Syrien: Ärzte als Kriegspartei verwertet

Archivbild: Aleppo, 2012 nach einem Autobombenangriff der al-Nusra-Front. Bild. Zyzzzzzy/CC BY 2.0

Steinmeier "blitzt ab" in Russland. Die Empörung über die katastrophale humanitäre Situation in Aleppo richtet sich gegen die russischen Regierung. Dabei wird viel ausgelassen

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Der russische Außenminister Lawrow ließ seinen deutschen Kollegen Steinmeier abblitzen, fasste die Tagesschau gestern das Treffen der beiden in Jekaterinburg in der Überschrift zusammen. Berichtet wird: Steinmeier habe sich für eine längerfristige Waffenruhe in Aleppo eingesetzt, um Hilfslieferungen in die umkämpfte syrische Stadt zu bringen. Lawrow habe dies abgelehnt.

"Zynisches Russland": Die Empörung

Die Empörung darüber ist nicht nur in der Überschrift sichtbar. Der Tagesschau-Bericht zitiert auch den Regierungssprecher Steffen Seibert, dessen Kritik an Moskau noch schärfer ausfällt:

"Das Elend der Menschen dort (in Aleppo, Anm. d. A.) ist nicht zu lindern, wenn drei Stunden Feuerpause am Tag verkündet werden", sagte er in Berlin. "Das soll wie ein Entgegenkommen klingen, ist aber eigentlich Zynismus, denn jeder weiß, dass diese Zeit nicht annähernd ausreicht, um eine Versorgung der verzweifelten Menschen wirklich aufzubauen."

Steffen Seibert

Die Meinungsverschiedenheiten gehen darum: Das russische Verteidigungsminister hatte vergangene Woche eine tägliche Waffenruhe in Aleppo zwischen 10 Uhr vormittags und 13 Uhr angekündigt. Nach Auffassung des UN-Koordinators für Humanitäre Hilfe, Stephen O’Brien, reicht dies nicht aus. Um die Bevölkerung, besonders in den Stadtteilen im Osten, ausreichend mit dem Nötigsten zu versorgen, bräuchte es "mindestens eine zweitägige Feuerpause in der Woche".

Der deutsche Außenminister schließt sich dieser Auffassung an; er habe unterstrichen, so die Tagesschau, dass ihm das nicht ausreiche:

Auch Korridore aus der Stadt seien ungenügend. Nötig seien sichere Versorgungskorridore in die Stadt hinein. "Die humanitäre Situation in Aleppo ist katastrophal. Das kann und darf so nicht weitergehen", sagte Steinmeier. Er appellierte an die Verantwortung Russlands, einen Beitrag zu leisten, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.

Tagesschau

Achtet man auf die Formulierung des Diplomaten Steinmeier, so wird erkennbar, dass die Empörung sehr viel mit der Berichterstattung der Tagesschau zu tun hat. Steinmeier beklagt die katastrophale humanitäre Situation, ohne hier direkt, Russland verantwortlich zu machen. Er appelliert an dessen Verantwortung, einen Beitrag zu leisten. Das kommt der komplizierten Situation in Aleppo näher als der im Tagesschau-Bericht insinuierten unverständlichen, "zynischen" Ablehnung Russlands.

Fehlendes nachgetragen

Der Tagesschau-Bericht schüttet viel Empörung dazu, lässt aber vieles aus. Das ergänzt zum Beispiel ein anderer Steinmeier-ist-abgeblitzt-Bericht, von der Frankfurter Rundschau. Dort wird immerhin die Begründung Lawrows gegen die Ausdehnung der Waffenruhe wiedergegeben. Der Tagesschau-News-Konsument staunt.

Auch für Lawrow sind die drei Stunden Waffenpause "natürlich nicht genug". Allerdings habe man die Erfahrung bei längeren Waffenpausen in Aleppo (ausgerufen zusammen mit den USA) gemacht, dass es zu "vermutlich unwesentliche Erleichterung für die Zivilbevölkerung" kam. Das Hauptresultat aber sei gewesen, "dass 7000 neue Kämpfer die Reihen der Terroristen füllten".

