Subjekt ohne Grenzen
Über die Macht der Individualisierung und ihre Unfähigkeit zur Systemkonformität
In Zeiten, in denen die SED-Nachfolgepartei PDS den "Staatssozialismus" ablehnt, sich zu "freiem Unternehmertum" und "sozialer Marktwirtschaft" bekennt und - zumindest in Berlin - als Regierungspartei eine Politik des Sozialabbaus mitträgt, ist die Frage berechtigt, was in diesem Land überhaupt noch "links" (und nicht sozialdemokratisch) ist. Offenbar sind Vorstellungen eines alternativen gesellschaftlichen Systems derart diskreditiert, dass auch vermeintlich linke Parteien, die Werte wie sozialen Fortschritt und soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatten, in den Sog der neoliberalen Ideologie-Offensive geraten, die als solche Eigenverantwortung und Selbsthilfe des mündigen Bürgers ins Zentrum rückt, um vor allem den Abbau des Sozialstaates zu rechtfertigen.
Mehr Eigeninitiative und Kreativität des Individuums wird allerorten gefordert, emblematisch zusammengefasst in dem reichlich paradoxen Begriff der "Ich-AG". Worin besteht die Macht dieser immer lauter erschallenden Subjekt-Anrufungen, die überraschenderweise auf so viel (unreflektierte) Resonanz stoßen? Und könnte die Befangenheit im marktwirtschaftlichen Denken nicht gerade die eigentliche Individualisierung behindern?
Von der einst kritisierten Atomisierung zur gefeierten Freisetzung des Individuums
Neue moralische Verpflichtungen braucht das Land, wenn man Politikern aller Couleur und Kommentatoren in allen Medien glauben darf. Seit einigen Jahren findet im öffentlichen Diskurs eine entscheidende begriffliche Verschiebung statt, weg vom verderblichen Versorgungsstaat, der letztlich seine Bürger in Unmündigkeit halte und "Schmarotzer" heranzüchte, hin zu einer neuen Betonung der Selbständigkeit und Verantwortlichkeit des einzelnen Individuums, geht es um Jobsuche, berufliche Weiterbildung, Gesundheit oder Alterssicherung. In seiner berühmten "Adlon-Rede" von 1997 formulierte der damalige CDU-Bundespräsident Roman Herzog, dass "ein Zuwachs an Sicherheit durch staatliche Vorsorge" für einige wichtiger sei "als der damit einhergehende Verlust an Freiheit". Sein Menschenbild sei "das des eigenverantwortlichen, selbstständigen, initiativen Menschen", sagt der jetzige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied. Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse, ein aus der ehemaligen DDR stammender Kulturwissenschaftler, buchstabiert soziale Gerechtigkeit als "gleiche Freiheit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung und gesellschaftlicher Verantwortung".
Auf die Formel gebracht, heißt das: weniger Staat, weniger staatlich garantierte Sicherheit gleich aktivere, um ihr Wohl (und ihre Freiheit) bedachte Bürger, die sich "gezwungen" sehen, ihre Chancen auf Teilhabe am System zu nutzen. Dass diese ihnen überhaupt eingeräumt werden können, wird zur Aufgabe der neuen Sozialpolitik erklärt. Mittlerweile scheint sich keine Partei mehr einer solchen Begründungslogik entziehen zu wollen. So schlittert man rhetorisch von der Verteilungs- zur "Chancengerechtigkeit" (nach der Gerechtigkeit von privatem Grund- oder Produktionsmittelbesitz fragt schon längst keiner mehr).
Nun gibt es Beispiele aus der reichhaltigen Phänomenologie des Alltags, die zeigen, dass einige es gerne hätten, wenn besonders die Anderen in die moralische Pflicht genommen würden und der eigene Bereich lohnender Subvention (also eigentlich eine gewohnte "Unmündigkeit") unangetastet bliebe. Zudem hat sich in den Zeiten langjährigen Wohlstands ein fein verästeltes Subventions- und Ausgabennetz gebildet, sodass fraglich scheint, wie man da kürzen will, ohne auf den geharnischten Protest irgendeiner Lobbyisten-Vereinigung zu stoßen. Auch ist die Gefahr eines solchen Freiheitsverlustes durch staatliche Zuwendung, die Herzog uns einreden will, wohl kalkulierbar. Dieselben Bankchefs, die den "radikalen Neuentwurf" des Arbeitsmarktes (sprich: Abbau von Arbeitnehmerrechten) fordern, rufen kurze Zeit später nach staatlicher Absicherung für riskante Bankkredite. Während manche Medien zur gnadenlosen Jagd auf kleine Begünstigte der Sozialtransfers wie "Miami-Rolf" blasen, werden die recht großen "Nischen" einer üppigen Selbstversorgung aus staatlichen Mitteln wie bei der Berliner Bankgesellschaft geflissentlich überspielt. Aber darum soll es nicht gehen.
