Süchtig nach regelmäßigen Liquiditätsspritzen
Die Notenbanken sind längst zu Geiseln ihrer expansiven Geldpolitik geworden
Es war ein typisch europäischer Kompromiss, mit dem die Europäische Zentralbank (EZB) auf die jüngsten Krisenschübe in der Eurozone reagierte: Anfang Juli erklärte EZB-Präsident Mario Darghi, dass die Leitzinsen in der Eurozone dauerhaft auf ihrem sehr niedrigen Niveau von 0,5 Prozent bleiben werden. "Der Rat erwartet, dass die wichtigen EZB-Zinssätze für eine längere Zeit auf dem gegenwärtigen Niveau oder darunter liegen werden", erklärte Darghi wörtlich.
Der europäische Notenbankchef wollte eigentlich den Leitzins noch weiter auf 0,25 Prozent absenken, doch konnte er sich im EZB-Rat nicht gegen den deutschen Widerstand dagegen durchsetzen, der vom Bundesbankpräsidenten Jens Weidman und dem EZB-Direktoriumsmitglied Jörg Asmussen ausging - in Deutschland sind schließlich bald Wahlen, und Leitzinssenkungen gelten hierzulande als höchst unpopulär.
Die Ankündigung eines dauerhaft niedrigen Zinssatzes, der aber immer noch über den Zinssätzen in den USA liegt, sollte zur Beruhigung der Renten- und Finanzmärkte in der Eurozone beitragen. Eine Regierungskrise in Portugal, abermalige Forderungen nach einem weiteren Schuldenschnitt in Griechenland, europaweit fallende Aktienkurse sowie ein allgemein ansteigendes Zinsniveau in der südlichen Peripherie der Eurozone ließen ein Wiederaufflammen der Schuldenkrise wahrscheinlich erscheinen. Die EZB hat die Gefahr dieses neuen europäischen Flächenbrands mit der Ankündigung einer zeitlich unbefristeten Fortführung ihrer Niedrigzinspolitik, tatsächlich - zumindest kurzfristig - gebannt. Die Zinsen in Südeuropa gingen leicht zurück, die Aktienmärkte erholten sich etwas. Die Anleger wüssten, dass "im Notfall die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrem Anleihen-Ankaufprogramm bereitsteht, um eine Eskalation zu verhindern", erklärte ein Analyst gegenüber dem Nachrichtensender n-tv. Im Klartext bedeutet dies, die Marktteilnehmer verließen sich darauf, dass EZB-Chef Darghi bei einer Zuspitzung der Krise sein berühmtes Versprechen wahr machen würde, "alles zu tun, um den Euro zu erhalten". Damit ist vor allem das Drucken von Geld, die Erhöhung der Geldmenge vermittels des Ankaufs von Anleihen (Schulden) gemeint, mit der eine kurzfristige Stabilisierung des Systems erreicht werden kann. Die dadurch ausgelöste zusätzliche Liquiditätsschwemme wirkt wie ein ökonomisches Aufputschmittel, das die Zinsen absenken, die Börsenkurse stiegen und die Kreditvergabe anregen lässt.
Geldpolitischer Doppelschlag
Dabei wurde der jüngste europäische Krisenschub primär durch die Ankündigung der amerikanischen und chinesischen Notenbanken ausgelöst, mittelfristig aus eben solchen Aufkaufprogrammen von Anleihen auszusteigen, die Washington und Peking seit geraumer Zeit zwecks Konjunkturstützung betrieben. Am 19. Juni kündigte Fed-Chef Ben Bernanke an, schrittweise aus den allmonatlichen Anleiheverkäufen im Volumen von 85 Milliarden US-Dollar auszusteigen, die die US-Notenbank unter der Bezeichnung Quantitative Easing 3 - (Quantitative Lockerung - QE) durchführt. Die Anleiheaufkäufe sollten "später im Jahr" verringert werden, da die Konjunktur in den Verneigten Staaten sich allmählich erhole, erklärte Bernanke. Nur einen Tag später signalisierte auch die chinesische Notenbank, künftig keine weitere Liquidität in den überhitzten chinesischen Finanzmarkt pumpen zu wollen. Die Finanzinstitute sollen künftig ihre Liquidität besser handhaben, die Ausgaben besser planen und ausreichende Geldmittel bereithalten, hieß es in der offiziellen Stellungnahme der Notenbank.
Nach diesem geldpolitischen Doppelschlag brach auf den globalen Finanzmärkten die Hölle los: Während weltweit die Aktenkurse einbrachen und die Zinslast der südeuropäischen Krisenstaaten anzusteigen begann, ging Chinas Finanzsektor kurzfristig in Schockstarre über: Die Zinsen auf dem sogenannten Interbankenmarkt schossen in den zweistelligen Bereich, weil die Banken sich keine kurzfristigen Kredite mehr untereinender gewähren wollten. In den USA verstärkten sich die bereits zuvor gegebenen Kapitalabflüsse aus den Anleihemärkten zu einer "Stampede", zu einer wilden, unkontrollierten Fluchtbewegung, in deren Gefolge die Zinsen für US-Staatsanleihen rasch anstiegen.
