Stillstand als Programm?
Die Regierungen Israels und der Palästinensischen Autonomiegebiete bewegen sich aufeinander zu und stoßen dabei auf tiefe Skepsis der Öffentlichkeit
Nach den dramatischen Ereignissen der vergangenen beiden Wochen hat sich die Lage in Gaza weitgehend beruhigt: Das israelische Militär hat sich wieder zurück gezogen; der Artilleriebeschuss grenznaher Gebiete, durch den militante Extremisten daran gehindert werden sollen, Raketen auf israelische Ortschaften abzufeuern, wurde weitgehend eingestellt. Nach offiziellen Angaben war es technisches Versagen, das zu dem Anschlag von mindestens einer Granate in ein Wohnhaus in Beit Hanun am Mittwoch führte. Nun warten beide Seite darauf, was als Nächstes geschehen wird
Die radikalislamische Hamas hatte nach dem Zwischenfall angekündigt, wieder Bombenanschläge verüben zu wollen. Israels Regierung rief deshalb, und wegen einer ganzen Reihe von Morddrohungen gegen die Teilnehmer einer Parade von Schwulen und Lesben in Jerusalem am Freitag, den Nationalen Notstand aus, die höchste aller Alarmstufen. In den Palästinensischen Autonomiegebieten geht derweil das Ringen um die Bildung einer neuen Regierung weiter, die eine Wiederaufnahme der ausländischen Finanzhilfen möglich machen soll. Die westlichen Staaten hatte nach dem Wahlsieg der Hamas-nahen Wahlliste „Wechsel und Reform“ nach den Parlamentswahlen im Januar sämtliche Zahlungen gestoppt – ein Schritt, der eine rapide Verschlechterung der humanitären Lage hervorrief, aber am Samstag auch eine erste ernsthafte Wirkung zeigte: Regierungschef Ismail Hanijeh bot seinen Rücktritt an, wenn sich das Ausland dazu bereit erklärt, danach wieder Geld zu schicken.
„Haare an den Beinen, zwei Hauptstädte in Jerusalem“, ein Spruch, der sich auf Hebräisch reimt, steht auf dem Stück Holz, das Anat hoch hält. „Ost-Jerusalem hat doch für Israel überhaupt keine Bedeutung“, schreit sie ihren Gesprächspartner an, weil auf der Bühne in der Mitte des Stadions außerhalb des Jerusalemer Stadtzentrum Ninette Tayeb, die neulich bei der Fernsehshow„Ein Star wird geboren“, ohrenbetäubend laut davon schmalzt, dass irgend jemand das Licht ihres Lebens sei. Dabei wechselt sie dauernd zwischen der männlichen und der weiblichen Form des Wortes „Du“. Die rund 5.000 Zuhörer sind hingerissen: Es ist Schwulen- und Lesben-Parade in Jerusalem, und Ambiguität ist genau das, was ankommt, nach allem, was in den vergangenen Wochen passiert ist.
Eigentlich hatten die Organisatoren die Parade, wie in den vergangenen Jahren auch, im Unabhängigkeitspark mitten in der Innenstadt abhalten wollen. „Das war noch nicht mal als Provokation gedacht“, sagt Anat: „Wir wollten einfach unser Recht wahrnehmen, das zu tun, was alle anderen auch tun: Durch die Straßen ziehen, eine Party feiern, eine politische Demonstration abhalten.“
Aber es kam anders: Vertreter von Juden, Muslimen und Christen protestierten, es kam zu tagelangen Ausschreitungen in den ultra-orthodoxen Stadtvierteln, es gab die ersten Morddrohungen, an einer Straßenkreuzung wurde eine funktionstüchtige Bombe gefunden und dann kündigte am Mittwoch auch noch die Hamas an, sie werde wieder Bombenanschläge verüben, nachdem mindestens eine israelische Granate in ein Wohnhaus im Gazastreifen eingeschlagen war und 19 Menschen getötet hatte. So wurde Realität, was der Oberste Gerichtshof zuvor mit Verweis auf die Demonstrationsfreiheit strikt abgelehnt hatte – die Parade wurde aus dem Stadtzentrum in ein tristes Universitätsstadion verlegt. „Das war schon eine herbe Niederlage“, sagt Anat, „aber letzten Endes wäre jede andere Entscheidung Leichtsinn gewesen.“
Sie wird von einem lauten Aufschrei unterbrochen, der durch die Menge geht: „Dana International“ ist da, jene Dana, die 1999 den „Eurovision Song Contest“ gewonnen hat, jene Dana, die damals Israel gespalten hat, weil sie mal ein Mann war und die Religiösen damals gesagt haben, es sei ein Frevel, dass „so jemand“ im Folgejahr beim Grand Prix in Jerusalem auftreten dürfe. Sie singt „Free“, die modernisierte Fassung eines jemenitischen Volksliedes, das sie damals in Jerusalem singen durfte. Aber heute ist Freiheit nur eine Ahnung, ein Traum für viele Menschen auf beiden Seiten.