Was früher als "Atomisierung" und "soziale Entfremdung" eher negativ beschrieben wurde, wird heute offenbar allgemein als "Ich-AG" und positive "Freisetzung" des Individuums begrüßt. Niemand kann bezweifeln, dass Einzelne - gerade im Zuge der realen Durchsetzung neuer Technologien - kreative und andere Freiheiten gewonnen haben, aber diese bleiben in einem Spannungsverhältnis zu den (krisenhaften) Rahmenbedingungen, in denen sie sich verwirklichen. Millionen Menschen des ehemaligen Ostblocks haben diese Ambivalenz des historischen Umbruchs im letzten Jahrzehnt zu spüren bekommen und das Neue des anderen Systems (unter jeweils landesspezifischen Bedingungen) verstehen lernen müssen, was den Menschen im Westen so völlig selbstverständlich in Anschauung und Verhalten ist. Wie sie den neu eingeführten Kapitalismus wahrnehme, brachte eine Ärztin bei den nomadischen Völkern der sibirischen Tundra auf den Punkt (interviewt wurde sie von Klaus Bednarz in einem Reisebericht, ausgestrahlt in der ARD Januar 2003): Diese Entwicklung bedeute, dass die kulturellen Bedingungen für Einzelne besser werden, ihr schöpferisches Potenzial zu entfalten, während die allgemeinen Bedingungen sich verschlechtern.
Doppelter Maßstab bei der Verantwortung
Kreative Fähigkeiten, die eine berufliche Umsetzung finden, sind nur in einem überschaubaren Teil der Bevölkerung anzutreffen; Peter Hartz richtete seine Botschaft der Arbeitsmarktreform an ca. sechs Millionen "Profis der Nation", darunter Wissenschaftler, Journalisten und Künstler. Viele scheinen sich auf ihre "Individualität" so viel einzubilden, dass sie völlig übersehen, wie die Freiheit dieser Individualität durch die Sachzwänge und Bedingungen des real existierenden Kapitalismus eingeschränkt wird. Wenn der Einzelne versagt, hat er gefälligst dafür die Verantwortung zu tragen, versagen Politiker, werden bekanntlich ja immer die Sachzwänge ins Feld geführt. An letzterem ist ja auch etwas dran. Es wird eine ideologische Individualität behauptet und verstärkt als "Verantwortung" eingeklagt, in einem Moment, in dem Einzelne durch technische Entwicklungen an den Rand gesellschaftlicher Verhältnisse gedrängt und ihre Fähigkeiten auf technische Systeme übertragen werden - wenn sie nicht die Fähigkeiten besitzen, an solchen Modernisierungsprozessen teilzuhaben.
Wenn Politiker heute ernsthaft behaupten, Vollbeschäftigung in der klassischen Form der Massenlohnarbeit des Industriezeitalters sei auch in Zukunft möglich, scheinen sie die Bedeutung der zunehmenden Automation, der Ersetzung menschlicher Leistungen durch Technik völlig zu unterschätzen, was in einer abstrusen Arbeitsmarktpolitik mündet und absehbaren sozialen Sprengstoff birgt. Die Daumenschrauben an Millionen Arbeitslosen werden in einer Situation fester gezogen und das soziale Netz ausgedünnt, in der gerade ein funktionierendes soziales Netz nötiger wäre denn je, um den Betroffenen neue Bildungsperspektiven zu eröffnen und die Kosten für die Weiterqualifikation nicht auf die Einzelnen abzuwälzen. Auf der einen Seite wird viel geredet über die angeblich vor der Tür stehende "Wissensgesellschaft" (in der es eben nicht im tradierten Sinne Arbeitsbeziehungen geben kann), auf der anderen wird kaum etwas getan, um einen gesamtgesellschaftlichen Übergang zu organisieren. Eine andere Komplikation kommt hinzu. Die kapitalistische Freiheit bleibt letzten Endes die eines "Markt"-Subjekts - besonders in Zeiten, in denen die Globalisierung als unausweichliche "Naturgewalt" ausgerufen wird und immer mehr Angestellte und Arbeiter sich direkten weltweiten Konkurrenzverhältnissen ausgesetzt sehen.
