Syrien: Massaker des IS in Suweida
Ein Überfall auf die Provinz im Süden, in der viele Drusen leben, fordert weit über 200 Tote
Der IS in Syrien und im Irak ist längst nicht erledigt, er hat sich anders organisiert und verlegt sich nun auf Anschläge im Stil der "Insurgenz", erklärt der Historicoblog, ein französischer Historiker, der sich seit 2015 genauer mit dem IS beschäftigt.
Die Serie von Anschlägen und Angriffen des IS am gestrigen Mittwoch auf die südsyrische Provinz Suweida stützt die Ansicht des anonymen Geschichtsdozenten. Der Blutzoll des Massakers ist irrsinnig: Über 240 Tote werden heute von der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London (SOHR) als Bilanz angegeben (bei Berichten über Gefechte oder Ereignisse und deren Bilanz ist SOHR dank seines Info-Netzwerkes eine recht verlässliche Quelle). Regierungsnahe Quellen bestätigen die auch für Syrien außerordentlich hohen Opferzahlen.
Gut über 130 Tote sind Zivilisten, wie L' Orient Le Jour, auf SOHR gestützt, berichtet, die in mehreren Dörfern im Norden der Provinz von den Dschihadisten überfallen wurden. Die anderen Toten sind demnach Kämpfer aufseiten der Regierung und Bewaffnete, die ihre Dörfer verteidigt haben. In der gleichnamigen Hauptstadt Suweida hatten vier Selbstmordattentäter ein großes Blutbad angerichtet.
Andere Quellen sprechen davon, dass ganze Familien niedergemetzelt wurden, dass die IS-Mörder ganze Serien von "Hinrichtungen" durchführten, dass Frauen, Kinder und Ältere in ihren Wohnungen getötet wurden.
Laut dem Beobachter Qalaat al-Mudiq, ebenfalls ein Analytiker, der als Historiker ausgebildet ist, waren die Attacken auf die Stadt Suweida und vier Orte auf dem Land koordiniert. Als Hintergrund berichtet er, dass die Regierung vor einigen Wochen Truppen wegen der Offensive auf Daraa abgezogen habe. Viele der Getöteten seien Drusen von örtlichen Verteidigungskommitees sowie Stammesführer und Scheichs. Laut al-Mudiq haben Brigaden, die mit der syrischen Regierung verbunden sind, ebenfalls herbe Verluste erlitten. Der IS verschleppte zudem vier gefangene Regierungskämpfer.
Das syrische Fernsehen übertrug heute die Beerdigung. Laut Qalaat al-Mudiq, der der Regierung in Damaskus gegenüber kritisch eingestellt ist, wurden Regierungsvertreter, der Gouverneur wie auch der Polizeichef durch Proteste gezwungen, die Trauerfeierlichkeiten zu verlassen.
Wie Inga Rogg von der Schweizer NZZ es schildert, haben die Drusen ein "ambivalentes Verhältnis" sowohl zur Regierung wie auch zu deren bewaffneten Gegnern:
Während sich einige der Rebellion anschlossen und sogar auf Autonomie hofften, stellten sich andere auf die Seite Asads, der sich als Beschützer der Minderheiten ausgab. Je mehr unter den sunnitischen Aufständischen radikale Islamisten die Oberhand gewannen - und Verbrechen an der Minderheit verübten -, umso mehr verloren die Rebellen für die Drusen an Glanz, zumal es dem IS schliesslich gelang, im Umland von Suweida Fuss zu fassen.
Dorthin hatte das Regime vor wenigen Monaten auch IS-Kämpfer "evakuiert", die sich Ende Mai nahe Damaskus geschlagen gaben. Aus deren Reihen sollen auch die meisten Kämpfer stammen, die an den Angriffen am Mittwoch beteiligt waren.
Inga Rogg, NZZ
Inga Rogg berichtet für die Schweizer Zeitung aus Istanbul. Ihre Aussagen zur Herkunft der IS-Kämpfer aus Milizen, die in Ost-Ghouta zum Abzug gezwungen worden waren, kursieren auch in den Experten- und Beobachterkreisen auf Twitter. Verlässliche Bestätigungen stehen aber noch aus. Es gibt auch andere Annahmen.
So berichtet etwa Magnier, dass der IS laut Angaben von Überlebenden offenbar ziemlich gut über die Lage informiert war, zugleich macht er den USA den Vorwurf, dass sie, die doch die Fahrt der IS-Fahrzeuge gesehen haben mussten, nichts unternahmen. Nach seiner Einschätzung rückten die IS-Milizen von der Gegend um al-Tanf Richtung Suweida vor. Auch Magniers Annahme ist noch nicht belegt. (Ergänzung: Interessante und aufschlussreiche Einzelheiten lieferte Magnier dann einen Tag später in einem ausführlicheren Lagebericht.)
Andere, wie Joshua Landis, gehen davon aus, dass der IS versucht, einen neuen Schauplatz zu eröffen, um die syrischen Truppen von ihren Kämpfen gegen den IS im Südwesten bei der Grenze zu Israel abzulenken.