Stichwahl in Frankreich: Macron hat hoch gepokert und ein bisschen gewonnen

Bild (Oktober 2022): VanderWolf Images /shutterstock.com

Deutscher Alarmismus gegen französische Gelassenheit: Unser Autor appelliert für eine Politik des Risikos. Ein Kommentar.

Eine Art Apokalyptik, verbunden mit Warnungen vor neuen Imperialismen und neuen Faschismen, beherrscht die zeitgenössischen Vorstellungen von Macht. Der Verweis auf die unumschränkte Macht des Souveräns und den Ausnahmezustand, dient als Erklärung für alles und jedes.

Michael Hardt/ Antonio Negri

Alle sehen, was du scheinst, aber nur Wenige erfassen, was du bist und diese Wenigen wagen nicht, der Meinung der Vielen zu widersprechen.

Niccolo Machiavelli

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La Marseillaise

Kylian Mbappé kann weiterhin stolz darauf sein, das Trikot der Équipe Tricolore zu tragen. Vor drei Wochen hatte sich der französische Fußballweltstar eindeutig gegen den rechtsextremistischen RN, Marine Le Pens Nachfolgepartei des Front National, positioniert:

Es ist eine brenzlige Situation. Wir dürfen nicht erlauben, dass unser Land in die Hände dieser Leute fällt. Ich hoffe, dass sich am Ergebnis noch etwas ändert und dass die Leute die richtigen Parteien wählen.

Damit hatte der Nationalspieler viel Beifall, aber auch die erwarteten Proteste hervorgerufen.

Gestern hat sich nun im zweiten Wahlgang der französischen Parlamentswahlen klar gezeigt, dass die Mehrheit der Franzosen sich offenbar viel lieber vom 25-jährigen Mbappé "belehren und beraten" (Marine Le Pen) lässt, als die Neofaschisten der EU-Feindin Le Pen zu wählen.

Ein Sieg für das linksliberale Lager

Die Ergebnisse der Stimmabgabe sprachen am Ende allen vorherigen Umfragen Hohn: Nicht die Rechtsextremen haben die Wahl gewonnen oder werden gar den Premierminister stellen, sondern die linke Mitte. Zu konstatieren ist hingegen eine deutliche Niederlage der Rechtsextremisten, die entgegen allen Prognosen gerade einmal ein Viertel der Abgeordnetensitze errangen (143).

Dies ist zumindest ein Teilerfolg für den Präsidenten und ein großer Sieg für das linksliberale Lager in Frankreich, das zusammen auf rund 350 Sitze käme, wenn man die Sitze des Linksbündnisses (Nouveau Front Populaire, 182) und die des Präsidentenbündnisses Ensemble (168) zusammenrechnet. Wenn man alle Rechtsparteien zusammenrechnet, so kommen sie gerade mal auf gut 200 Sitze.

Alles wiegt umso schwerer, als die Wahlbeteiligung mit knapp 67 Prozent die höchste der vergangenen Jahrzehnte gewesen ist. Entgegen aller Unkenrufe im doppelten Konjunktiv, nach denen "das verringerte politische Angebot dazu führen könnte, dass viele beim zweiten Wahlgang zu Hause bleiben könnten". (FAS, 07.07.24)

Der republikanische Reflex

Für manchen war dieses Ergebnis vermutlich wirklich eine Überraschung. Doch gab es auch eine andere Perspektive, die der Autor dieser Zeilen vertrat. Von dort aus gesehen war der Wahlsieg des Mitte-Links-Lagers die wahrscheinlichste Option, wenn man sich etwas Nüchternheit gegenüber einer hysterisch aufgeladenen, von voreiligen Annahmen und Scheingewissheiten aufgeladenen Situation bewahrt hatte.

Dabei ist doch eines offensichtlich: Wenn es ernst zu werden droht, ist auf die Mobilisierung der französischen Republik Verlass.

