EU-Kommission: Warum Ursula von der Leyens Kandidatur auf wackeligen Beinen steht

Selenskyj, von der Leyen. Bild: Review News, Shutterstock.com

Die Christdemokratin strebt eine zweite Amtszeit an. Das stellt sie vor enorme Herausforderungen. Hauptgrund: Ihre erste Amtszeit. Ein Gastbeitrag.

Fast 400 Millionen europäische Bürgerinnen und Bürger sind bis zum morgigen Sonntag aufgerufen, die Vertreter ihres Landes für das Europäische Parlament zu wählen. Das Ergebnis der Wahlen wird Einfluss darauf haben, wer der nächste Präsident der Europäischen Kommission wird, eines der mächtigsten Ämter in der europäischen Politik.

Dieses Amt hat derzeit Ursula von der Leyen inne, die 2019 die erste Frau an der Spitze der Kommission sein wird. Damit ihre Amtszeit bis 2029 verlängert werden kann, muss sie zunächst von den 27 Staats- und Regierungschefs der EU für das Amt nominiert werden. Anschließend muss sie von einer Mehrheit der 720 neuen Abgeordneten des Europäischen Parlaments unterstützt werden.

Beim letzten Mal hatte sie keine Wahlkampagne geführt; ihre Nominierung kam vielmehr überraschend. Doch in diesem Jahr ist sie die Spitzenkandidatin der bürgerlichen Europäischen Volkspartei (EVP) und setzt alles daran, ihre zunehmend wackelige Kandidatur für eine zweite Amtszeit zu festigen.

Heftiger Streit über Zukunft der EU

Unter den Staats- und Regierungschefs und im Europäischen Parlament wird heftig über die Zukunft der europäischen Integration und Fortschritte in Schlüsselbereichen wie dem Klimawandel debattiert. Für von der Leyen scheint es eine große Herausforderung zu sein, in beiden EU-Institutionen die Mehrheit zu erreichen, die sie braucht, um ihr Amt zu behalten.

Sie wurde 2019 mit einer sehr knappen Mehrheit von nur neun Stimmen gewählt, selbst nachdem sie verschiedenen Fraktionen große Versprechungen gemacht hatte.

Die Fraktionen, die von der Leyen beim letzten Mal unterstützt haben, werden von ihr erwarten, dass sie ihre politischen Versprechen einhält. Sie werden ihre Leistung entsprechend bewerten, wenn sie über ihre Wiederwahl entscheiden. Daher ist es sinnvoll, eine Bilanz ihrer Leistungen zu ziehen.

Amtszeit von Krisen überschattet

Von der Leyen musste fast vom ersten Tag ihrer Amtszeit an auf Krisen reagieren. Kurz nach ihrem Amtsantritt war sie mit einer weltweiten Pandemie konfrontiert. Nur zwei Jahre später stand sie vor dem größten Krieg auf europäischem Boden seit 1945.

Gabriele Abels ist Politologin an der Universität Tübingen. Bild: Universität Tübingen

Gleichzeitig gab es demokratische Rückschritte in den Mitgliedstaaten, und in mehreren Ländern wie der Slowakei, Italien und zuletzt den Niederlanden kamen europaskeptische und populistische Regierungen an die Macht.

In Krisenzeiten ist eine starke Führungspersönlichkeit gefragt, die von der Leyen zweifellos geworden ist. Sie spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der EU-Strategie für die Herstellung und den Einsatz von Covid-Impfstoffen.

Gleichheit für alle

Und sie hat Fortschritte bei der Verwirklichung des Prinzips "Gleichheit für alle" erzielt – eine der Prioritäten ihrer Kommission.

Angeordnete verabschiedeten Rechtsvorschriften zur Förderung der Lohntransparenz und der Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt, und das Parlament verabschiedete neue Vorschriften zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

Als Reaktion auf den Krieg Russlands in der Ukraine hat sie eine starke Führungsrolle übernommen. Von der Leyen war die erste europäische Politikerin, die nach der Invasion nach Kiew reiste und die Idee eines EU-Beitritts der Ukraine zur Sprache brachte. Ihre Kommission war auch maßgeblich an der Vorbereitung der Sanktionen gegen Russland beteiligt.

