Syrien: Der Kampf gegen den IS und das Interesse am Chaos
Die türkischen Luftangriffe werfen der Offensive auf Rakka Knüppel in den Vormarsch. Dem IS nützen sie
Ab und zu wird ein Licht aufgestellt, um eine Richtung anzuzeigen, wo sich ein Ausstieg aus dem syrischen Schlamassel befinden könnte. Zum Beispiel die Rückeroberung von ar-Raqqa (oder auch: Rakka) aus der Herrschaft des IS.
Mit der Offensive auf die sogenannte Hauptstadt des "Islamischen Staates" wird die Hoffnung verbunden, dass wenigstens diese radikal islamistische Kriegspartei demontiert werden könnte, wenn auch die Aussicht nicht frei von Befürchtungen ist, da die militanten Sprengsel des besiegten Kalifats ihren Dschihad stärker auf die großen Städte der "Kreuzfahrerstaaten" in Europa verlagern könnten.
"In den Rücken gefallen"
Nun hat die Türkei mit ihren Luftangriffen auf Ziele im Nordirak und in Nordsyrien der Offensive auf Rakka ein paar Knüppel in den Vormarsch geworfen. Die Angriffe fallen den Kräften in den Rücken, die den Terror des IS bekämpfen, kommentierte Salih Muslim, Co-Vorsitzender der kurdischen PYD.
Der bewaffnete Arm der PYD, die YPG, deren Hauptquartier von der türkischen Luftwaffe angegriffen wurde, stellt die zentralen Streitkräfte der SDF, welche die Offensive auf ar-Raqqa anführen. Nun müssen sie einen Teil ihrer Kräfte erneut darauf verwenden, sich um ihr "Stammland" zu kümmern. Die Offensive, genannt "Operation Wrath of Euphrates", ist geschwächt, der IS erlangt durch die Angriffe Vorteile.
Darüber hinaus treffen die Luftangriffe auf ein verwickeltes Netz von Loyalitäten. In die kurdischen SDF eingebettet sind US-Spezialkräfte. Die USA brauchen die PYD als Bodentruppen für die prestigeträchtige Eroberung von Rakka. Trump hatte Wahlkampf damit gemacht, dass er gegen den radikalen Islam, insbesondere gegen den IS, kämpfen werde. Zuletzt hatten US-Vertreter ihre Loyalität gegenüber den kurdischen Kämpfern herausgestellt.
Auch aus Russland hörte man Äußerungen, dass die Schutzmacht der syrischen Regierung die syrischen Kurden unterstützt. Es gab einen Konsens der USA und Russland, auch wenn dieser nicht verbrieft ist, darüber, dass die Türkei, wie es deren Regierung wünschte, nicht an der Offensive auf Rakka teilnehmen dürfe. Der Türkei wurden Grenzen gezogen.
Peshmerga: "Das ist unakzeptabel"
Bei den Angriffen in der Nacht zum Dienstag wurden auch mindestens fünf Peshmerga-Kämpfer getötet. Das türkische Militär begründete die Angriffe mit der Zerschlagung von "Terrornestern". Die Regierung der autonomen Kurden-Provinz im Nordirak , die KRG, reagierte scharf auf den Angriff: Das sei nicht zu akzeptieren.
Der "Zwischenfall" dürfte Erdogan in Erklärungsnöte mit Barsani bringen, dem Präsidenten der kurdischen Region im Nordirak. Barsani galt bislang als Verbündeter Erdogans. Nun gibt es sicher begabte Strategen, die sich aus den ausgefinkelten Manövern einen Reim machen können, für andere sieht es nach einer Fortsetzung des Schlamassels aus, das diesen Krieg charakterisiert.
Man kommt, grob gesagt, über die Erkenntnis nicht hinaus, dass das Interesse, den Krieg weiterzutreiben, sehr viel mächtiger ist als alles andere. Es sieht derzeit überhaupt nicht danach aus, dass über Verhandlungen eine real wirkungsvolle Lösung erarbeitet werden könnte und es sieht auch nicht danach aus, dass militärische Lösungen zu einem Ende der Konflikte führen könnten.
Katastrophal für die Bevölkerung
Für die Bevölkerung in Teilen Syriens ist das Chaos katastrophal. Es gibt ohnehin keine "guten Kriege" aus ziviler Sicht. Selbst wenn man annimmt, dass die Offensive auf Rakka eine "gute Sache" ist, muss man mit Folgendem zurechtkommen.
Die UN ist sehr über die Sicherheit und den Schutz von über 400.000 Menschen in Raqqa besorgt. In den letzten Wochen war die Zivilbevölkerung täglichen Kämpfen und Luftangriffen ausgesetzt, die einen eskalierenden Anstieg der Zahlen getöteter und verletzter Zivilisten zur Folge hatten wie auch Schäden der zivilen Infrastruktur, einschließlich Krankenhäuser, Schulen, Märkte und Wasserversorgung. UN
Die SDF-Truppen hatten in den Tagen vor den Angriffen der türkischen Luftwaffe einige Fortschritte bei ihrer Offensive erzielt, unterstützt durch Luftangriffe der USA und Verbündeter. Das löste größere Fluchtbewegungen aus.
Evakuierungen fallen dem US-Autor Sam Heller als Lösungsvorschlag ein, um eine Katastrophe für die Zivilbevölkerung in Idlib zu verhindern. Heller ist ein Autor, der offen Sympathien für die syrische Opposition zeigt. Er ist kein "Assadist". Wenn nun Heller davon schreibt, dass sämtliche Oppositionsgruppen in Idlib unter der Dominanz von Dschihadisten stehen, deren Zentrum die al-Qaida-Milizen al-Nusra-Front bildet, so ist die Bobachtung nicht mit Lager-Rhetorik wegzuwischen.
Für jene, die überzeugt sind, dass der Westen sich einfach nur militärisch mehr einmischen sollte, liefert Hellers Situationsbeschreibung von Idlib, wo über eine Million Zivilisten "in der Falle" sitzen, gutes Anschauungsmaterial dafür, wie wenig diese militärische Lösungen taugen, weil sie nur zu weiteren Eskalationen führen und weiter gedacht zu einer Folge, die kein vernünftiger Mensch wollen kann, der sich Licht am Ende des Tunnels wünscht: die Stärkung der Dschihadisten.
Es gibt ein großes Problem und keine Lösung, lautet Hellers Fazit. Bisher sieht es so aus, dass äußere Einfluss-Mächte mit diesem Status ganz zufrieden sind. Die Dschhiadisten, ob nun vom IS oder von al-Qaida/al-Nusra bekommen immer dann Vorteile zugeschanzt, wenn die Gegenseite zu stark wird.
"Keeping the Middle East busy with wars and containing terrorism within the 'walls' of the Middle East is apparently considered the best way for liberal democratic societies to survive. This is called politics." Elijah J. Magnier