Im Zweifel gegen Rechtsextreme

Auch wenn Wähler aus Protest gern Stimmen für Le Pen abgeben, wie vor ein paar Wochen bei der Europawahl, so stimmt eine deutliche Mehrheit der Franzosen im Zweifel immer gegen die Rechtsextremisten und notfalls auch für gerade unbeliebte Präsidenten.

Das ist genau der republikanische Reflex, auf den Macron mit seiner Entscheidung zur Parlamentsauflösung am 9. Juni gesetzt hatte. Bisher war die Linke gespalten, nun hat sie sich über Meinungsverschiedenheiten hinweg geeint.

Die Franzosen wollen in ihrer klaren Mehrheit keine Rechtsextremen an der Macht. Und sie trauen Marine Le Pen nicht. Trotz allem Gerede von "Entdiabolisierung" (Le Pen über Le Pen) der RN, erscheint sie den Wählern als Wolf im Schafspelz oder besser noch als der Skorpion in der berühmten Fabel ihres Landsmanns La Fontaine, der den hilfreichen naiven Frosch mit den Worten tötet: "Ja, das ist nun mal meine Natur."

1789 vs. 1940: Linke und Rechtsextreme sind nicht gleichzusetzen

Etwas Zweites machten die französischen Wähler genauso klar: In Wahlkreisen, in denen es zur Stichwahl zwischen einem Kandidaten der links-grün-sozialdemokratischen Neuen Volksfront (NFP) und einem Kandidaten von Le Pens RN kam, gingen vier von fünf Entscheidungen an die NFP. Macrons linksliberale "Ensemble" gewann immerhin drei von vier Konfrontationen mit der RN und konnte mit 168 zu 182 Sitzen zu aller Überraschung fast zur NFP aufschließen.

Anders sieht es hingegen für die gaullistische Nachfolgepartei Le Républicains (LR) aus, die von der RN hart getroffen wurde. Obwohl ihr erste Umfragen und Projektionen auch noch nach Schließung der Wahllokale 60 bis 68 Sitze versprachen, wurden es am Ende nur 46. Viele Sitze gingen an RN-Kandidaten verloren – wohl auch, weil Parteiführer während des Wahlkampfes offen mit einem Bündnis mit Le Pen geflirtet hatten.

Großer Unterschied zwischen den Lagern

Die wichtigste Botschaft vom Sonntag ist die, dass Linke und Rechtsextreme eben nicht gleichzusetzen sind, dass das heterogene Bündnis der NFP eben nicht das "linksextreme" Pendant zur RN ist, sondern ein großer Unterschied besteht.

Die Neue Volksfront steht auf dem Boden der "Ideen von 1789" – "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" –, der Republik und der Demokratie. In der Sprache der Französischen Revolution und des politischen Frankreich' handelt es sich um ein Bündnis aus Sansculotten, Jakobinern und der Gironde gegen eine Partei, die für die Konterrevolution, die Action française und Vichy, das Bündnis aus katholischer Reaktion und Faschismus steht.

Bis auf wenige Personen am linken Rand ist man klar proeuropäisch eingestellt. Frankreich bleibt damit der starke Akteur in Brüssel.

Eklatantes Versagen vieler Medien

Die zweite Runde der französischen Parlamentswahl offenbarte einmal mehr ein eklatantes Versagen vieler der oft nur noch kurzatmig berichtenden, zu tieferer gelassener Analyse kaum noch fähigen (nicht nur) deutschen Medien.

In Deutschland dominierte wie gewohnt hysterisierende Berichterstattung: "Wie Emmanuel Macron das Land den Rechtsradikalen ausliefert" glaubte der Spiegel erklären zu müssen und titelte "Fällt Frankreich?: "Die wahrscheinlichsten Szenarien sind alle gleichermaßen beunruhigend."

