Studie: Wer schlecht verdient, wählt schlecht
Eine Befragung hat ergeben: Wem es bei der Arbeit schlecht ergeht, denkt und wählt eher rechtsextrem. Also auf geht’s, Unternehmer – die Demokratie retten! (Teil 1)
Studien gibt es fast wie Sand am Meer. Solche wie "Gibt es einen Zusammenhang zwischen Schuhgröße und Penisgröße?" oder "Mögen Hühner schöne Menschen?" zählen sicherlich nicht unbedingt zu denen, die das menschliche Wissen entscheidend voranbringen.
Und von dieser Sorte werden jeden Tag irgendwo auf der Welt Untersuchungen veröffentlicht, die eher die Forscher begeistern und ernähren als der Menschheit einen Dienst zu erweisen.
Und es kommen Studien auf die Welt, die verdächtig danach aussehen, dass schon vor Beginn der Forschung das Ergebnis feststeht. Einem bekannten Spruch zufolge soll man ja nur den Studien glauben, die man selber gefälscht hat.
Wenn renommierte Institute das Rauchen von Tabak für kaum gesundheitsgefährdend einstufen, kann das damit zusammenhängen, dass sie von der Tabakindustrie finanziert werden. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, bei denen angebliche wissenschaftliche Erkenntnisse in Verruf geraten.
Wenn die Demokratie das Versprechen auf ein gutes Leben nicht einlöst
Ob und wenn ja in welche Kategorie die jüngste Studie der Hans-Böckler-Stiftung fällt? Schauen wir erst einmal auf ihre Zusammenfassung:
Arbeitsbedingungen haben europaweit einen Einfluss darauf, wie Erwerbspersonen zur Demokratie stehen. Das zeigt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, für die rund 15.000 Erwerbstätige und Arbeitsuchende in zehn EU-Ländern befragt worden sind.
Erwerbspersonen, die unzufrieden mit ihren Arbeitsbedingungen sind, bei denen die Bezahlung nicht stimmt und die im Job wenig Mitsprachemöglichkeiten haben, haben in Deutschland und zahlreichen weiteren untersuchten Ländern überdurchschnittlich oft negative Einstellungen gegenüber der Demokratie in ihrem Land und gegenüber Zugewanderten. Zudem fühlen sie sich stärker von der Transformation von Wirtschaft und Arbeitswelt bedroht. Bessere Arbeitsbedingungen korrelieren hingegen mit positiveren Einstellungen zur Demokratie und einem höheren Vertrauen in deren Institutionen. Dies gilt auch für das Vertrauen in die Europäische Union.
Das ist doch mal eine Erkenntnis: Wer kaum genug Geld fürs Leben verdient, wer Schwerstarbeit jeden Tag verrichtet, dabei auch noch schikaniert wird und mit Kälte, Hitze, Gift und vielen anderen schlechten Arbeitsbedingungen zu kämpfen hat, findet die Demokratie so, wie er sie derzeit erlebt, eher weniger toll.
Denn die soll doch eigentlich die beste aller Staatsformen sein, die es gut mit allen meint. Irgendwie trifft das aber auf eine Menge Leute nicht zu. Und wenn diese Menschen nach ihrem anstrengenden und wenig einbringenden Arbeitstag von einem Hans-Böckler-Wissenschaftler belästigt werden, was sagen dann nicht wenige?
Sie äußern sich "überproportional negativ über Demokratie und Zuwanderung – was Rechtsaußen-Parteien für sich nutzen" (Alexander Hagelüken: Schlechte Bezahlung hilft Rechtspopulisten, in: Süddeutsche Zeitung", 4. Juni 2024).
Arm und kaputt – dagegen sollen ein "starker Staat" und eine "harte Hand" helfen?
Seltsam daran ist erst einmal, dass der erste Adressat für Beschwerden solch ausgebeuteter Leute doch das Unternehmen sein müsste, für das sie malochen – und nicht der Staat. Und wenn die Firma auf Durchzug schaltet, was meistens der Fall ist, müsste die Gewerkschaft ins Spiel kommen. Die müsste auskömmliche Löhne gegen die Arbeitgeber durchsetzen, bessere Arbeitsbedingungen und Mitsprache.