Selbstverantwortung als zentrale Kategorie der bürgerlichen Ideologie
Die bürgerliche Moral ist etwas historisch enorm Produktives und zugleich in seiner Dynamik Hochgefährliches. (...) diese Moralisierung schillert zwischen zum Handeln befähigenden Disziplinen, auf Dauer gestelltem Verwertungsverhalten, marktkonformen Verkehrsverhältnissen und Unterwerfung unter die staatlich reproduzierte Ordnung. (...) Das Subjekt der moralischen Ideologie, wie wir ihr begegnen, ist der Privatmann, der atomisierte und das heißt: desolidarisierte Einzelne männlichen Geschlechts als potenzieller Privatbesitzer und Vertragsfähiger; als moralisches Subjekt muss er die Zwänge in Freiheit übernehmen, muss er die Verhältnisse bewusstlos verantworten. Es ist diese imaginäre Verantwortlichkeit des Individuums für alles, was ihm widerfährt, also auch für Krankheit und Niederlagen, die den Subjekteffekt dieser moralischen Ideologie auszeichnet: Moral statt Solidarwesen.
Wolfgang Fritz Haug
Individualität und Eigenverantwortung als Chance heißt also die Parole, die auf die Leute als Medienbotschaft einprasselt, dabei aufgefordert, "Unternehmer ihrer selbst" oder ihre eigenen "Karrieremanager" zu werden, aufgefordert, ständig in das eigene Fortkommen zu "investieren", um so den Herausforderungen der Ökonomie zu begegnen. Seine Dinge regeln zu können und für die Gestaltung des eigenen Lebens, wie es einem gefällt, zuständig zu sein, klingt ja auch erst einmal sehr attraktiv. Verbreitet ist die Meinung, allein der Kapitalismus böte die Freiheit für den Einzelnen, sich einzusetzen, etwas zu tun (und dafür auch materiell belohnt zu werden), wohingegen der real existiert habende Sozialismus in Lethargie und ökonomischer Erfolglosigkeit versunken sei. Lassen wir die (historischen) Probleme der realsozialistischen Ökonomien mal beiseite - uns interessiert an dieser Stelle, die kapitalistische Gesellschaft an ihren eigenen Ansprüchen zu messen.
Die historische Tendenz zur Vereinzelung, zur Individualisierung ist nicht zu bestreiten. Das bürgerliche Subjekt hat sich als Vergesellschaftungsform, verkürzt dargestellt, während Jahrhunderten in vielfältigen sozialen Kämpfen durchgesetzt gegen die Vorherrschaft von Adel und Kirche, gegen die feudalistische Zwangsherrschaft und die religiöse Ideologie, und in der Gesellschaft ungeheure Kräfte der Produktion und Verteilung freigesetzt, angefangen von der Entstehung der oberitalienischen Stadtstaaten im vierzehnten Jahrhundert bis zur heutigen Globalisierung, die alle Dinge und Beziehungen bis in den hintersten Winkel der Welt hinein der Warenform, der Form des Kapitalverhältnisses zu unterwerfen droht, wenn es denn Profit verspricht. Die bürgerlichen Individuen nehmen verschiedene Subjekt-Positionen ein, die sie in ihren alltäglichen Handlungen bestimmen und ideologisch "ansprechbar" machen, pendelnd zwischen der bürgerlichen "Individualisierung" (vornehmlich verstanden als ständige Ausdifferenzierung von ökonomischen Privatinteressen) und der sozialen Einbeziehung des Individuums als Familienmitglied, als Anhänger einer Religion, als gleicher "Staatsbürger", der politische Rechte in Anspruch nimmt und mit Millionen anderer das Gemeinwesen darstellt.
