Streicheleinheiten in Peking
Mit gleich neun Kommissaren reiste EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in Peking an. Das Personalaufgebot spricht für die Tiefe der europäisch-chinesischen Krise
Olympia und Tibet, gefährliche und gefälschte Produkte, Demokratie und Todesstrafe, Klimaschutz und Waffenembargo - die Liste der Streitpunkte in den Beziehungen EU-China ist lang und brisant. Dem Gipfeltreffen am Donnerstag und Freitag in Peking merkte man das nicht an.
Barroso wollte die Wogen glätten: Er habe einen "offenen Austausch" mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao geführt, hieß es am Freitag. Bei dem Gespräch sei es natürlich auch um Tibet gegangen, und der Gast aus Brüssel erwartete eine baldige "positive Entwicklung" in der Region. Was jedoch genau mit Chinas Regierungschef besprochen wurde, wollte Barroso denn doch lieber für sich behalten. Der AFP-Korrespondent in Peking wusste allerdings zu berichten, dass der Kommissionschef erklärt habe, Tibet sei für die EU ein Teil Chinas. Einen Boykott der Olympischen Spiele in Peking lehnte er ab. Dass Chinas Nachrichtenagentur Xinhua kurz nach dem Treffen zwischen Wen und Barroso einen Regierungsbeamten zitierte, wonach Peking zu einem Dialog mit dem Dalai Lama bereit sei, mag zwar kein direktes Gesprächsergebnis sein, kann aber wohl als Geste in Richtung Europa und Reaktion auf den deutlich entschärften Ton des EU-Kommissionschef verstanden werden.
Barroso war mit einem knappen Dutzend seiner Ressortchefs am Donnerstag nach Peking gereist, um mit der chinesischen Staatsspitze über Klima- und Entwicklungspolitik zu sprechen, einen neuen "Mechanismus" zur Beseitigung von Problemen in den Handels- und Wirtschaftsbeziehungen einzuweihen - und einen "sehr offenen Dialog" über Demokratie- und Menschenrechte zu führen. Der Auflauf war für ein so genanntes Drittstaatentreffen ungewöhnlich, meist bestehen die Brüsseler Delegationen nur aus dem Kommissionschef, dem Außenkommissar und einem Vertreter der Ratspräsidentschaft. Aber das Verhältnis zu China ist derzeit mehr als angespannt und das Reich der Mitte eben ein besonderes Land. Besser: Ein Land, in dem die Europäer besondere Interessen haben.
Dass diese Interessen vor allem im wirtschaftlichen Bereich liegen, ist bekannt. So stieg zwischen den Jahren 2000 und 2006 der Warenverkehr zwischen der "EU 27" und China um mehr als 150 Prozent. Der Wert der Ausfuhren erhöhte sich von 26 Milliarden Euro auf 64 Milliarden und jener der Einfuhren von 75 Milliarden auf 195 Milliarden Euro. Die Folge des rapide wachsenden Imports war ein Handelsbilanzdefizit der EU von 131 Milliarden Euro 2006. Im vergangenen Jahr entfielen auf China sechs Prozent der Ausfuhren und 14 Prozent der Einfuhren der "EU 27".
Allerdings fürchtet die Wirtschaft in den EU-Ländern derzeit weit schlimmere Verwerfungen als die immer wieder monierten Handelsbilanzdefizite. Natürlich geht es dabei um das "Tibet-Problem", das durchschlagen könnte. Noch am Donnerstag, unmittelbar vor Beginn der Verhandlungen, bekräftigte Jiang Yu, die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, die Tibet-Frage sei eine innere Angelegenheit Chinas, in die sich "kein Land und keine Organisation" einmischen könne. Dies sei Chinas "entschiedene Position".
Peking reagiert seit Wochen gereizt auf begründete und unbegründete europäische Vorwürfe in Sachen Tibet. Während die offene Parteinahme Frankreichs für den Dalai Lama noch als nationale Position eines – wenn auch eines entscheidenden – EU-Landes betrachtet werden könnte, war die Entschließung des Europäischen Parlaments Anfang des Monats an alle Mitgliedstaaten gerichtet. Die Abgeordneten forderten nicht nur eine unabhängige Untersuchung des chinesischen Vorgehens in Peking, sondern meinten auch, die EU solle sich die Möglichkeit eines Boykotts der Eröffnungsfeier der Olympiade offen halten. Die Antwort aus Peking folgte auf dem Fuß: Der zu der Zeit tagende Volkskongress wies die "unbegründete Kritik" des Europaparlaments scharf zurück und erklärte, die Resolution werde "die chinesisch- europäischen Beziehungen belasten".
Gerade das aber wollen Brüssel und vor allem auch Berlin verhindern. Deutschland ist wichtigster Handelspartner Chinas in EU-Europa. Von den 27 Mitgliedstaaten liegt die Bundesrepublik bei den Exporten an erster Stelle (2006: 43 Prozent der Gesamtausfuhren, gefolgt von Frankreich und Italien mit 13 bzw. neun Prozent). Daher nimmt es nicht Wunder, dass der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg in Berlin nachdrücklich versicherte, für ein weiteres Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Dalai Lama gebe es "keine konkreten Planungen". Entsprechende Äußerungen Merkels in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" vom 12. April seien falsch interpretiert worden. Im vergangenen September hatte Merkel das religiöse Oberhaupt der Tibeter empfangen, was die politischen Beziehungen zu Peking für einige Zeit lahm gelegt hatte.
Dabei hatte das Thema Tibet im Verhältnis zwischen EU und China (offizielle bilaterale Beziehungen bestehen seit 1975) bislang nur eine Nebenrolle gespielt. In der 1995 von Brüssel vorgelegten langfristigen Strategieplanung für die EU-China-Beziehungen beschränkte sich die Kommission auf gerade einen Satz zu Tibet: Die Gewährleistung der Minderheitenrechte sei unzureichend. Statt dessen wird Chinas Rolle für internationale Stabilität, die Weltwirtschaft und als Markt für die europäische Wirtschaft hervorgehoben.
Für das Wohlwollen bedankte sich Peking mit einem eigenen Papier zu den langfristigen chinesisch-europäischen Beziehungen. In dem EU-China-Papier von 2003 wird konstatiert: Keine wesentlichen Interessenkonflikte. Unterschiedliche Ansichten zu verschiedenen Fragen existierten aber sehr wohl. Ausdrücklich sind diese Differenzen in den Zusammenhang mit verschiedenen historischen Erfahrungen, kulturellen Traditionen, einer unterschiedlichen Wirtschaftsentwicklung und anderen politischen Systemen gesetzt. Und noch in der gemeinsamen Erklärung zum Abschluss des 10. EU-China-Gipfels im vergangenen Dezember kam noch nicht einmal der Begriff Tiber vor.
Die Papiere müssen wohl neu geschrieben werden. Nach Olympia.