EU-Kommission: Für Ursula von der Leyen reicht es nicht

Ursula von der Leyen vor EU-Fahne

EU und von der Leyen: bald getrennte Wege? Bild: Alexandros Michailidis, Shutterstock.com

Das Gefeilsche um Posten in Brüssel hat begonnen – vor allem im den Chefposten. Kann sich die deutsche Amtsinhaberin Hoffnung machen? Nein, meint unser Autor.

Der erwartete Rechtsruck bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ist eingetreten. In Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien, Portugal, Belgien, den Niederlanden und weiteren Ländern konnten weit rechts stehende Parteien ihre Positionen ausbauen.

Die Europäische Volkspartei - EVP (der Zusammenschluss von Konservativen und Christdemokraten), Sozialdemokraten und Liberale haben aber weiterhin eine Mehrheit im EU-Parlament.

Die EVP kam auf 186 Sitze und liegt damit deutlich vor den Sozialdemokraten (S&D) mit 135 Sitzen. Damit konnten sich die beiden großen Parteifamilien stabilisieren, nachdem sie in vorangegangenen Wahlen stets geschrumpft waren.

Deutlich kleiner geworden ist hingegen die Fraktion der Liberalen, die als "Renew Europe Group" firmiert. Vor allem die liberale Präsidentenpartei Macrons verlor massiv. Hatte die Renew-Fraktion 2019 noch 108 Mandate errungen, sind es jetzt nur noch magere 79 Sitze.

Labile Mitte

"Die Mitte hat gehalten", freute sich nach den ersten Hochrechnungen EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, die auf eine zweite Amtszeit hofft. Seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 hatte diese "Mitte" stets das Parlament dominiert.

Es waren die drei Fraktionen EVP, S&D und Liberale, die die wichtigsten Posten in der Europäischen Union unter sich aufteilten und für stabile sogenannte "proeuropäische" Mehrheiten sorgten.

Diese "Mitte" stellte regelmäßig den Kommissionspräsidenten bzw. die Präsidentin. Zwar haben diese Parteien auch jetzt noch eine Mehrheit, doch die steht nur auf dem Papier, denn sie dürfte allein nicht für eine Wiederwahl der von der EVP nominierten Kommissionspräsidentin von der Leyen reichen.

Die absolute Mehrheit liegt bei 361 Stimmen. EVP, S&D und Liberale verfügen zusammen über 400 der 720 Sitze. Doch ist jetzt schon abzusehen, dass die drei Fraktionen nicht geschlossen für sie stimmen werden.

15 Prozent stimmen anders ab

Bei vorangegangenen Abstimmungen hatte sich gezeigt, dass regelmäßig zehn bis 15 Prozent der Abgeordneten anders abstimmen als von ihren Fraktionsführungen empfohlen. Und das wird auch jetzt nicht anders sein.

Französische Sozialisten und Republikaner haben bereits angekündigt, von der Leyen nicht zu unterstützen. Weitere Parlamentarier könnten dazukommen, etwa aus der italienischen Forza Italia, die zur Fraktion der EVP gehört. So ist es sehr unwahrscheinlich, dass es für die Kommissionspräsidentin allein mit der Unterstützung von EVP, S&D und Liberalen diesmal reichen wird.

Angesichts dieser Situation bieten sich an, das traditionelle Bündnis der Mitte um die Grünen zu erweitern.

Deren Abgeordnete hatten 2019 noch gegen von der Leyen gestimmt. Während ihrer Amtszeit kam es jedoch zu einer Annäherung der Lager. So wurde der europäische "Green Deal" mithilfe der Grünen verabschiedet. Man sprach vom "Ursula-Bündnis" von EVP, S&D, Liberalen und Grünen. Doch gegen die formelle Aufnahme der Grünen in das Bündnis der Mitte spricht jetzt, dass diese Fraktion geschwächt aus den Wahlen hervorgegangen ist.

Die Grünen verloren nicht weniger als 18 Sitze und stellen nur noch 53 Parlamentarier.

Von der Leyen und die Verlierer

Von der Leyen würde sich damit mit einer Loser-Truppe zusammentun, die womöglich ihre beste Zeit bereits hinter sich hat. Zudem hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt, dass die mit dem "Green Deal" vereinbarten Ziele von wichtigen Mitgliedsstaaten – etwa von Italien und osteuropäischen Ländern – nicht mehr geteilt werden – etwa das Aus für Verbrenner-Motoren 2035 oder das überaus ehrgeizige Vorhaben einer Klimaneutralität der EU im Jahr 2050.

Es spricht daher viel dafür, dass die künftige Kommission auf diese Länder zugehen muss. Dies alles sind keine guten Aussichten für eine Zusammenarbeit mit den Grünen.

Bleibt ein Bündnis mit Rechtsaußen, um die Wiederwahl von der Leyens abzusichern. Die beiden dort angesiedelten Fraktionen Europäische Konservative und Reformer (EKR) sowie Identität und Demokratie (ID) haben nur moderat zugelegt. Erstere erhielt vier Sitze mehr, die Zweite neun.