Jenseits der Stadionmauern befinden sich die Stadt, das Land, die Palästinensischen Gebiete im Ausnahmezustand. Aus Angst vor Anschlägen muslimischer oder jüdischer Extremisten hat die Regierung den „Nationalen Notstand“, die höchste Stufe der Alarmbereitschaft, ausgerufen; Tausende von Polizisten und Soldaten halten an Straßenkreuzungen und öffentlichen Plätzen Wache, kontrollieren Fahrzeuge und machen den Jerusalemer Verkehr noch unerträglicher, als er ohnehin schon ist.
Die Palästinensischen Gebiete wurden derweil hermetisch abgeriegelt. Die Übergänge in dem Sperrwerk aus Mauer und Zaun, das das Westjordanland umgibt, selbst viele Kontrollpunkte innerhalb des Westjordanlandes sind für alle Palästinenser geschlossen. Man werde mit allen Mitteln verhindern, dass es zu einer neuen Welle des Terrors komme, hatte Avi Dichter, Minister für innere Sicherheit und ehemaliger Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth angekündigt und damit gleich Widerspruch geerntet: Wenn es passiere, könne das niemand aufhalten, hielt Jossi Beilin vom linksliberalen Meretz/Jachad-Block dagegen: „Wie lange wird das Land denn im Ausnahmezustand bleiben können, ohne daran zu zerbrechen?“, fragte er in einem Interview mit dem Fernsehsender Kanal Eins am Donnerstag.
Die Gesellschaften auf beiden Seiten sind gespalten
Schon jetzt hätten die Entwicklungen der vergangenen eineinhalb Jahre eine ganze Reihe von Konflikten erzeugt, sagt der Soziologe Juwal Bar-On:
Die Siedlungsräumungen im vergangenen Jahr, der Wahlsieg der Hamas, der Libanon-Krieg, die Gaza-Operation in der vergangenen Woche, die den Tod von 19 Unschuldigen zur Folge hatte, die Verschlechterung der Lage in den Palästinensischen Gebieten – all' das hat die Gesellschaften auf beiden Seiten gespalten und polarisiert. Freiheit wird zunehmend im begrenzten Rahmenwerk der eigenen politischen oder religiösen Überzeugungen interpretiert: Für die Anhänger der Hamas ist das ein islamischer Staat, für religiöse und nationalistische Juden ein Israel, dass nach ihren Vorstellungen funktioniert. Jeder noch seine kleine Erfolg wird in dieser Situation zum Sieg der eigenen Sache hoch stilisiert.
So ging es beim Streit um die Parade der Schwulen und Lesben vor allem darum: Der Regierung, die vor nicht einmal 18 Monaten alle israelischen Siedlungen im Gazastreifen und vier im nördlichen Westjordanland räumen ließ, eins auszuwischen und dem Land zu zeigen, dass, wenn der von religiös-nationalistischen Israelis geträumte Traum von Groß-Israel schon einen herben Rückschlag erlitten hat, sich diese Klientel ihren Besitzanspruch auf Jerusalem, die Heilige Stadt, nicht kampflos nehmen lassen wird.
Aus der „Gay Pride Parade“, die immer schon auch, aber nicht nur, eine Plattform für politische Stellungnahmen war, ist damit in diesem Jahr in den Augen vieler Säkularer endgültig eine Demonstration für die Bürgerrechte, für die Freiheit geworden, das zu tun, was jeder gerne möchte. Die Veranstaltung ist aber auch ein Protest gegen Politiker auf beiden Seiten, die den Stillstand zum Programm erklärt haben. Immer wieder werden im Stadion die Korruptionsskandale von Regierungsmitgliedern, die Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Staatspräsidenten Mosche Katzaw, die Regierungsbeteiligung des Rechtspopulisten Avigdor Lieberman und seiner Partei angesprochen.
