Syrien: Die nächste Offensive der Dschihadisten
Die al-Nusra-Front bzw. Hay'at Tahrir al-Sham will Idlib zum Emirat machen und räumt alle Widersacher aus dem Weg. Dabei hat sie viel Bewegungsfreiheit
Vieles in Syrien ist schwer durchschaubar und verwickelt wegen der vielen unterschiedlichen Interessen. Doch gibt es auch Muster, die sich ständig wiederholen. Dazu gehört etwa die Einsicht, dass die al-Nusra-Miliz, egal welchen Namen sie gerade trägt, die anderen oppositionellen Gruppen in die Tasche steckt und sie überraschend großen Spielraum hat. Das geht seit Jahren so.
Aktuell macht die von Abu Mohammed al-Golani (manchmal auch "al-Julani" geschrieben, der Name geht auf die Golanhöhen zurück) geführte Dschihadistenmiliz unter dem Namen Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) auf sich aufmerksam, weil sie einen wichtigen Ort nach dem anderen im Nordwesten Syriens erobert und ihrem Ziel, ganz Idlib unter ihre Herrschaft zu bekommen, näher rückt und damit eine brenzlige Situation schafft.
Die anderen Gruppen weichen. Zuerst bekam Nour- ed-Din al-Zinki die militärische Überlegenheit zu spüren und gab auf. Nun heißt es, dass auch Ahrar al-Sham sich in Sahl al-Ghab auflöst und alle mittleren und schweren Waffen an HTS übergibt, die die militärische Oberaufsicht hat. Die Mitglieder von Ahrar al-Sham können entweder nach Afrin abziehen oder in Sahl al-Ghab bleiben, wo sie sich dem "Salvation Government" unterzuordnen haben. Die "Regierung zur Rettung" wird maßgeblich von Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) geprägt.
Die Mitteilung, die vom US-Nahostexperten Sam Heller stammt, der im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen die arabische Sprache beherrscht, ist bezeichnend.
Zielgerichtetes Vorgehen
Sahl al-Ghab, ein fruchtbares Gebiet, war bei Auseinandersetzungen, bei denen es um die Kontrolle Idlibs ging, immer von strategischer Bedeutung. Dies schon zu Zeiten im Jahr 2015, als die al-Nusra-Front zusammen mit ihren Kampfgenossen von Ahrar al-Sham noch als "Rebellen" etikettiert wurden, Idlib erobert hatten und gemeinsam in Sahl al-Ghab gegen Truppen des "Regimes" kämpften.
Nun setzt sich die dschihadistische Kerntruppe durch und dies an mehreren strategisch wichtigen Orten westlich von Aleppo und im Süden Idlibs, wie bei der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, bei der oppositionsnahen Publikation Syria wie auch bei oppositions- und interventionskritischen Beobachtern (auch deutschsprachigen) und bei der syrischen Nachrichtenagentur Sana nachzulesen ist.
Den genannten Berichten ist gemeinsam, dass sie die Frontstellung zwischen Hay'at Tahrir al-Sham und den Milizen betonen, die mit der Türkei verbunden sind. Bei der oppositionsnahen Publikation Syria:direct wird darüber hinaus noch kenntlich, dass auch die Bevölkerung alles andere als begeistert über die Erfolge der HTS und das von ihr geprägte Salvation government sind. Vorherrschend seien Angst und Panik.
Die Wahrnehmung hat sich geändert
Berichtet wird auch von einer Demonstration in Maarat a-Numan gegen HTS, was Demonstrationen in Erinnerung ruft, die es auch beim Kampf um Aleppo, Ende 2016, in Stadtviertel im Osten Aleppos gegen al-Nusra gegeben hatte. Damals wurde dies aber noch in einem anderen Kontext gesehen und tendenziell als Propaganda abgetan.
Wie sehr sich die Wahrnehmung geändert hat, zeigen zwei Schlagzeilen des Spiegel: "Die Islamisten sind Aleppos letzte Hoffnung", hieß es Anfang August 2016 und gestern war der Lagebericht so überschrieben: "Die Dschihadisten erobern, die Türkei schaut zu."
Die entscheidende, das Geschehen auf der Seiten der Opposition bestimmende Fraktion war aber immer schon die Miliz unter Führung des Ex-al-Qaida-Warlords al-Golani. Früher hieß sie al-Nusra-Front, dann Jaish al-Fatah und nun Hay'at Tahrir al-Sham.
Al-Golani war früher eng mit Zarqawi verbunden, dem berüchtigten religiösen Gewaltfanatiker der al-Qaida im Irak, dann mit al-Baghdadi, dem berüchtigten Kalifen des IS, danach verfolgte er seinen eigenen Dschihad in Syrien. Die Ideologie ist noch immer die, die auch die al-Qaida trägt, nur dass al-Golani keine internationalen Ansprüche hat, ihm genügt ein Emirat in Syrien.
Ungewöhnlicher Spielraum
Interessant ist der Spielraum, den al-Nusra immer wieder bekommt. Bei Southfront findet sich heute eine Karte vom Süden Idlibs, auf der man sehen kann, was die Spiegel-Überschrift moniert. Unweit der jüngsten Eroberungen der Dschihadisten befinden sich Überwachungsposten der Türkei, die auf die Einhaltung des Waffenstillstands in der Sicherheits/Pufferzone aufpassen sollen.
Wie konnte es dazu kommen, dass Hay'at Tahrir al-Sham einen derartigen Feldzug führen kann? Obwohl doch die Türkei in der Astana-Gruppe (Russland, Iran, Türkei) als Garantiemacht der Opposition den grundlegenden Auftrag hat, die Miliz in Schach zu halten? Obwohl durch das im September geschlossene Abkommen mit Russland vorgesehen war, dass die Türkei längst dafür sorgen hätte sollen, dass HTS aus Idlib verschwindet? Allerdings wusste man nie, wohin die HTS verschwinden sollte.
Riskante Entwicklung
So wurde auch bislang vonseiten Russlands oder der syrischen Regierung kein wirklich entscheidender Druck auf die Türkei ausgeübt. Das könnte sich ändern. Spekuliert wird über die Möglichkeit, dass Damaskus und Moskau der Geduldsfaden reißt und sie einen Angriff auf die HTS starten, was dann dazu führen könnte, dass in Idlib die kriegerischen Auseinandersetzungen stattfinden, zu deren Vermeidung die russisch-türkischen Abmachungen getroffen wurden. Dann wäre auch ein erneutes militärisches Eingreifen der USA denkbar.
Im Moment sieht es so aus, als ob die Türkei an der gleichen Aufgabe gescheitert ist wie früher die USA zu Zeiten der Präsidentschaft Obamas: die Miliz von al-Golani unschädlich zu machen. Im Fall der USA wurde von Russland und Syrien und ihren Verbündeten der Vorwurf laut, dass die Schonung der al-Nusra zur Strategie Obamas und Kerrys gehört. Ähnliche Vorwürfe werden auch der Türkei gemacht. Allerdings würde sie damit die Milizen verraten, die im Bündnis "Nationale Befreiungsfront" mit ihr verbunden sind.
Geht es nach der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu, so gibt es laut Außenminister Mevlüt Cavusoglu kein Problem mit der Implementierung des Deals in Idlib.