Besonders schlimm hat es die Schwellenländer erwischt: Bernankes Ankündigung einer eventuellen Verringerung der bisherigen allmonatlichen Gelddruckerei - der Leitzins sollte hingegen weiterhin beim historisch niedrigen Wert von 0,25 Prozent bleiben - reichte aus, um die Börsen in vielen Schwellenländern einbrechen zu lassen, das Zinsniveau massiv anzuheben und eine rasche Abwertung der dortigen Währungen zu befördern. Ausgelöst wurden diese Erschütterungen in der Semiperipherie des kapitalistischen Weltsystems durch Kapitalabflüsse, die sich nach der Ankündigung Bernankes verstärkten.
Bezeichnend für den Zustand des spätkapitalistischen Weltsystems sind aber die Methoden, mit denen die Notenbanken diese Verwerfungen auf den Weltfinanzmärkten wieder unter Kontrolle brachten. Letztendlich vollführten die Währungshüter angesichts der dargelegten Eskalation binnen kürzester Zeit eine geldpolitische Wende. Sowohl die chinesischen wie die amerikanischen Notenbanker erklärten, sie würden weiterhin den Märkten zusätzliche Liquidität im ausreichenden Ausmaß zur Verfügung stellen, um das Wirtschaftswachstum zu stützen. Der Rückzug der Fed und der chinesischen Zentralbank am 25. Juni führte umgehend zu einer Beruhigung der Lage auf den Finanzmärkten die zuvor außer Kontrolle zu geraten schien. Am 27. Juni erklärte William C. Dudley, seines Zeichens Präsident der New Yorker Federal Reserve, während einer Pressekonferenz ausdrücklich, dass die Fed künftig sogar die Anleiheaufkäufe ausweiten könnte, falls die wirtschaftliche Entwicklung den Prognosen der Notenbanker hinterherhinken sollte.
Nullzinspolitik funktioniert nicht mehr
Die Notenbanken starteten somit einen ersten Vorstoß, um ihre permanente Gelddruckerei zu beenden, wurden aber durch die heftigen Marktturbulenzen überrascht und ruderten erst einmal wieder zurück. Der Kapitalismus scheint somit auf seine alten Tage somit einem Kreditjunkie zu gleichen, der nur noch dank permanenter "Liquiditätsspritzen" der Notenbanken seine Funktionsfähigkeit aufrechterhalten kann. Die Fed etwa führt bereits das dritte Quantitative Easing (QE3) seit Krisenausbruch in 2008 durch, das im Gegensatz zu den beiden Vorgängerprogrammen gerade nicht zeitlich begrenzt wurde - die Gelddruckerei soll bis zu einer substanziellen Verbesserung auf den US-Arbeitsmarkt fortgeführt werden. Das System sei inzwischen regelrecht "süchtig" nach diesen regelmäßigen Liquiditätsspritzen, erläuterte die britische Zeitschrift Telegraph am 20. Juni:
Im Gefolge der Kreditklemme entdeckte der Westen das Quantitative Easing - die Gelddruckerei vermittels des Wertpapieraufkaufs von Banken und anderen privaten Institutionen - als einen Weg, um die Wirtschaftserholung anzukurbeln. Bald wurden wir davon abhängig. Die Fed hat nun angekündigt, dass sie diese schlechte Angewohnheit überwinden will. … Doch die Panik auf den Aktienmärkten, die durch die amerikanische Andeutung eines eventuellen Rückzugs aus dem QE ausgelöst wurde,… hat eindeutig gezeigt, dass die Wirtschaftserholung nicht nur fragil, sondern im höchsten Ausmaß abhängig von Regierungsinterventionen ist.
Wie kam diese Abhängigkeit des kapitalistischen Systems von "Regierungsinterventionen", von immer neuen "Quantitativen Lockerungen" überhaupt zustande? Ganz einfach: Die Nullzinspolitik, die von den meisten Notenbanken seit Krisenausbruch verfolgt wird, hat nicht mehr funktioniert, so dass die "Dosis" erhöht werden musste. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung formuliert das folgendermaßen:
Weil die Zinsen schon nahe bei Null stehen, aber die Wirtschaft immer noch nicht richtig in Gang gekommen war, begann die amerikanische Notenbank im Zuge der Finanzkrise zunehmend Staatsanleihen aufzukaufen. Damit erleichterte sie dem Staat die Verschuldung, aber verfolgte vor allem ein anderes Ziel: die Zinsen für Staatsanleihen und darüber die Kreditzinsen zu drücken, weil sie ihre eigenen Leitzinsen nicht weiter senken kann.