Die Rede ist von "irrationalen Entscheidungen" und abgehalfterte Berater werden zitiert, die aus der Galerie hinterherrufen, Macron habe sich verkalkuliert. Auf Frankreich könne eine politische Krise zukommen, wie es sie seit 1968 nicht mehr gegeben habe.

Franzosen haben für solche "Analysen" einen Begriff: der deutsche Taumel.

Der Fluch des Élysée-Palasts – oder Fluch der Medien

Klar war vorher für viele ausländische Beobachter, für alle Deutschen ohnehin: Macron hat sich verkalkuliert. Macron ist ein Spieler, ein Hasardeur, der "sein Land ohne Not ins Chaos" (Spiegel) gestürzt hat und mindestens seine Präsidentschaft, eigentlich ganz Frankreich, ja ganz Europa aufs Spiel setzt.

Einer, der eitel ist, arrogant, abgehoben, der seine Wähler nicht kennt, der einem kleinen Kreis von Beratern ausgesetzt alle Bodenhaftung verloren hat. Ein "gekränktes Kind", das "am Ende an seinem übergroßen Ego und seiner Eitelkeit scheitert" (Daniel Cohn-Bendit).

Auch Michaela Wiegel, langjährige Frankreich-Korrespondentin der FAZ, sah kein bisschen klarer, sondern ihr schwante bereits vorab eine "Französische Revolution": "Das ist der Anfang vom Ende Emmanuel Macrons. Er kann den Siegeszug von Marine Le Pen nicht mehr aufhalten." Warum eigentlich?

Und Nils Minkmar, einst ebenfalls leitender FAZ-Redakteur, jetzt Frankreich-Versteher der SZ, schrieb zunächst über den "Fluch des Élysée-Palasts: Wer dort wohnt, verfügt über alle Macht, bekommt jederzeit die volle Aufmerksamkeit – und verliert den politischen Verstand".

Um dann ein paar Tage später raunende Ratschläge bei der 85-jährigen ultralinken Theaterkünstlerin Ariane Mnouchkine zu holen:

Nichts ist mehr sicher außer dem Abstieg des ganzen Landes ... Ich denke, dass wir zum Teil dafür verantwortlich sind ... Wir haben das Volk im Stich gelassen, wir wollten nicht auf die Ängste und Befürchtungen hören.

Minkmars Fazit: "In Frankreich beginnt, ohnehin, eine neue Zeit." Wie die aussieht, erfahren wir nicht.

Nur wenige Stimmen verteidigten Macron. Eine davon war der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk, der augenblicklichen Paris lehrt, und im Interview mit der Zeit Macron mit dem zaudernden deutschen Bundeskanzler verglich und folgerte, Macron werfe "den Wählern ihre eigene Verantwortungslosigkeit vor die Füße." Darum sei die Entscheidung richtig.

In Deutschland überwiegt weiterhin der Negativismus

Zu Demut gegenüber den eigenen Prognosen und der eigenen Prognosefähigkeit führt das keineswegs. Ebenso wenig die Einsicht, dass "das Leben ihm (Macron) so oft recht gegeben hat" (Spiegel).

Auch am Wahlabend überwog in Deutschland der Negativismus. Berichtet wird über Probleme, man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht, sondern kapriziert sich um mögliche Schreckensszenarien. So erklärt die Tagesschau ihrem Publikum: "Warum es in Frankreich jetzt kompliziert wird" – als wäre es vorher nicht kompliziert genug gewesen.

Betont werden die Schwierigkeiten, die sich jetzt eröffnen, wo der prognostizierte Weltuntergang nicht stattgefunden hat. Macron habe nur Glück gehabt, habe nicht richtig kalkuliert.

Die Reaktionen in Deutschland zeigen das hier ansässige schlechte Verständnis von Politik und politischer Theorie. Man versteht hierzulande nicht den politischen Körper der französischen Republik nicht.