Dieser schlichte Gedankengang interessierte aber offenbar die Autoren der Studie nicht. Sie hätten fragen können, wie sich die Leute ihre Lage erklären und welche Schlüsse sie daraus ziehen. Warum sie zu Parteien tendieren, die die Schraube ihrer Ausbeutung und Armut gewiss nicht lockern, sondern sogar eher weiterdrehen würden.
Warum sie sich von einem "starken Staat" mit einer Regierung der "harten Hand" mehr versprechen. Warum sie den staatlichen Umgang mit Migranten als noch viel zu weich empfinden – wo der doch fleißig daran arbeitet, Flüchtlinge abzuwehren und abzuschieben.
Lesen Sie auch
Migration: Was ist zumutbar, was wünschenswert?
Faul und fragil? Die deutsche Arbeitsmentalität im Blick aus der Schweiz
Experten warnen: Droht uns das Zeitalter der Entvölkerung und gesellschaftlicher Erosion
Deutschland steuert auf Drei-Millionen-Marke bei Arbeitslosen zu
Fehlen den deutschen Hochschulen künftig die ausländischen Studierenden?
Das wäre allerdings eine andere Studie geworden. Die womöglich unangenehme Ähnlichkeiten zutage gefördert hätte zu einigen im politischen Mainstream gängigen Auffassungen: Dass es "Deutschland" nicht gut geht, dass die Wirtschaft in der Krise ist, dass Brücken, Straßen, Gleise, Schulen marode sind, dass der Staat keine weiteren Flüchtlinge mehr verkraftet, dass die Regierung zerstritten ist und Deutschland deshalb einfach nicht vorankommt.
Da muss doch jemand mal durchgreifen, lautet die Parole. Und neben der CDU ist es nun einmal die AfD, die in dieser Richtung die schärfsten Attacken gegen die "Ampel" reitet.
Und sie hat einen Vorteil gegenüber den Christdemokraten: In Regierungsverantwortung war sie bisher nicht. Die AfD gehört nicht zur etablierten Herrschaftselite. Also hat sie mit vermeintlichen Fehlern und Versäumnissen aus der Vergangenheit nichts zu tun – was man von der Merkel-CDU gewiss nicht sagen kann.
In Sorge um Deutschland vereint: die "politische Mitte" und der "rechte Rand"
Bei einer solchen Studie wäre vielleicht auch deutlich geworden, wie sich die nach "Rechts" tendierenden Bürger durchaus nicht komplett außerhalb der normalen politischen Gedankenwelt bewegen.
Denn die verbreitete Diskussionskultur dreht sich ständig um den Zustand Deutschlands. Das Wohlergehen der Nation gilt als entscheidend. Diese Sorgen machen sich auch AfD-Wähler zueigen. Von ihrer persönlichen Lage sehen sie dabei ab, wie es alle anderen die "richtigen" Parteien Wählende auch tun.
Ihre Situation kommt nur insofern vor, als Missstände und Misserfolge des Staates als schlechte Bedingungen für das eigene Fortkommen angesehen werden. Stichwort Migration: Da muss kein Flüchtling einem AfD-Wähler konkret etwas weggenommen oder ihn belästigt oder gar bedroht haben.
Deutschland geht es gar nicht gut – und dann hält dieses gebeutelte Land auch noch Leute aus von irgendwo her! Das muss aufhören, sagt sich der von den etablierten Parteien in dieser Hinsicht enttäuschte Bürger.
Lesen Sie auch
Also müssen solche und andere vermeintliche Schwächen Deutschlands schnellstens behoben werden. Dazu gehören allerdings auch zu hohe Ausgaben für den Sozialstaat. Ein solches Detail und manch andere für den Alltag von abhängig Beschäftigten oder Arbeitslosen unangenehme Programmpunkte rechter Parteien interessieren eben weniger vor dem Hintergrund der großen deutschen Krise.
Ganz generell müsse da mal eine andere Partei ran, lautet die Einschätzung. Weil so kann es ja nicht weitergehen! Das zum Rätsel, warum Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, ausgerechnet AfD oder CDU wählen, die ebendiese Sozialleistungen massiv kürzen wollen.