Ein Vorteil des Subjekt-Denkens ist die Abstraktion von konkreten individuellen Eigenschaften und geografischer Herkunft: man kann sich abstrakt in ein Verhältnis setzen und dieses wieder beenden ohne weitere Verpflichtung und Einbeziehung - man macht sein Geschäft und das war's. Die Vertragsfähigkeit und -freiheit des Subjekts ist entscheidend für die Abläufe im Kapitalismus. Das Konsum-Subjekt kennt dieses Gefühl ebenso in verminderten Form beim Abschluss eines Kaufaktes, auch wenn es sonst abhängig beschäftigt ist.
Auf Karl Marx geht die Bezeichnung der "Charaktermaske" zurück, die Menschen annehmen müssen, wenn sie bestimmte Positionen im Marktgeschehen ausfüllen. Die Möglichkeiten, die sich aus den geschäftlichen u.a. Erfolgen ergeben, reichen für viele offenbar aus, um "positive" Unterschiede zur Identitätsfindung festzumachen: Status, Besitz, Einfluss. Dass dieses Subjekt nun aber tun könnte, was es wollte, dass es sich völlig frei verwirklichen würde, muss ins Reich der Illusionen verwiesen werden. Die Leute starten mit unterschiedlichen Voraussetzungen, von verschiedenen sozialen Positionen aus in den Konkurrenzkampf. Sicher, die Rahmenbedingungen (Gesetzesfreiheit, Verkehrsfreiheit) bieten elementare Bewegungsmöglichkeiten im System, aber die Grenzen der Bewegung sind durch die Eigendynamik des Gesamtsystems und die individuelle Verfügungsgewalt über die Ressourcen (hier verstanden als Gesamt der Subsistenzmittel und Produktivkräfte) gesetzt.
Diese Eigendynamik hat mittlerweile durch die Globalisierung eine neue Brisanz bekommen, ohne dass man dagegen etwas tun könne, wie die Politik versichert. Dasselbe Bürgertum, das so viel Wert legt auf die symbolische Ordnung der Konventionen und die Vorstellung der "sozialen Sicherheit", überlässt die Umstände der Ökonomie einer unkontrollierten globalen Entwicklung.
Die (ideologische) Macht der Individualiserung besteht auch darin, dass jeder sehen und verstehen kann, was einer plant und tut. In einem Fernsehbericht wurde von einer Gruppe von Erfindern in Kanada berichtet, die sich die Unterlagen der nazi-deutschen V2-Rakete besorgt hat und daran arbeitet, sich mit einem in Eigenregie bewerkstelligten Neubau selbst ins All zu schießen. Unabhängig davon, wie realistisch man einen solchen Plan einschätzt, die Motivation dieser Gruppe ist ansteckend und sofort nachvollziehbar. Was ist denn Freiheit, wenn nicht die "Selbstbestimmung durch den Entwurf seiner selbst", durch die "Wahl" der eigenen Existenz (nach Jean-Paul Sartre)?
Hier liegt eine ganz praktische Wahrheit der bürgerlichen Forderung nach Eigenverantwortung und -initiative. Es gibt keine Freiheit, wenn sie nicht genutzt, wenn ihre Potenziale - individuell und sozial - nicht aktiviert werden. Das Problem sind die Rahmenbedingungen, so das "Chaos" des Marktes, über den die Arbeitskraft von Millionen Individuen ohne eigene Wahl vermittelt wird und in dem eine Vielzahl von solchen Aktivitäten sinnlos vergeudet und im Konkurrenzkampf verdrängt werden. Die Ineffizienz, die Ungerechtigkeit, die "Un-Logik" des Gesamtsystems wird aber nicht hinterfragt, sondern die Betroffenen suchen im System (in seiner Logik, in seinen Bedingungen) nach immer neuen Nischen und Aktivitätsfeldern, nach individuell-alltäglichen "Lösungen" und überlegen, "was sie als Person falsch gemacht haben, dass es ihnen nicht gelingt, ihren Vorteil daraus zu ziehen" (Richard Sennett).