Der europäische Green Deal

Eine weitere wichtige Priorität war der europäische Green Deal, den von der Leyen als "Europas Mann auf dem Mond" bezeichnete. Unter ihrer Führung führte der Green Deal zu bahnbrechenden Gesetzen, die die EU auf den Weg zu einer grünen Transformation brachten.

Viele der konkreten Maßnahmen wurden jedoch nach heftigen Protesten der Landwirte wieder verworfen. Im Jahr 2023 stimmte ihre eigene Fraktion, die EVP, zusammen mit rechtsextremen Gesetzgebern gegen einen Gesetzesentwurf, der die geschädigten Ökosysteme der EU wiederherstellen sollte. Der endgültige Text enthielt große Zugeständnisse und die Ziele des Gesetzes wurden verwässert.

Starke Führung in schwierigen Zeiten

Die EU zu führen ist wie ein riesiges Schiff zu steuern, und stürmische Gewässer machen es noch schwieriger. Als die Situation in Israel und Gaza Ende 2023 eskalierte, nahm von der Leyen sofort eine pro-israelische Haltung ein und ignorierte EU-Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Positionen zu Israel und Palästina.

Sie wurde auch häufig für ihr Zögern kritisiert, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen. Die sich häufenden Angriffe auf die Medienfreiheit in Italien werden erneut zeigen, ob von der Leyen vor Gericht ziehen wird.

Eine Klage ist jedoch unwahrscheinlich, da sie von der Leyens Bemühungen schaden könnte, die rechtsextreme italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bei ihrer Kandidatur für eine zweite Amtszeit zu unterstützen.

Von der Leyen und Meloni

Während einer Wahldebatte im Europäischen Parlament am 23. Mai bezeichnete von der Leyen Meloni als "rechtsstaatliche" Akteurin.

Ihr Führungsstil ist nicht frei von Fehlern. Ihre Konkurrenten bemängeln, dass sie nur mit wenigen vertrauten Beratern kommuniziere und nicht ausreichend mit ihrer Kommission vernetzt sei.

In einem Interview mit der Financial Times bezeichnete, Nicolas Schmit, der Spitzenkandidat des Mitte-Links-Bündnisses für die Kommissionspräsidentschaft, von der Leyens Führungsstil als "inakzeptabel". Sie habe ihre Kommissare systematisch von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen.

Insgesamt hat sie aber schnell und entschlossen auf Krisen reagiert, und selbst Kritiker zeigten eine gewisse Bewunderung für ihre Arbeitsmoral und ihr Engagement.

Lob vom Gegner

Der Ko-Vorsitzende der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament (und damit kein politischer Verbündeter), Philippe Lamberts, sagte sogar: "Sie ist wahrscheinlich die Beste seit [Jacques] Delors". Delors war von 1985 bis 1995 Präsident der Europäischen Kommission und spielte eine Schlüsselrolle bei der Schaffung des Binnenmarktes und der Währungsunion der EU.

Auch in der breiten Öffentlichkeit hat er sich einen Namen gemacht. Laut einer aktuellen Studie ist von der Leyen "inzwischen ein Begriff". Rund 75 Prozent der Europäer "können von der Leyens Namen richtig zuordnen und erkennen ihr Gesicht wieder" – ein deutlich höherer Anteil als bei allen ihren Vorgängern.

Die Wiederwahl wird für von der Leyen trotz ihrer Spitzenposition und ihrer insgesamt guten Leistungen kein leichtes Unterfangen. Aber die Leistung ist nur einer von vielen Faktoren, die bei der Besetzung von Spitzenämtern in der EU eine Rolle spielen. Ob von der Leyen genug getan hat, wird an diesem Wochenende zeigen.

Die Politologin Gabriele Abels – Universität Tübingen – ist Expertin für die Europäische Union und Europäische Integration.

Dieser Text erschien zuerst auf Englisch auf der Seite The Conversation.