„Ich kann verstehen, dass die Menschen das Vertrauen in die Politik verloren haben“, sagt der Sozialdemokrat Ofir Pines-Pas, einer der wenigen Parlamentsabgeordneten, die zur Parade gekommen sind: „Wir haben alles dafür getan, damit das so wird.“ Als das Kabinett vor zwei Wochen den Koalitionseintritt von „Israel Beitenu“, wie die Partei Liebermans heißt, besiegelte, trat er zurück, denn die Gruppierung tritt für eine Übertragung der arabischen Gebiete im Norden Israels an die Palästinensische Autonomiebehörde als Ausgleich für die Annektierung mehrerer Siedlungsblöcke im Westjordanland ein. „Ich kann nicht mit einem Mann am gleichen Tisch sitzen, der offen rassistische Ansichten vertritt“, wurde Pines-Pas am Freitag in der hebräischen Ausgabe der Zeitung HaAretz (Auszug) zitiert: „Seine Aufnahme in die Regierung wird sich rächen.“
Die Chancen auf neue Verhandlungen sind derzeit nicht schlecht
Seine Verbitterung wird auch dadurch nicht gemildert, dass Premierminister Ehud Olmert im Moment den Anschein gibt, als habe er seinen „Neuordnungsplan“ wieder aus der Schublade geholt, der längst dem Libanon-Krieg zum Opfer gefallen geglaubt war. Bei einem öffentlichen Auftritt am Donnerstag hatte der Regierungschef gesagt, er sei bereit „sehr weitreichende Zugeständnisse“ zu machen, wenn die Palästinenser im Gegenzug den Raketenbeschuss israelischer Ortschaften in der Nachbarschaft des Gazastreifens einstellten und auf Anschläge verzichteten. In einem Interview mit der Washington Post und dem Magazin Newsweek legte er noch einmal nach und erklärte, der „Neuordnungsplan“ sei immer noch eine Option und 90 Prozent des Westjordanlandes sein Angebot. Nur die Bedingungen seien nunmehr andere: Die Palästinenser müssten zuvor vollständig auf Terror verzichten. Außerdem erklärte er, er werde auch mit einer palästinensischen Regierung sprechen, wenn in dieser Hamas-Mitglieder säßen, wenn dieses Kabinett Israel anerkenne und der Gewalt abschwöre. Und: Auf die Frage, ob er bereit sei, den zu fünfmal Lebenslänglich verurteilten Fatah-Funktionär Marwan Barghuti freizulassen, antwortete Olmert: „Ich bin dazu bereit, viele, viele Gefangene freizulassen.“ Ein „politischer Schachzug“ sei das alles, ist Pines-Pas überzeugt:
Am Sonntag fliegt er nach Washington und das wird nach dem Zwischenfall in Beit Hanun am Mittwoch mit Sicherheit kein Zuckerschlecken. Und dann ist da auch noch die Gefahr, dass die Hamas ernst macht und tatsächlich wieder Selbstmordattentäter nach Israel schickt. Allerdings möchte ich auch nicht ganz ausschließen, dass aus diesem Manöver am Ende tatsächlich mehr werden könnte. Denn irgendwas muss Olmert tun, wenn er wirklich bis 2010 im Amt bleiben will. Letzten Endes hängt der Erfolg aber ganz davon ab, was er anbietet und ob die Palästinenser darauf eingehen.
Die Chancen dafür könnten nicht schlecht stehen: In den Palästinensischen Autonomiegebieten scheint die Bildung einer Einheitsregierung auf der Grundlage des „Dokuments der Gefangenen“, einem von in Israel einsitzenden palästinensischen Häftlingen erarbeiteten Grundsatzpapier, kurz bevor zu stehen. Zudem kündigte Ministerpräsident Ismail Hanijeh seinen Rücktritt an, falls sich der Westen im Gegenzug zu einer Wiederaufnahme der Hilfszahlungen bereit erklären sollte. Und: Entgegen der Ankündigung der Hamas, die Anschläge auf Israel wieder aufnehmen zu wollen, wurden seit dem Beginn des Wochenendes am Freitag nur noch vereinzelt Raketen aus dem Gazastreifen in Richtung Israel abgefeuert – nach Ansicht von ausländischen Beobachtern ebenfalls ein Anzeichen dafür, dass nicht nur die Einheitsregierung in trockenen Tüchern ist, sondern auch die Avancen Olmerts aufmerksam verfolgt werden. „Sollte er es ernst gemeint haben, haben wir eine Grundlage, mit der wir arbeiten können“, sagt ein hochrangiger Mitarbeiter von Präsident Abbas: „Sobald wir auf unserer Seite die richtigen Bedingungen geschaffen haben, sollten sich beide Seiten zusammen setzen, um ohne Vorbedingungen über alles zu reden. Das ist unser Wunsch; das ist unsere Bereitschaft.“
Ob die Äußerungen der beiden Regierungschefs nun Schachzüge oder ernst gemeinte Angebote sind, ist der internationalen Gemeinschaft derweil ziemlich gleichgültig: Dort haben diese Entwicklungen eine rege Aktivität in Gang gesetzt. „Es scheint zwar nur ein sehr kleines ‚Fenster der Gelegenheit’ zu sein, aber wir werden alles daran setzen, es zu nutzen“, sagt ein amerikanischer Diplomat: „Es ist ausgesprochen wichtig, dass sich Abbas und Olmert so bald wie möglich treffen, bevor alles wieder von vorne losgeht.“ Ein Sprecher der Europäischen Union erklärte derweil, man beobachte die Entwicklungen auf der palästinensischen Seite sehr genau: „Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, werden wir zeitnah die Zahlungen an die Autonomiebehörde wieder aufnehmen.“
Viele Israelis und Palästinenser nehmen die politischen Entwicklungen allerdings mit Skepsis zur Kenntnis: „Im Moment sind das nur Worte“, sagt Anat, als sich die „Gay Pride Parade“ am Nachmittag ihrem Ende zuneigt, „und davon bekommen wir hier ziemlich viele zu hören.“ Sie und ihre Freunde glauben nicht daran, dass sich bald etwas Grundlegendes tun wird:
Den Politikern geht es doch nur um ihren Machterhalt – so lange sie einen schicken Volvo [die Standardfahrzeuge israelischer Regierungsmitglieder, d.A.] fahren und genug Geld auf dem Konto haben sind sie zufrieden. Gleichberechtigung, Frieden oder Wohlstand interessieren die doch gar nicht.