Illusion wirtschaftlicher Erholung
Im Endeffekt geht es bei dieser expansiven Geldpolitik somit darum, die Kreditvergabe zu reanimieren und somit die Wirtschaft insgesamt wiederzubeleben. Und tatsächlich hat vor allen die US-Notenbank seit Kriegsausbruch eine historisch absolut einmalige Gelddruckerei betrieben. Deren gigantische Dimensionen sind an der Bilanz der Fed abzulesen, die vor dem Beginn der Finanzkrise in 2007 bei rund 800 Milliarden US-Dollar lag - und die inzwischen 3,4 Billionen US-Dollar beträgt. Das sind 3.400 Milliarden. Zudem kontrastierte in den letzten Monaten die expansive US-Geldpolitik mit einer Reduzierung der Bilanzsumme der EZB, die somit in letzter Zeit gerade keine derartigen Gelddruckprogramme initiierte. Diese geldpolitische Zurückhaltung trägt - neben dem deutschen Spardiktat in Europa - auch zu der hartnäckigen Rezession in der Eurozone bei. "Ohne die FED wäre wohl bereits die Weltwirtschaft in der deflationären Spirale versunken", konstatierte der Wirtschaftsblog Querschüsse.
Die kapitalistische Geldpolitik, die sich schon seit sechs Jahren in einem zur Normalität geronnenen "Ausnahmezustand" permanenter Gelddruckerei und Nullzinsen befindet, ist somit in einem regelrechten Teufelskreis gefangen. Die Liquiditätsschwemme schafft es tatsächlich, ein kreditgetriebenes Wachstum zu generieren: Insbesondere in den Schwellenländern, in die seit 2008 rund vier Billionen US-Dollar an spekulativen, renditehungrigen Kapital flossen, das sich dort höhere Renditen als in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems erhofft. Doch werden diese kurzfristigen kreditfinanzierten Aufschwünge mit zunehmender mittelfristiger Instabilität, mit der Ausformung immer neuer Kredit- und Spekulationsblasen erkauft. Sogar der amerikanische Immobilienmarkt erlebt nun eine kleine Erholungsphase, bei der die Immobilienpreise zweistellige Zuwachsraten verzeichneten.
Die beständigen Injektionen immer neuer "Liquidität" haben erst die Illusion einer wirtschaftlichen Erholung entstehen lassen, die Ben Bernanke zum Anlass nahm, ein Ende der Gelddruckerei anzudeuten. Doch lassen die schweren Verwerfungen an den Finanzmärkten nach dem 19. Juni ganz klar erkennen, dass es sich hierbei tatsächlich eine - durch Gelddruckerei generierte - Fata Morgana handelt. Sobald sich ein Ende der Quantitativen Lockerungen abzeichnet, droht ein Zusammenbruch des Kartenhauses auf den Finanzmärkten, was wiederum zum konjunkturellen Absturz in die Rezession führen würde.
Hiermit blamiert sich auch die dieser Politik ursprünglich zugrunde liegende Idee, wonach der kapitalistische Konjunkturmotor nur einer Art geldpolitischer Initialzündung durch Quantitative Easing bedürfe, um wieder auf Touren zu kommen. Offensichtlich kann seit dem Zusammenbruch der gigantischen Immobilienblasen in den USA und Europa das System seine Funktionsfähigkeit nur noch vermittels Gelddruckerei und Nullzinspolitik aufrechterhalten.
Systemimmanent gibt es für die Geldpolitik keinen Ausweg aus der Sackgasse
Steigende Zinsen im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems würden nicht nur die globale Konjunktur endgültig abwürgen und die scheinbare Erfolgsgeschichte der Schwellenländer in der Semiperipherie zu einem abrupten Ende kommen lassen, auch viele Industrieländer würden unter der rasch ansteigenden Zinslast kollabieren. Seit dem Ausbruch der Schuldenkrise ist die Verschuldung auch in den Metropolen regelrecht explodiert, wie etwa die FAZ erläuterte: "Die private und öffentliche Verschuldung sei [laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), T.K.] seit dem Jahr 2007 in den 18 führenden Wirtschaftsländern um 33 Billionen Dollar gestiegen." Im Klartext bedeutet dies, dass der heroische Kampf der kapitalistischen Krisenpolitik gegen die Schuldenkrise allein in den Industriestaaten binnen der letzten sechs Jahre einen zusätzlichen Schuldenberg von 33.000 Milliarden Dollar produzierte.
Tatsächlich gibt es systemimmanent für die Geldpolitik keinen Ausweg aus dieser Sackgasse. Bernanke hat nur die Wahl zwischen weiterer Gelddruckerei mitsamt Nullzinspolitk oder einem gigantischen Finanzmarktcrash, der die Weltkonjunktur in den Abgrund einer Depression treiben würde. Eigentlich bemühen sich die Notenbanken Chinas und der USA nur noch darum, mittels massiver staatlicher Unterstützung, mittels uferloser Gelddruckerei, die finanzmarktgetriebenen Defizitkonjunkturen fortzuführen, die vor der Finanzkrise von 2007 durch die wucherten Immobilienmärkte ermöglicht wurden.
Diese Ausweglosigkeit der kapitalistischen Geldpolitik, die zur Geisel der von ihr entfachten Liquiditätsschwemme wurde, ist somit nur Ausdruck der sich seit Jahrzehnten zuspitzenden Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise (Das Ende des "Goldenen Zeitalters" des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus). Sie ist Ausdruck einer an ihrer Hyperproduktivität kollabierenden kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die nur noch vermittels permanent steigender Geld- und Kreditexpansion eine Art Zombieleben aufrechterhalten kann (Die Krise kurz erklärt).