Schein-Individualität im Konsumrausch
Der Zwang zum Konsum ist ein Zwang zum Gehorsam gegenüber einem unausgesprochenen Befehl. Jeder steht unter dem entwürdigenden Zwang, so zu sein, wie die anderen: im Konsumieren, im Glücklichsein, im Freisein. Denn das ist der Befehl, den er unbewusst empfangen hat und dem er gehorchen 'muss', will er sich nicht als Außenseiter fühlen. Nie zuvor war das Anderssein ein so schweres Vergehen wie in unserer Zeit der Toleranz.
Pier Paolo Pasolini
Momentan leben wir in einer historischen Phase, in der viele tradierte Institutionen der Sinnstiftung abbröckeln (Nationalstaat, Kirche, Familie, Parteien, Gewerkschaften), zugleich aber die Verantwortung des Subjekts immer weiter zementiert wird (eine Ausnahme ist die zunehmende Relevanz der Konzerne, ihrer "corporate identity"). Bestimmte moralische Werte wie religiöse Gläubigkeit, Treue, Gehorsam, Anpassung verlieren bis zu einem bestimmten Grad an Bedeutung, was ein Klima kultureller Freizügigkeit erzeugt (als "Ausgleich" zur Verschärfung der ökonomischen Spannungen), dafür werden andere "moralische" Werte wie Selbstdisziplin, Individualität, Unterscheidbarkeit, Flexibilität, Mobilität umso stärker gefordert.
Wenn man sich die Stellenanzeigen anschaut, wird klar, dass echte Individualisten oder Eigenbrötler gar nicht gesucht werden. Man hat ein flexibler, mobiler, kommunikationsfähiger Teamworker in der Arbeit zu sein und kann als "Konsum-Individualist" in der Freizeit seinen individuellen Neigungen folgen. Der Konsum-Individualismus stellt natürlich nur eine Schein-Individualität dar, da sie sich nur auf wenige Auswahl-Parameter bezieht. Mein Haus, mein Sportwagen, meine Yacht.
Das Subjekt ist in der Arbeit außer sich, im Konsum bei sich, um Marx zu paraphrasieren. Die ideologische Meisterleistung des Kapitalismus besteht darin, dass den Leuten die Unterordnung in gesellschaftliche Beziehungen als individuelle Freiheit "verkauft" wird: man ist so frei, seine Haut oder sein Bewusstsein zu Markte zu tragen und dafür Waren kaufen und verbrauchen zu dürfen. Die Schein-Individualität bedeutet, dass buchstäblich Millionen von Menschen die gleichen Waren konsumieren mit der Vorstellung, dabei etwas Individuelles, sie Auszeichnendes zu tun: "die Masse", das sind immer die anderen. Die Vorstellung der Individualisierung ist so "aufgeladen", so vielfältig, dass sich in ihr gegenläufige Ansichten bündeln können: sowohl die Werbung erzählt uns, dass jeder eigene Ideen habe, eigene Visionen, als auch die Medienkritik, die fordert, gegenüber den Werbebotschaften eine eigene Meinung zu entwickeln.
Jeder soll also für seine eigene Sinnstiftung sorgen (die ideologische Arbeit übergeordneter Institutionen gewissermaßen auch noch selbst übernehmen) und sich was zusammenbasteln aus diesen Traditionen und Werten. Die "Selbst-PR" wird verlangt, stand in einem Psychologie-Heft zu lesen, das Wissen, wie man sich selbst gut verkauft - nur ein Bruchteil der Karriere hätte etwas mit der Arbeit zu tun, alles andere beziehe sich auf die Selbstdarstellung (ein solcher Beitrag erscheint im selben Heft wie ein kritischer Text zur Narzissmus-Krise). Das "Selbst-Management" erfordere größere Aufmerksamkeit, um die zunehmende Unsicherheit, die in den ökonomischen Umbrüchen entsteht, bewältigen zu können. Arbeitsbiographien mit Jobwechsel, inhaltlicher Neuausrichtung und höherem Risiko sind identitätsmäßig erstmal zu verarbeiten. Eine Konstante bietet der Konsum.
