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Kriegszenarios aus dem Irak

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Der Krieg gegen den Irak rückt näher. Doch während über die möglichen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft laut debattiert wird, werden die Folgen für die irakische Bevölkerung dezent im Hintergrund analysiert.

Der typische Iraki ist ein Zeitungsleser. Seit Wochen und Monaten begleitet er uns durch die Nachrichtensendungen. Karim El-Gawhary hat den "Homo iraqis journales legens" als erster ausgemacht und ihn Anfang Januar in der taz eindeutig klassifiziert:

Meist tritt er in kleineren Rudeln auf, breitbeinig vor einem Zeitungskiosk stehend und seine Nase interessiert in die Zeitung steckend.

Der Zeitungsleser ist natürlich eine Fiktion, weil die irakischen Zeitungen so langweilig sind, dass sie weder auf der Straße noch zu Hause gelesen werden. Aber wenigstens ist er ein unverfängliches Motiv, das nicht unter die Zensur fällt und obendrein beruhigt, denn es signalisiert, dass es in dem "Schurkenstaat" so etwas wie einen normalen Alltag gibt. In den Planungsbüros der Vereinten Nationen allerdings hat der Krieg bereits begonnen, und sehr wahrscheinlich werden wir uns schon bald an andere Bilder aus dem Irak gewöhnen müssen.

Bomben hageln auf Bagdad, Militäranlagen werden getroffen, aber auch Stromnetz, Brücken, Häfen und Wohnhäuser. Tausende Tote und bis zu einer halben Million verletzte Iraker werden die hoffnungslos überlasteten und schlecht ausgerüsteten Krankenhäuser überfüllen. So in etwa lässt sich das Kriegsszenario im Irak nach den ersten Tagen der zu erwartenden Massenbombardements zusammenfassen, das in einem Bericht der Vereinten Nationen entworfen wird, der merkwürdiger Weise in den Medien wenig Beachtung gefunden hat.

Der als "streng vertraulich" klassifizierte Bericht Likely Humanitarian Scenarios wurde der Nichtregierungsorganisation "Kampagne gegen Sanktionen gegen den Irak" (Casi) an der Universität Cambridge zugespielt, die sich gegen einen Krieg am Golf einsetzt. Er ist auf den 10. Dezember 2002 datiert und wurde von mehreren UN-Organisationen erarbeitet. Casi veröffentlichte ihn am 7. Januar 2003 im Internet.

Der Bericht macht gleich eingangs die zu erwartenden Unterschiede zwischen dem letzten Angriff gegen den Irak vor elf Jahren und dem kommenden Krieg deutlich. Während der Golfkrieg von 1991 als "vergleichsweise kurze Luftangriffe auf Infrastruktur und Städte" beschrieben wird, wird ein zukünftiger Angriff als "potenziell groß angelegte und anhaltende Bodenoffensive, unterstützt durch Luftangriffe und konventionelle Bombardements" skizziert. Daher geht der UN-Bericht davon aus, dass die möglichen Verwüstungen weitaus größer ausfallen und die Bevölkerung deutlich härter treffen werden als 1991. Dies liege auch daran, dass die Mehrheit der 26,5 Millionen Einwohner des Irak damals über ein geregeltes Familieneinkommen, Bargeld und Rücklagen verfügte, was heute nicht mehr der Fall sei.

In dem internen UN-Dokument wird auch jeder Vergleich mit den humanitären Folgen des Afghanistan-Kriegs zurückgewiesen, da die afghanische Bevölkerung hauptsächlich auf dem Lande lebt und es gewohnt sei, in stärkerem Maße auf sich selbst angewiesen zu sein. Die irakische Bevölkerung lebt größtenteils in Städten und ist als Folge der Sanktionen, die nach 1991 verhängt wurden, zur Erfüllung ihrer grundlegenden Bedürfnisse weitgehend auf den Staat angewiesen: Etwa 60 Prozent der Iraker (16 Millionen) sind abhängig von dem monatlichen Lebensmittelpaket, das sie vom Staat erhalten, sie haben keine Möglichkeit, ihren Bedarf aus anderen Quellen zu decken (vgl. 16 Millionen Hungernde). Außerdem sind die Iraker einen anderen Lebensstandard gewohnt - etwa Elektrizität und fließendes Wasser. Kollabiert wie zu erwarten die Wasser- und Stromversorgung, werden binnen sehr kurzer Zeit 39 Prozent der etwa 26,5 Millionen Iraker auf die Versorgung mit Trinkwasser von außen angewiesen sein, die Abwassersysteme von ca. fünf Millionen Städter werden nicht mehr betrieben. Die beginnende heiße Jahreszeit wird eine epidemische Ausbreitung von Cholera und Typhus "sehr wahrscheinlich" machen.

Was die medizinische Versorgung betrifft, berücksichtigt der Bericht, dass im Irak auch ohne einen Angriff eklatante medizinische Unterversorgung sowie mangelhafte Ernährung der Bevölkerung herrschen. Von dem "wahrscheinlichen Fehlen einer grundlegenden medizinischen Versorgung in einer Nachkriegssituation" werden vor allem die Menschen in den südlichen und zentralen Regionen des Irak betroffen sein. Unicef geht davon aus, dass die Versorgung von etwa 5,2 Millionen Menschen - davon 4,2 Millionen Kinder unter fünf Jahren, die stark oder mittelmäßig unterernährt sind, sowie eine Million schwangere oder stillende Frauen - derart katastrophal sein wird, dass sie künstlich ernährt werden müssen.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk schätzt, dass es auf lange Sicht 900.000 irakische Flüchtlinge geben wird, für 130.000 von ihnen wird das Hilfswerk nach eigenen Angaben "anfangs nicht die notwendige Unterstützung leisten" können. Hier wird bereits mit der Möglichkeit von Transitcamps entlang der irakischen Grenzen kalkuliert, die mittlerweile ja im Entstehen sind.

Die Not wird groß sein im Irak und die Bevölkerung dort weitgehend ihrem Elend überlassen sein. Die UN-Planungsstellen rechnen damit, dass sich der Konflikt in diesem zweiten Krieg über längere Zeit hinziehen wird und die humanitäre Hilfe von außen entweder durch die eine oder die andere Kriegspartei verweigert oder durch Sicherheitsbedenken ernsthaft behindert wird. Wir werden ihn noch sehr vermissen, den gemeinen irakischen Zeitungsleser.