Alles dreht sich bei diesen Überlegungen um das Wohl der Nation. Wer die Ansagen macht, wer davon profitiert, wer dafür arbeiten muss und deshalb nicht auf seine Kosten kommt – alle diese sehr verschiedenen und sich in Interessensgegensätzen befindlichen Beteiligten sind im ganz normalen Nationalismus eingeebnet.
Da macht es keinen Unterschied, ob die einen nicht wissen, wohin mit ihrem Geld und die anderen nicht wissen, wie sie an Geld kommen. Ob die einen die Vorschriften erlassen, wie sich ihre Bürger für den Reichtum Deutschlands einzusetzen und zu benehmen haben – und die anderen gefälligst dem zu gehorchen haben.
Alle sind so ideologisch vereint in dem Konstrukt Nation: "Wir" ziehen doch alle "an einem Strang", jeder "an seinem Platz"… In dieser allgemein gepflegten Gedankenwelt gelten individuelle Nöte und Forderungen nur insoweit, als sie einen Beitrag zum Wohl der Nation leisten. Umso mehr, wenn es dieser Nation nicht allzu gut geht.
In einem solchen Fall wird verschärft die Frage gestellt, ob die gerade verantwortlichen Politiker die Richtigen sind beziehungsweise die Krise an ihnen liegt. Dann wird von einigen Bürgern die Frage gestellt: Brauchen wir nicht ganz neue, unvorbelastete und entschlossenere Herrschaften?
Und mehr Durchgriff, damit Entscheidungen schneller getroffen werden? Demokratische Prozeduren geraten bei dieser Sicht auf die Dinge dann schon einmal ins Zwielicht. Ein wenig unfair: Schließlich hat die Bundesregierung ein "Deutschland-Tempo" ausgerufen und diverse Beschleunigungsgesetze auf den Weg gebracht.
Nur den internen Koalitionsstreit hat sie nicht beigelegt. Und das, so die Perspektive von ganz rechts, aber nicht nur von dort übrigens, kann sich die Nation nicht mehr leisten.
Der Traum der Gewerkschaften: Der Staat nimmt ihnen die Arbeit ab
Das Erkenntnisinteresse des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ist von solchen Überlegungen und einem solchen Untersuchungsansatz meilenweit entfernt.
Es liegt vielmehr darin, Zusammenhänge herzustellen zwischen dem Grad der Arbeitszufriedenheit und der politischen Einstellung. Wie das WSI auf diese Fragestellung wohl gekommen sein mag?
Vielleicht so: Rechte Parteien bedrohen die Demokratie in Europa. Was könnten wir Gewerkschaften dagegen unternehmen, was könnten ihnen nahestehende Wissenschaftler dazu beitragen? Wäre es nicht super, wenn herauskäme, dass unsere Klientel umso mehr "rechts" denkt, je schlechter es ihnen bei der Arbeit ergeht?
Also umgekehrt mehr Lohn, weniger Leistungsdruck, mehr Arbeitsplatzsicherheit und Mitsprache die Leute zu überzeugten Demokraten machten? Dann könnte der "Rechtsruck" ganz einfach bekämpft werden. Die Arbeitgeber müssten nur ihre Beschäftigten besser behandeln, und die Gefahr für die Demokratie wäre gebannt.
Und wir Gewerkschaften hätten ein durchschlagendes Argument in der Auseinandersetzung mit den Unternehmen in der Hand: Wer sich besseren Arbeitsbedingungen in den Weg stellt, untergräbt die Demokratie! Was wir bisher nicht geschafft haben, das erledigt dann der Druck der Politik auf das Kapital.
Eine derartige Ausgangsüberlegung nennt man "Arbeitshypothese". Wer damit eine gewisse Vorentscheidung für das Ergebnis der Untersuchung vermutet, liegt nicht falsch. Außerdem wird diese Befragung keinen notwendigen Zusammenhang behaupten zwischen Arbeitszufriedenheit und politischer Einstellung. Im Sinne von ab soundso wenig Lohn wählen Kollegen die AfD. Sondern es werden Tendenzen und Korrelationen ermittelt. Aber die sollten – siehe Arbeitshypothese – am besten den erhofften Zusammenhang unterstreichen.