Vielleicht wird in diesem Gemenge aus umgemodelter Selbstfindung und halbgarer Individualisierung ja die Grundlage für eine neue gesellschaftliche Entwicklung gelegt. Die Produktion von gesellschaftlichem Reichtum könnte nicht nur als eine von Gütern und Dienstleistungen anerkannt sein, sondern in der "Produktion" von allgemeinem immateriellen Reichtum liegen, in der Erzeugung von Wissen und Persönlichkeit.
Der Diskurs der Kreativität
Praktische Naturen (...) wissen immer, wohin sie gehen, und dahin gehen sie auch. (...) Wer danach trachtet, etwas zu werden, was nichts mit seiner Persönlichkeit zu tun hat, Parlamentsmitglied oder erfolgreicher Gemischtwarenhändler oder ein bekannter Rechtsanwalt oder Richter oder sonst etwas Langweiliges, wird unweigerlich dieses Ziel erreichen. Das ist seine Strafe. Wer eine Maske haben will, muss sie auch tragen. (...) Wer einzig nach Selbstverwirklichung strebt, weiß nie, wohin er geht. Er kann es nicht wissen.
Oscar Wilde
Kein Volkshochschulangebot kommt heute mehr ohne Kreativitäts-Kurse aus. Tipps, wie man seine Kreativität steigert, findet man in jeder Frauenzeitschrift: da wird empfohlen, aus Routinen auszubrechen, sich selbst mit Aktivitäten zu erstaunen und möglichst viele Aspekte des Lebens kennen zu lernen. Nichts klingt selbst so sehr nach geistiger Routine wie Hinweise zur Steigerung dieses so heiß begehrten "Gutes". Ferner wird empfohlen, man solle "seltene Fragen stellen" und eine "mutige Weltanschauung" haben - das hört sich schon interessanter an. Beherzigen wir diesen Ratschlag und nähern uns dem Problem der Kreativität mal von einer anderen Seite.
Der Schriftsteller Klaus Theweleit sagte bei einer Veranstaltung zum Thema Bioethik/Biopolitik an der FU Berlin im Januar diesen Jahres, dass die Frage, wie Menschen persönlich "wachsen", gar nicht öffentlich diskutiert werde. Die Pubertät sei als Identitätskrise anerkannt, die midlife crisis sei gerade noch "erlaubt" (bei Männern), doch wie entwickelt sich der Mensch im Laufe der Jahre, wovon hängt es ab? Theweleits Überlegungen liefen darauf hinaus, dass im Alltag dieser Gesellschaft das ständige Wahrnehmen, Denken solcher Prozesse zu neuen Konfliktarten führen könnte und ihre gemeinsame Reflexion wohl einer späteren zivilisierteren Gesellschaftsstufe vorbehalten sei. Erwünscht sei hier und heute ein "überschaubarer und kontrollierbarer Sozialtyp", der möglichst vierzig Jahre zur Arbeit gehe. Und die Gretchenfrage lautet: soll dieser Typus überhaupt kreativ werden? Und darüber hinaus: Wie könnte man aber in einer Gesellschaft millionenfach ein solches persönliches Wachstum erzielen? Das wäre eine Bildungsdiskussion der etwas anderen Art, die nicht immer nur auf temporär verwertbares Wissen in der Ökonomie schielt.
Nochmal: Nach den verbreiteten Ratgebern wird den Leuten geraten, Routinen zu verlassen und alte Strukturen aufzubrechen, um kreativer zu werden. Die Leute tun mitunter viel, um sich zu verändern und in ihren Arbeitsweisen effizienter zu werden - da stellt sich natürlich irgendwann die Frage, warum sie nicht daran denken sollten, die gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie leben, zu verändern. Wenn im Zuge moderner Management-Techniken an die Steigerung der Mitarbeiter-Effizienz gedacht wird - mehr Verantwortung, mehr Kreativität -, kann für die Konzerne schnell das Problem entstehen, dass gerade die leistungsfähigeren Mitarbeiter sich weniger an die Konzernstrukturen anpassen wollen und beginnen, die Bedingungen in Frage zu stellen. Die Leute sollen kreativ sein, aber nicht über die System-Logik hinausdenken, sie sollen eigenverantwortlich sein, aber nicht das Eingebundensein in Strukturen reflektieren, die sie nicht verantworten können oder dürfen.