Wenn überhaupt, dann ist die Hoffnung zu vernehmen, dass die Franzosen ein bisschen deutscher werden könnten, dass sie jetzt von den Deutschen lernen müssen und die sogenannten bundesrepublikanischen Tugenden Koalitionsbildung und Kompromissfähigkeit erlernen.

Vielleicht sollten umgekehrt die Deutschen von Frankreich lernen, dass "Stabilität" ein relativer Wert ist und das Engagement der Bürger, die Citoyenneté, nicht ersetzt.

Macrons Entscheidung

"Die Frage war, was wollt ihr, wer soll dieses Land regieren? Um das zu beantworten, habe ich den Franzosen die Stimme erteilt. Das Ergebnis am Abend des zweiten Wahlgangs wird deshalb nicht die Schuld eines Einzelnen sein, die Franzosen und Französinnen selbst werden es zu verantworten haben" – so der Präsident höchstpersönlich eine Woche vor der Wahl.

Der französische Präsident hat genau das Richtige getan. Er hat die Franzosen aus ihrer Lethargie geweckt und positiv wachgeschockt.

Sloterdijks Vorstellung von Politik als Handeln unter Bedingungen des Risikos und der Gefahr zu scheitern, ist durch die Wahlen in Frankreich bestätigt worden. Gute Politik gibt es nicht ohne Risiko und nicht ohne politische Klugheit.

Es gibt dafür im Französischen die Worte "sage" und "sagesse", die die wagemutige Klugheit bezeichnen im Unterschied zur (über-)vorsichtigen "prudence". Macrons Entscheidung war wagemutig und sie beweist nicht zuletzt, dass der vermeintliche abgehobene Elite-Abkömmling ein besseres Verständnis für seine Wähler hat, als die meisten anderen. Und viel mehr Vertrauen in sie.

Macron kommt aus der Linken und er kommt aus der Idee der Mobilisierung: "La République En Marche". Es wird ihm nicht allzu schwerfallen, am Ende ein Regenbogen-Bündnis von Kommunisten bis zu den konservativen Republikanern gegen die rechtsextremen Republikfeinde zu schmieden.

Vielleicht angeführt vom ehemaligen Präsidenten François Hollande, der gerade ein erstaunliches Comeback erlebt. Oder vom EU-Abgeordneten Raphaël Glucksmann, dem neuen Hoffnungsträger der Sozialisten.

"Macron hat geschafft, dass die Rechte auf Platz drei liegt"

"Macron wollte es wissen und er hat es geschafft, dass die Rechte auf Platz drei liegt. … Das war ein Risiko, aber es hat sich gelohnt" – zu den wenigen, die Macrons Strategie der Risikobereitschaft loben, gehört der ehemalige Kanzlerkandidat der Union, der CDU-Politiker Armin Laschet: Die Rechnung des Präsidenten sei aufgegangen: "Die große Mehrheit der Franzosen hat gezeigt, dass sie proeuropäisch und prodemokratisch ist."

Viele hätten Präsident Macron kritisiert und für verrückt gehalten, dass er diese Neuwahlen ausgerufen hat. Im Nachhinein hat er recht behalten.

Die Rechtsextremen seien ausgebremst worden, ihre Legende, nach der "das Volk" hinter ihnen stände und sie dieses "gegen die Eliten der Hauptstadt" vertreten, sei gebrochen.

Die große Mehrheit der Franzosen hat gezeigt, dass sie pro-europäisch und pro-demokratisch ist. Das war ein Risiko, aber es hat sich gelohnt.

Armin Laschet

Schlussfolgerung

Der Wahlsonntag zeigt: Die mediale Überdramatisierung des Politischen trübt den Blick für die Realitäten.

Praktisch gesehen sprechen Beobachter in ersten Einschätzungen von einer "Reparlamentarisierung" der V. Republik. Macron werde Macht abgeben müssen. Das widerspräche allerdings allen Erfahrungen der "demokratischen Fürstenherrschaft" im 21. Jahrhundert. Wir werden sehen.