Streit um Oscar

Wann ist ein digitaler Film noch real genug?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wenn im Kodak Theatre in Los Angeles am 23. März der Academy Award zum 75. mal verliehen wird, feiert sich die Filmwelt, wie jedes Jahr, wieder einmal selbst. Hinter den Kulissen der Academy of Motion Picture Arts and Sciences jedoch steht die Tradition des Oscars vor einem Umbruch, der weder mit der Umstellung vom Stummfilm auf Tonfilm noch mit der Einführung Farbfilms im Kino zu vergleichen ist. Die Rede ist vom Einfluss der digitalen Technologien, die zunehmend alle Bereiche des Films beeinflussen und die Mitglieder der Academy vor die Frage stellen, wann ein Film noch real genug ist, um als "Bester Film" und nicht als "Bester Zeichentrickfilm" ausgezeichnet zu werden.

Shrek

Mit Hilfe der digitalen Technologien lassen sich nicht nur beliebig Hintergründe entwerfen, jegliche Teile eines Bildes entfernen oder hinzufügen oder überarbeiten und Töne verändern. Die Academy hat dieser technischen Veränderung Rechnung getragen, indem sie letztes Jahr die Kategorie "Bester Zeichentrickfilm" einführte, die von dem Streifen "Shrek" gewonnen wurde. 75 Prozent eines Film müssen nach Vorstellung der Academy animierte Effekte nutzen, um in diese neue Kategorie zu gehören.

Allerdings scheint die 75 Prozent-Regel nicht zu gelten, sobald ein menschlicher Charakter die Szene betritt, denn der zweite Teil von "Der Herr der Ringe - Die zwei Türme", dessen Kulisse, Massenszenen und Phantasiegebilde zum Großteil ebenso digital hergestellt und animiert wurden, tritt dieses Jahr in der Kategorie "Bester Film" an. Der menschenleere Film "IceAge", der die gleichen digitalen Technologien für die Erstellung der Hintergründe nutzt wie "Die zwei Türme", wurde hingegen als Zeichentrickfilm nominiert.

Der Herr der Ringe

Mitentscheidend scheint hierbei auch der Charakter der wichtigsten Darsteller zu sein. So hätte die Academy durchaus auch Andy Serkis, der dem Gnom Gollum in "Die zwei Türme" per Motion Capture-Anzug die Bewegung beibrachte, in der Kategorie "Bester Nebendarsteller" antreten lassen. Die Bewegungen der sprechenden Maus im Film "Stuart Little 2" hingegen, die am Computer anhand geometrischer Formen entwickelt wurden, sorgten trotz auftretender menschlicher Charaktere und realem Hintergrund dafür, dass der Film in die animierte Kategorie abgeschoben wurde.

Die digitalen Effekte beeinflussen aber auch andere Kategorien. Wie vergleichbar ist die am Computer entstandene digitale Kulisse von "Die zwei Türme" mit dem original nachgebauten Lower Manhattan um 1850 in Martin Scorseses "Gangs of New York" in der Kategorie "Beste Ausstattung"? Und wie ist der Oskar für die Kategorie "Beste Kamera" zu werten, wenn das Bild im fertigen Film, nachdem es am Computer heller, wärmer oder kühler und um Figuren und Schattenwurf ergänzt wurde, so niemals in der realen Welt existiert hat?

Stuart Little

Damit verschiebt sich auch, was die Academy als Filmkunst betrachtet, nämlich das traditionelle Handwerk des Filmemachens und die Realität, die hinter einem Film steht. Filme wie George Lucas's "Star Wars Episode III" werden künftig gar nicht mehr auf Zelluloid, sondern gleich per Digitalkamera auf Videoband in Form von Einsen und Nullen gespeichert. Doch noch hat die neue Art des Kinofilms noch nicht alle Ebenen im Filmgeschäft überzeugt.

Als die US-Verleihfirma Samuel Goldwyn ihre digital gedrehte Komödie "Tortilla Soup" an die Distributionsfirmen verkaufen wollte, wurde der Film zuvor auf einen 35 mm Zelluloid-Film überspielt und diesen auf herkömmlichen Filmprojektoren vorgeführt. Der Verleih hatte Angst, dass das Wort "digital" die Vermarktung des Films unnötig erschweren würde und ging darauf während der Verhandlungen nicht ein. Erst nachdem die Verträge in der Tasche waren, erzählte Goldwyn über den digitalen Ursprung des Films.

Doch in einigen Jahren, so erwarten Experten, werden Digitalkameras die Filmkameras fast vollständig verdrängt haben. Wie bereits bei der Umstellung auf digitalen Sound vor mehr als einem Jahrzehnt und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten, wird sich die Academy auch beim digitalen Film umorientieren müssen, auch wenn es ihr schwer fällt. Vielleicht hilft es, dann eine neue Kategorie auszuschreiben: für den besten Film ohne digitale Hilfsmittel.