Es gibt eine Gruppe von Menschen, die Kreativität nicht nur als Hilfsmittel beim modischen Zeitvertreib oder bei der berufsbedingten Weiterbildung verstehen, sondern diese eine "natürliche" Begleiterscheinung auf ihrem Weg der existenziellen Auseinandersetzung ist. Künstler mussten schon als "Rollenmodell" für die mobilen, flexiblen Berufstätigen der Zukunft herhalten, weil sie offensichtlich Individualisierung, die Notwendigkeit der Selbstorganisation, "Innovationsdruck" und ein Leben ohne soziale Sicherheiten schon verinnerlicht hätten.
Aber so einfach ist die Sache nicht. Die Auseinandersetzung mit der Außenwelt, die jeder Künstler in seiner eigenen persönlichen Sichtweise vorstellt, ist nicht unbedingt massenkompatibel, wenn sie in einer sozialen Zurückgezogenheit entstanden, wenn sie in ihrer "Sprache" nicht einfach zu verstehen ist, zumal sie ein Bewusstsein für die Relativität von Weltanschauungen, die letztliche Ungewissheit der Existenz einschließen kann. Das Risiko, das Künstler eingehen, ist nicht nur ein materielles - Drogenprobleme und Exzesse anderer Art weisen darauf hin, dass in dieser Überschreitung des Alltagsverstandes auch eine "Selbstgefährdung" liegt, indem die Konfrontation mit Wahrheiten gesucht wird, die oftmals außerhalb des Sinn-Horizontes des kulturellen Mainstreams bleiben. Die Kultur wird schließlich in ihren Konventionen als unangemessen empfunden, was die Künstler suchen lassen kann "nach einer Verletzung der Spielregeln, nach einer Erweiterung, wenn nicht gar nach einer Außerkraftsetzung derselben" (Peter Weibel).
Diese Art von "Radikal-Individualismus", die einhergeht mit der besten Produktion von Kunst, zeugt tendenziell von geistiger Unabhängigkeit und einer "Nicht-Greifbarkeit" nach den Begriffen und Vorstellungen des Systems (und ist somit auch als Vorschein einer allgemeinen Utopie individueller Selbstbestimmung zu verstehen). Wahrscheinlich liegt hier die ungeheure Faszination der künstlerischen Existenzweise begründet, wenn man bedenkt, dass viele Jugendliche Künstler als ihren "Berufswunsch" angeben. Der Künstler ist kein einfacher "Mitspieler" im System, und seine Existenz selbst regt zu der Frage an, wie eine Gesellschaft beschaffen sein muss, in der eine breit gestreute öffentliche Auseinandersetzung über menschliche Lebensbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten geführt wird und in der tatsächlich alle Menschen "Künstler" sein können. Doch wie kann der Individualismus wirklicher Kreativität in eine neue Gesellschaft integriert werden?
Ausgleich individueller und sozialer Potenziale
Kommunismus ist die totale Vereinzelung und die Anerkennung der Vereinzelung. Gemeinsamkeit ist immer eine Phrase, mit der die Invasion des Einzelnen legitimiert wird. Was man lernen muss, was Emanzipation überhaupt ausmacht, ist, Einsamkeit zu ertragen.
Heiner Müller
Dass mehr Potenzial in den Einzelnen steckt als das, was in den normalen Beziehungen zum Tragen kommt, zeigt sich besonders dann, wenn es zu einer (lokalen) Katastrophe kommt und die Menschen zum schnellen Handeln gezwungen sind. Berichte aus den Medien zu den Katastropheneinsätzen bei der Elbe-Überflutung lesen sich oft so, als hätten die Menschen während des Katastropheneinsatzes eine neue, zeitlich begrenzte "Kollektivität" (wieder)entdeckt. Der "fantastische Zusammenhalt" wird beschworen, die Solidarität der gegenseitigen Hilfe. "Lose" soziale Netzwerke seien in den betroffenen Gebieten entstanden, die sich bewährt hätten bei der Bewältigung dieser Situation, aber auch abbrechen würden, wenn die Normalität mit Job-Verpflichtung und staatlicher Kontrolle sich wieder durchsetze.
Ist nun eine ganze gesellschaftliche Struktur denkbar, in der die Leute mit Einsatz und Zielstrebigkeit an einem gemeinschaftlichen Projekt arbeiten, ohne dass Druck, Zwang, ideologische Anrufungen zur Anwendung kommen? Vielleicht dann, wenn die Ressourcen allgemein frei verfügbar sind.