Diese Problematik wird von der Tagesschau nicht einmal erwähnt. (Ergänzung: Ein Leser teilt mit, dass die Tagesthemen gestern sehr wohl über die Begründung Lawrows - das befürchtete Einsickern der Kämpfer während Feuerpause - berichtet habe.)

Stattdessen wird, und nicht nur dort, an einer einseitigen Story weitergestrickt. Deren zugrundeliegender Plot besteht aus den Aussagen: "Assad schlachtet seine eigene Bevölkerung ab" und "Russland hilft ihm dabei". Russland ergreift Partei, ist als Vorwurf in deutschen Medienberichten immer wieder zu lesen. Den Gipfel der brutalen Rücksichtslosigkeit beschreiben dann Berichte über Angriffe auf die Krankenhäuser in Aleppo, die in der vergangenen Woche für große Erregung sorgten.

"Russland ergreift Partei" - und der öffentlich-rechtliche Sender?

Macht man Russland den Vorwurf, dass es Partei ergreift - ohnehin ein kurioser Vorwurf, da Russland nicht die UN ist, sondern von der syrischen Regierung zu Hilfe gerufen wurde - so ist dieser Vorwurf auch an eine oberflächliche Berichterstattung zu richten. Im Fall der Angriffe auf Krankenhäuser in Aleppo werden andere Maßstäbe angelegt als zum Beispiel bei Angriffen israelischer Kampfbomber auf Krankenhäuser im Gazastreifen.

Im letzten Gaza-Krieg wurde bei solchen bestürzenden Meldungen regelmäßig in Kommentaren oder Berichten neben der Entrüstung auch zu bedenken gegeben, dass die Hamas-Terroristen sich unter die Zivilbevölkerung mischen und sich damit Schutz vor Bombenangriffen zu verschaffen suchen. Dazu gab es die Rechtfertigung, dass die israelische Luftwaffe Ziele angegriffen habe, von denen aus zuvor Raketen auf die eigenen Kräfte oder auf israelische Siedlungen abgeschossen wurden.

Um es vorsichtig zu formulieren: Wer kann ausschließen, dass dies nicht auch das Problem bei Krankenhäusern oder Behelfseinrichtungen zur ärztlichen Versorgung im Osten Aleppos der Fall ist. Dass also von solchen Stellungen aus oder aus unmittelbarer Nähe in die westlichen Viertel Aleppos gefeuert wird, die von der syrischen Armee kontrolliert werden.

Diesem Einwand in der Darstellung der Lage in Aleppo einen Platz einzuräumen, wie es bei der Berichterstattung über Israels Kriege gegen die Hamas oder die Hizbollah Usus ist, wäre das Mindeste.

Die Krankenhäuser in Aleppo und im Gouvernat Aleppo

Beobachter der Situation, die von den großen Medien selten erwähnt werden, gehen in ihren Vorwürfen sehr viel weiter. Sie sprechen nicht von Unterlassungen, sondern von einem Spin, der hier mithilfe von Ärzten und Hilfsorganisationen gedreht wird.

Ihre Vorwürfe werden von EHSANI2 zusammengefasst, einer Publizistin, die nach eigenen Angaben in Aleppo lebt und verschiedentlich auf dem Blog Syria Comment von Joshua Landis veröffentlicht hat. Sie gibt in der Sache Das Kriegs-Propaganda-Thema ‚Krankenhaus in Aleppo bombardiert‘ einiges zu bedenken: die Verwischung der Realität durch den schlampigen Gebrauch von Aleppo.

Ihr Vorwurf: Die westliche Berichterstattung unterscheidet nicht zwischen Krankenhäusern in der Stadt und Krankenhäuser in der Umgebung "Aleppo Governorate". Alles werde zusammengemischt der Schlagzeilen wegen, die darauf ausgerichtet sind, eine militärische Intervention als Lösung zu propagieren.

Auch würden die meisten westlichen Berichten aus dramaturgischen Gründen nicht sorgfältig zwischen Krankenhäuser und Behelfsstationen unterscheiden, Die Angaben zu den tatsächlich existierenden Krankenhäusern würden nicht stimmen, so ein weiterer Vorwurf. Den Angaben von EHSANI2 nach wurden "viele" von den 16 vor dem Krieg im Osten Aleppos registrierten Krankenhäusern seit 2012 von "Rebellen" besetzt und ausgeplündert. Es verstehe sich von selbst, dass die Milizen solche Orte als Operationsbasis nützen.

