", stellt der Bericht fest.
Nichts wirklich Neues, was da gefordert wird; ebenso wenig wie die Feststellung, dass zu den alten Faktoren, welche die Ausbildung der Wissensgesellschaft und die anvisierte Renaissance des arabischen Reichtums an kultureller Stärke verhindern, nämlich wirtschaftliche Rückständigkeit und mangelnde Offenheit, auch zwei gegenwärtige Trends hinzukommen, die sich diesem Ziel entgegenstellen. Zum einen die Angst vor Verlust der kulturellen Eigenheit durch die Globalisierung und die Tendenz zur Nichtakzeptanz von westlichen Werten, zum anderen das politisch restriktive Klima, entstanden und gefestigt durch den Krieg gegen den Terror, sowie durch den israelisch-palästinensischen Konflikt.
Während es ganz offensichtlich ist, dass der Zermürbungskrieg in den besetzten Gebieten die Bildungschancen von jungen Palästinensern drastisch verringert, weist der Bericht auch auf andere weniger augenfällige Konsequenzen einer restriktiven Politik hin, die durch die Folgen des 11.September neu erstarkt ist: z.B. auf die gängige Praxis, dass sich arabische Intellektuelle vor Militärgerichten verantworten müssen, und die Beschränkungen, welche die USA gegenwärtig den Studenten aus dem Nahen und Mittleren Osten auferlegen. So sei die Anzahl der arabischen Studenten in den USA in den letzten Jahren um 30% gesunken.
Die Unterstützer des UN-Berichts sind optimistisch:
Diese Berichte liefern Munition für die Reformer und unterminieren die Argumente derer, die am Status quo festhalten. Es braucht nur einen Führer eines arabischen Staates, der sich eine derartige Reform anklickt und der ganze Reformprozess gerät in Bewegung.
Professor Schafik Ghabra, von der amerikanischen Universität von Kuweit
Kritiker verweisen dagegen darauf, dass der Bericht zu pauschal sei und keine Informationen liefere, die man nicht schon kenne. Den Vorschlägen zur Bildungsoffensive - eine größere Öffnung gegenüber dem Westen, zur eigenen Bevölkerung, mehr Zusammenarbeit usw. - mangele es an Konkretisierung. Den Verfassern fehle der Mut, Dinge beim Namen zu nennen. Da einige der Verfasser einstmals hohe Posten in den von ihnen kritisierten autoritären Regierungen bekleideten, unterstellen die Kritiker, dass sie somit nicht den Mut aufbrächten, diese Länder und deren Herrscher namentlich zu nennen, was tatsächlich neu wäre und zu den erhofften Debatten führen würde.