Eine ideale Gesellschaft der Zukunft wird eine Gesellschaft sein, in der die Entwicklung individueller und die strukturell-sozialer Potenziale möglichst reibungslos zusammengehen und sich optimal ergänzen. Wenn die bürgerliche Gesellschaft die Vorstufe dieser Entwicklung ist, wird die neue Gesellschaft bei den unbestreitbaren Leistungen des Individualismus ansetzen müssen. Man wird die Voraussetzungen schaffen für die Ausentwicklung der unterschiedlichen individuellen Potenziale, ohne dass Herrschaft und Ungleichheit (als Benachteiligung bei der Ressourcen-Verfügung) entstehen, und zugleich für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte, ohne dass diese nach Marktgängigkeit und Privatinteressen bewertet werden, sondern allein nach sozialen Fortschrittskriterien und Gemeinnutzen (Terraforming mit Trotzki).
Die ungeheure Macht des Individualismus, die einmal in der sozial-historischen Entwicklung der Abstraktion beim Vertragsabschluss und beim Kaufakt besteht, aber auch in der Eigenwilligkeit und Kompromisslosigkeit von kreativen Lösungen, müsste in eine soziale Struktur übersetzt werden, die diesen nicht einschränkt, sondern weiterführt, die ihn in seiner Eigenart bestehen lässt. Jeder sollte strukturell die Möglichkeiten haben, seine Persönlichkeitsentwicklung, seine Individualisierung zu fördern und zu fordern, und beliebig die dazu notwendigen Mittel zu verbrauchen. Möglicherweise kann der ambivalente, bis zur Überlastung fordernde Antrieb, der in der Konkurrenz um Markterfolg entsteht, durch ein Wettbewerbssystem ersetzt werden. Bedingung einer solchen Gesellschaft wird auch eine weitestgehende Automatisierung der Grundversorgung sein.
An dieser Stelle sei erinnert an ein berühmtes Zitat von Karl Marx aus seiner 1875 geschriebenen "Kritik des Gothaer Programms" der sich in Gründung befindlichen Sozialdemokratie.
In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!
Der Kommunismus könnte eine Gesellschaftsform sein, in der die Individualisierung zu ihrer eigentlichen Realisierung gelangen kann, da keine strukturellen Bedingungen, keine Sorgen ums tägliche Überleben im Marktgeschehen u.a. sie mehr einschränken und beeinflussen können. Im Zentrum der neuen Gesellschaft stände die Reifung, die Entwicklung der Persönlichkeit, was den Einzelnen nicht seiner Verantwortung enthebt, an seiner Vervollkommnung zu arbeiten, ihm aber auch keine Grenzen setzt, die in der fehlenden Verfügung über kulturelle Ressourcen liegen. Das Subjekt würde sich nicht länger über Besitz, den Zugang zu Ressourcen, über Macht und Konkurrenzdenken definieren, sondern über die selbstbezogene, selbstorganisierte Handlungsfähigkeit und zugleich über in gemeinsamen Bezug konzipierte Auseinandersetzungen, die das gesamte Menschheitsprojekt (u. damit das einzelne Selbst) voranbringen.
Kommunismus wäre also nicht die Gesellschaft der Gleichmacherei, der Anpassung, der ideologischen "Kollektivierung", wie ein großes Vorurteil über diese Utopie lautet, sondern gerade die gemeinschaftliche Organisation eines Rahmens, in dem die einzelnen Individuen sich frei entwickeln und verbinden können, eine von Automaten mitorganisierte weltweite (Meta-)Struktur, in der die Individualisierung erst zu ihrer Entfaltung kommen würde im Sinne des Bewusstseins einer vereinzelten Potenzialität, die um die gleichen Voraussetzungen aller weiß (gleiche Verfügung über die automatisch erzeugten und verwalteten Ressourcen) und sich in viele Richtungen entwickeln kann. Es wäre eine potenzierte Individualisierung sein, die die Existenzweise des Individuums auf neue Höhen führt, dabei tendenziell den Tod besiegt und den irdischen Bezugsraum verlässt.