Syrien: Militärisch gegen den "Fluch der bösen Tat" vorgehen?
Großbritannien und Frankreich wollen angesichts des Flüchtlingsstroms aus Syrien den Kampf gegen den "Islamischen Staat" forcieren
Bislang hatte sich François Hollande dem verweigert, wofür er heute die ersten Schritte ankündigte: Angriffe der französischen Luftwaffe auf Ziele des "Islamischen Staates" in Syrien. Ab Dienstag beginnen Aufklärungsflüge über Syrien. Deren Informationen dienen der Vorbereitung für Luftangriffe gegen den "Islamischen Staat", gab der französische Präsident auf einer Pressekonferenz bekannt.
Die Wochen zuvor wollte Hollande von solchen Vorschlägen zur Erweiterung des Einsatzes nichts wissen. Zwar ist die Luftwaffe Teil der Anti-IS-Koalition und hat laut Generalstab bisher etwa 200 Luftangriffe auf IS-Ziele im Irak, aber einem Einsatz in Syrien verwehrte sich Hollande mit dem Argument, dass man damit dem syrischen Präsidenten helfe, an der Macht zu bleiben. Der Präsident postulierte, dass al-Assad und der IS "zwei Seiten derselben Medaille" seien.
Hemmschwelle herabgesetzt: "Totaler Militäreinsatz gegen Däsch"
Jetzt ist die Hemmschwelle herabgesetzt, Bremsen lösen sich. Der Andrang der Flüchtlinge aus Syrien hat den Blick auf den Krieg in Syrien verändert. Die Verstärkung des militärischen Einsatzes gegen den IS wird politisch als praktischer Befreiungsschlag aus einer Situation lanciert, die innenpolitisch und europapolitisch von Hilflosigkeit geprägt ist. Außenpolitik mit militärischer Begleitung bringt zudem Publikumspunkte für Entschlossenheit.
In Paris fordern bekannte Oppositionspolitiker, wie Alain Juppé oder Bruno Le Maire, beide Anwärter auf eine Präsidentschaftskandidatur, noch mehr Entschlossenheit, mit dem Einsatz von Bodentruppen. Dem IS muss der Krieg gemacht werden, verlangt der frühere Minister Eric Woerth und anderer Ex-Minister ruft nach dem "totalen Militäreinsatz gegen Däsch".
London: Cameron braucht parlamentarischen Rückhalt
In London hatte der Premierminister im Juli noch mit der Aufregung darüber zu kämpfen, dass sich britische Piloten inoffiziell, embedded als Helfer der US-Air-Force, bereits an Luftangriffen gegen den IS in Syrien beteiligten - mit Wissen des Premiers, aber ohne Zustimmung des Parlaments.
Jetzt spricht vieles dafür, dass Cameron britische Luftangriffe auf Ziele in Syrien zur offiziellen Politik machen wird. Am Freitag verknüpfte er den Einsatz, der vom Parlament abgesegnet werden muss, noch damit, dass er eine Abstimmung darüber nicht riskieren würde, wenn Jeremy Corbyn, ein ausgewiesener Gegner von Luftangriffen gegen den IS ("kontraproduktiv"), zum Labourchef gewählt werden würde.
Aber Cameron kommt auch von den Fürsprechern eines auf Syrien erweiterten Luftwaffeneinsatzes unter Druck. Laut Informationen des russischen Mediums RT, das sich wiederum auf die Sunday Times beruft, kommen aus der britischen Regierung deutliche Zeichen, die auf ein Ja zu Luftangriffen auf Ziele in Syrien deuten.
Kernfrage: Wie sieht eine politische Lösung aus?
Tausende von stets "erfolgreichen" Luftangriffen auf IS-Ziele haben zwar teilweise bei wichtigen Etappenzielen (z.B. bei der Befreiung von Kobanê) eine wichtige Rolle gespielt. In der Summe haben sie aber wenig dagegen ausgerichtet, dass sich das Kalifat konsolidiert hat. So ist abzusehen, dass französische und britische Luftangriffe die Situation nicht unbedingt einfacher machen.
Politische und militärische Kernprobleme bleiben und damit auch die Situation, die zur Flucht aus Syrien führt. Wer stellt die Bodentruppen, die nötig sind, um die Luftangriffe in Terraingewinne zu übersetzen. Die al-Qaida-Filialen im Norden Syriens, al-Nusra und Ahrar al-Sham und damit verbündete Allianz, die einen islamischen syrischen Staat wollen?
Was ist mit der gegenwärtigen Regierung? Will man sie stützen oder unterminieren? An der Frage kommen die westlichen Staaten nicht vorbei, auch wenn man das offiziell verdrängt. Russland macht immer wieder auf die Zwickmühle aufmerksam (vgl. U.S. Warns Russia Over Military Support for Assad).
Im Augenblick sieht es so aus, als ob Frankreich und Großbritannien und die USA ausgerechnet mit direkten und indirekten militärischen Interventionen die Fehler ausbessern wollen, die der Westen mit seiner Einmischung im Nahen Osten begründet hat. Den "Fluch der bösen Tat", wie Peter Scholl-Latour die "heillose" Einmischung nannte, mit dem selben Mittel bereinigen, der das Schlamassel angerührt hat?
Um zu erklären, was unter "böser Tat" versteht, zählte der Kenner der Region jahrelang Fehler auf, die für mehrere Bücher reichten. Grob könnte man sie auf das Versagen zuspitzen, dass die westlichen Staaten kein politisches Konzept für ihre militärischen Einmischungen hatten, die über die Zerstörung von Staaten und bis dato bestehender Machtverhältnisse hinausgingen. Im Irak entwickelte sich daraus die Gründergruppe des IS, in Syrien ein ganzes Dschihad- und Salafisten-Rhizom.
Pläne, welche die Situation in Syrien so verändern, dass aus dem zerstörten Land auf lange Frist wieder eines wird, dem die Bevölkerung nicht entfliehen will, müssen die Regierung al-Assad politisch miteinbeziehen. Das müsste der gegenwärtige Erkenntnisstand sein, wenn es darum geht, effektiv gegen den IS vorzugehen.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch die Unterstützer al-Assads, Iran und Russland, unter anderen als den bisherigen Bedingungen offen sind für Reformen in der Regierung auch personeller Art. Auch an Assad und Teilen seiner Führung klebt viel Blut. Unwahrscheinlich, dass sie in der breiten Bevölkerung noch über viel Kredit verfügen. Das dürften auch Lawrow und Sarif in ihre Überlegungen zur Zukunft Syriens miteinziehen, wie auch, dass es in der Regierung Kräfte gibt, auf die man bauen könnte, um eine gewisse Stabilität zu gewährleisten.
Man darf gespannt sein, was sich in dieser Hinsicht in den diplomatischen Hinterzimmern tut. Wie immer geht es auch darum, wer sein Gesicht wahren kann. Forderungen nach einem baldigem Regime Change, welche die arabisch-westlichen "Freunde Syriens" zur Grundbedingung gemacht haben, fallen da als Option schon mal raus.