Zur EKR zählen jetzt 73 Abgeordnete, zur ID 58. Doch dieses Lager wird im neuen Parlament noch anwachsen; dürften doch unter den 90 Abgeordneten, die sich bisher keiner Fraktion angeschlossen haben etliche Rechtsaußen verorten. Es spricht also einiges dafür, dass EKR und ID bis zur Konstituierung des Parlaments noch deutlich größer werden.

Neofaschisten aus Italien

Eine Unterstützung von der Leyens durch die EKR verlangt aber die Zustimmung durch Giorgia Meloni, der italienischen Ministerpräsidentin und Vorsitzenden der aus der "Faschistischen Italienischen Bewegung" hervorgegangenen Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens), die bei den Europawahlen von vier auf zehn Abgeordnete zulegen konnte.

Am 10. Juni 2024 berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): "Schon im Wahlkampf hatte von der Leyen ausdrücklich gesagt, dass sie auch Giorgia Meloni ein Angebot machen wolle."

In diesem Sinne war bereits EVP-Fraktionschef Manfred Weber in den vergangenen Monaten mehrfach in Rom vorstellig geworden. Und die Kommissionspräsidentin spricht inzwischen mit großer Achtung von Meloni, die aus ihrer Sicht die entscheidenden Kriterien einer Partnerin der "Mitte" erfüllt: Sie sei proeuropäisch, für die Ukraine und gegen Russland.

Lupenreine Demokratin?

Das genügt offensichtlich, um aus der Führerin einer aus dem Sumpf des Neofaschismus gekommenen Partei, die in Vielem der deutschen AfD gleicht, eine lupenreine Demokratin zu machen.

Der gegenwärtig von Meloni geführte Kulturkampf gegen die antifaschistische Tradition Italiens, gegen Kommunisten, Sozialisten und selbst Liberale spielt dabei ebenso wenig eine Rolle, wie ihr Vorgehen gegen die italienischen staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten, die sie auf den Kurs der neuen Regierung zwingen will. Von einer "Brandmauer" mit der in Deutschland CDU/CSU die AfD von der Macht fernhalten will, ist auf europäischer Ebene keine Rede!

Neue Volksparteien auf der Rechten?

Die konservative FAZ kommentiert dieses Antichambrieren mit Wohlwollen: In der neofaschistischen Partei Fratelli d’Italia als auch in dem französischen Rassemblement National von Marin Le Pen sieht sie verharmlosend "neue Volksparteien auf der Rechten".

Und über die Versuche Melonis, das Land auf einen rechtsradikalen Kurs zu zwingen, schrieb sie abwiegelnd: "Die von der Opposition erhobenen Vorwürfe, Meloni höhle mit ihren Reformen den italienischen Rechtsstaat aus und schränke die Medienfreiheit ein, sind kalkuliert übertrieben. Freilich bekennt sich Meloni fidel zum konservativen 'Kulturkampf' gegen die woke Ideologie."

Düstere Perspektive für europäische Linke

Und mit Genugtuung blickt die Zeitung auf das sich aus einer Erweiterung der Mitte ergebende Machtgefüge in Brüssel und Straßburg: "Die europäische Linke wird nicht in die Opposition gehen müssen. Aber sie wird in Europa weniger zu sagen haben." (FAZ vom 07.06.2024)

Doch noch ist nicht ausgemacht, dass diese Rechnung auch aufgeht. Weder Melonis noch Le Pens Partei wurden gewählt, damit mit der Deutschen Ursula von der Leyen ausgerechnet eine Vertreterin jenes Landes erneut Kommissionspräsidentin wird, das seine Vorstellungen von Stabilitätskultur anderen EU-Ländern, vor allem des europäischen Südens, seit Jahren rücksichtslos aufzwingt.

Aufstieg der Rechtsextremen

Der Aufstieg rechtsextremer Parteien in Italien, Frankreich, aber auch in Spanien, Portugal, Polen und Ungarn sind nicht zuletzt auch ein Protest gegen die Zentralisierung der EU unter deutscher Vorherrschaft.

Es ist daher denkbar, dass sich eine Situation wiederholt, wie man sie nach den Europawahlen 2019 erleben konnte. Damals hieß der deutsche, von der EVP nominierte Kandidat für den Kommissionsvorsitz Manfred Weber, ein politisch blasser und nur im europäischen Politikbetrieb bekannter Bayer.

Es war der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der seinerzeit Einspruch gegen seine Wahl einlegte. Da das Amt aber unbedingt an einen bzw. eine Deutsche gehen sollte, zauberte man mithilfe von Bundeskanzlerin Angela Merkel kurzerhand die Kandidatin Ursula von der Leyen aus dem Hut.

Von der Leyen zuvor wenig erfolgreich

Als damalige deutsche Verteidigungsministerin war sie nur wenig erfolgreich in ihrem Amt, zudem gab es Gerüchte über dubiose Auftragsvergaben an ihren Bekanntenkreis.

Doch die glückliche Gewinnerin von damals könnte heute die Verliererin sein. Und die Staats- und Ministerpräsidenten könnten jemanden auswählen, der sowohl das Vertrauen der europäischen Peripherie als auch einer neue Mitte-Rechts-Mehrheit im Europäischen Parlament genießt.

Und es ist kaum anzunehmen, dass diese Person Ursula von der Leyen heißt.