Vorwürfe gegen Ärzte-Organisationen

Harte Vorwürfe werden den Ärzten und Organisationen gemacht, die hinter der Berichterstattungskampagne stehen. Er lässt sich so zusammenfassen: Sie agieren parteilich. Sie sind keine Quelle für eine unabhängige Berichterstattung, wie sie die ARD/Tagesschau für sich proklamiert. Man müsste dann schon Beziehungen erwähnen.

EHSANI2 nennt zwei Ärzte und zwei Organisationen, die bei den Appellen an humanitäres Eingreifen und der Verurteilung syrisch-russischer Aggressionen eine treibende Rolle spielen: Zaher Sahloul, bis vor kurzem Präsident der Syrian American Medical Society (SAMS), und Samer Attar, ein Chirurg aus Chicago, der in Aleppo arbeitet (und gerne von der Bild-Zeitung zitiert wird), sowie die Organisation Physicians for Human Rights, die mit der genannten SAMS-Stiftung verbunden ist.

Auf dem Blog Moon of Alabama lassen sich Hintergründe zu Berichten lesen, die regelmäßig die "Zerstörung des letzten Krankenhauses in Aleppo" oder den "Tod des letzten Kinderarztes" melden. Die Physicians For Human Rights spielen bei diesen Medieninszenierungen eine maßgebliche Rolle, Ungereimtheiten und Fakes sind auffällig.

Feststeht, dass beide Organisationen sehr gute Beziehungen in den USA haben und größere Spendergelder beziehen. Herauszufinden, inwieweit diese Beziehungen von politischen Interessen gefärbt sind, wäre eine Aufgabe für Medien, die von öffentlichen Geldern leben. Die Kritiker gehen in ihren Vorwürfen sehr weit, sie sprechen davon, dass die Ärzte auf sehr engem Fuß mit den Dschihadisten stehen.

Das kann von meiner Seite nicht verlässlich falsifiziert oder bestätigt werden. Allerdings wird selbst von ausgewiesenen Sympathisanten des "Widerstands gegen Baschar al-Assad" mittlerweile eingestanden, dass die "syrischen Rebellen in Aleppo auf einem neuen Tiefstand angekommen sind". Gemeint ist ihre Unterwerfung unter die al-Qaida-Führung. Im Mainstream der deutschen Berichterstattung ist dieser Akt der Opposition noch nicht angekommen, Russland scheint als Feindbild irgendwie wichtiger (Aleppo: Die Inszenierung von al-Qaida).

Nachtrag

In manchen Kommentaren werden Ärzte, die auf der Seite der Gegner Assads operieren, sogar als "al-Qaida-Freunde" geschildert. Ich kann mich diesem einfachen Bild nicht anschließen. Für diese starke Behauptung gibt es meiner Meinung nach bis dato keine wirklich überzeugenden Nachweise. Warum sollte man Fotomaterial, das als Beweis vorgelegt wird, dessen Kontext und Herkunft aber nicht genau zu bestimmen ist, in diesem Fall als gültig anerkennen?

2011, als in Bahrain ein Krankenhaus von Staatstruppen und befreundeten saudischen Truppen angegriffen wurde, wurde Ärzten der Vorwurf gemacht, dass sie feindliche Kräfte unterstützt haben. Diese antworteten, dass sie es als ihre Pflicht ansehen, Verletzte zu behandeln, egal auf welcher Seite diese politisch stünden. Diese Motivation ist aufs Engste mit dem Berufseid verbunden.

Man kann sie meiner Auffassung nach den Ärzten, die im Osten Aleppos Hilfe leisten, nicht einfach absprechen. Zumindest nicht, ohne selbst genaueste Kenntnis der Situation aus nächster Nähe zu haben. Worum es mir ging, ist eine politische Instrumentalisierung auf der Ebene der Berichterstattung, die bestimmte Punkte außer Acht lässt.